Stationen

Montag, 12. Oktober 2009

tiefen schärfe

ein langes Interview in "Die Welt", das mit folgenden Worten schließt:

Reich-Ranicki: ....Wir haben einen Abend erlebt bei Klaus Rainer Röhl in Hamburg, damals Ehemann von Ulrike Meinhof, seine Frau war dabei: Da hat Röhl eine Stunde lang über seine Erlebnisse in der HJ erzählt, und zwar mit ziemlich viel Nostalgie und Sentimentalität: Die Lagerfeuer und die Lieder, und wie sie so marschierten. Es war kein Schreckensbericht, sondern eher eine Erzählung nach dem Motto "Ach Gott, die Jugend, sie war doch so schön".
Die Welt: Das spricht dafür, dass Röhls Bericht ehrlich war.
Reich-Ranicki: Ja, natürlich war er ehrlich. Wir kamen auch nicht auf die Idee, ihm das zu verübeln. Niemandem kann man seine schönen Jugenderinnerungen an die HJ verübeln - aber die Erinnerungen von meiner Frau und mir aus dieser Zeit sind eben ganz andere, und der Kontrast hat uns, Sie werden das verstehen, gelegentlich geschmerzt.
Die Welt: Wer sprach sonst noch mit ihnen über die Nazi-Jahre?
Reich-Ranicki: Kaum jemand. Selbst Walter Jens, der lange Jahre mein engster Freund war, hat mir nur wenig von seiner Vergangenheit berichtet: Er hat mir gegenüber nie erwähnt, dass er in der HJ war und später dann offenbar in der NSDAP. Jens hat sich auch nicht dafür interessiert, was ich erlebt hatte. Wenn ich ihm erzählte, dass es Konzerte im Warschauer Getto gab, hätte er ja nachfragen können, wie das möglich war. Er tat es nicht.
Die Welt: Gab es andere, die von sich aus nach Ihren Erfahrungen fragten?
Reich-Ranicki: Die erste war Ulrike Meinhof. Das hat großen Eindruck auf mich gemacht. Sie war damals Journalistin und bat mich um ein Interview im Hamburger Café "Funk-Eck" gegenüber vom NDR. Sie brauchte nur 30 Minuten Gespräch für ihre Sendung, aber sie sprach fast eine Stunde mit mir. Ich erzählte ihr von den Zuständen im Getto, vom Hunger, von der Angst und davon, dass es Menschenfressereien im Getto gegeben hatte, dass eine Mutter versucht hatte, die Leiche ihres Kindes zu essen. Nach dieser Stunde hatte Ulrike Meinhof Tränen in den Augen. Sie war die Erste, die sich in diesem Land für meine Vergangenheit interessierte.




Das Interview in der Welt

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