Stationen

Sonntag, 3. Januar 2010

Spontaneität

Es gibt drei kulturelle Leistungen, bei denen die Spontaneität zwar eine große Rolle spielt, aber eine kleinere, als man gemeinhin denkt. Besonders bei der musikalischen Improvisation wird großer Wert darauf gelegt, dass alles hic et nunc entsteht. Aber selbst beim Freejazz, gerade beim Freejazz sieht man (nach 30 Jahren Routine), dass sich mit der Zeit eben doch eine Art Phrasenrepertoire einspielt. Das Schlimme daran ist, dass es nicht beabsichtigt ist und dadurch ganz besonders auffällt. Da ist mir bewusst vorbereitete Spontaneität, wie sie Johann Sebastian Bach zeigte, wenn er eine Fuge improvisierte, oder Andrei Volkonskys Improvisation im Stil von Frescobaldis Zeit dann doch lieber.
Dasselbe gilt für die frei gehaltene Rede. Es ist ein Unterschied, ob man, wenn auch farbig, einfallsreich und redegewandt, einfach so wie Berlusconi oder Obama drauf los plappert, oder wie Cicero Rhethorikunterricht nimmt und der Spontaneität aufs Pferd hilft.
Und beim Stegreifdichten ist Übung natürlich erst recht erforderlich. Es wäre interessant zu wissen, wie sich die Stars unter den Stegreifdichtern vorbereiten. Aber eines ist gewiss: wenn man diesem Hobby nachgeht, dichtet man ständig so vor sich hin, und im Gedächtnis sammeln sich Reime, wie sich bei einem Kind die Vokabeln sammeln, während es die Muttersprache lernt, und mit der Zeit ergibt sich wie von selbst ein Repertoire häufig vorkommender Reime, die dem Stegreifdichter zur Verfügung stehen, wenn er wie Cyrano de Bergerac eine Situation kommentieren möchte. Je jünger man damit anfängt, desto spielender stellt sich natürlich dieses Reimreservoir ein. Metastasio wurde als Kind auf der Straße durch seine Stegreifdichtungen entdeckt und verdankt dadurch zwei vornehmen Herrn seine Schulbildung. Dieses Dichten war also etwas Ähnliches, wie das, was in den Achtzigern des 20. Jahrhunderts der Rap wurde.

Merkwürdig ist, dass diese hohe Kunst so wenig Beachtung findet und offenbar gar keine Literatur darüber vorhanden ist. Es muss am oralen Charakter liegen. Um Stegreifdichter zu werden, braucht man nicht schreiben zu können. Vielleicht hat diese Tatsache dazu geführt, dass das Stegreifdichten ins Abseits geriet, zur Analphabethenkunst wurde und am Ende nur noch von den Marktschreiern beherrscht wurde, die sich nach dem Markt zusammentaten, um ein Glas Wein zu trinken und in gereimter Form das Tagesgeschehen zu kommentieren (von den inzwischen verstorbenen Stars unter den Marktdichtern gibt es immerhin ein paar aufnahmen auf CD). Dass es in der Toscana diese Tradition ("i bernescanti") überhaupt noch gibt, grenzt an ein Wunder. Die Form der Strophen ist der ottava rima, dem streng gebauten Achtzeiler der italienischen Renaissance-Epik nachgebildet, der aus sechs überkreuz reimenden Zeilen und einem abschließenden Verspaar mit neuem Reim besteht. Bei einem Dichterduell ("contrasto") muss der Gegner immer den Reim des Schlusspaars aufnehmen, um seine sechs überkreuz reimenden Zeilen zu artikulieren, usw.

Aber es gibt sie noch, die Stegreifdichtung... sie fließt unterirdisch weiter. Und jede Oper ist eigentlich ein Denkmal, das auf sie hinweist.
Im Leopard lässt Giuseppe Tomasi di Lampedusa seinen Protagonisten im Gespräch mit ein paar englischen Offizieren sagen, die Italiener (oder waren es die Sizilianer? ich weiß es nicht mehr genau) würden sich niemals ändern, weil sie sich für Götter halten. Und Götter brauchen nicht zu schreiben.

2 Kommentare:

  1. Interessantes Thema.
    Als leidenschaftlicher Improvisateur auf dem Klavier habe ich gelegentlich das Vergnügen, ein befreundetes Zwillingspaar zu begleiten. Beide sind in der Lage, sich nicht nur fetzige Reime zuzuschmeißen sondern das alles noch im Stil italienischer Opern zu singen. Das Publikum brüllt vor Vergnügen.

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  2. Fantastisch. Das ist wirklich mal eine gute Nachricht, die beste seit langem. Mehr davon, mehr, mehr, mehr.

    Zu dem interessanten Thema empfehle ich "Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes" von Walter J. Ong

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