Stationen

Sonntag, 28. Februar 2010

Das zugedeckte Pferd

Man brauchte Vati nur eine Frage zu Alt Küstrinchen zu stellen, und schon kamen farbige Erzählungen hervor, so zusammenhanglos sie auch sein mochten, denn er kam ständig vom Hundertsten ins Tausendste, weil er von seinen eigenen Gedankenassoziationen wie von einem Sturzbach fortgerissen wurde.

Das Gegenteil war der Fall, wenn man ihn auf den Krieg ansprach, den er hinter der Linie verbracht hatte. Da musste man ihm Fragen stellen, und es war gar nicht mal leicht, sie so zu stellen, dass er begriff, was überhaupt man gerne gewusst hätte, insofern er sich in einer Welt der Selbstverständlichkeiten jenseits aller Fragestellung und Infragestellung aufhielt. Anschauliche Angaben konnte man eigentlich nur mit der Pinzette aus ihm herausholen.
 Es gibt keine einzige wirklich farbige Erzählung zum Kriegsgeschehen aus seinem Mund. Die einzigen zwei Ausnahmen, die ein bisschen Pastell in seine grauen Andeutungen trug, sind seine Erzählung der allerletzten Kriegsmonate, als alles, was von Pferden befördert werden konnte, von Pferden befördert wurde, um Treibstoff zu sparen. Wie eine romantische Rückkehr in eine zeitlose Zeit, in der der Krieg noch das war, was er vor dem 20. Jahrhundert - mehr natürlich noch vor dem 19. - fast immer gewesen war: ein Geschehen am Rande, an den Grenzen, an einer Front, die zwar auch große Landstriche durchkämmen konnte, wie in Napoleons Kriegen, oder wie zum Beispiel dem 30-jährigen, aber kaum je ein Geschehen im gesamten Raum. Eine Zeit, in der Emil Spannocchis Ideen zur Raumverteidigung, die mich zur Zeit meiner Wehrdienstverweigerung beschäftigten, noch völlig unpassend und überflüssig waren.

Die andere Ausnahme betraf eine Geschichte, die er erzählte, als einmal Besuch aus Italien da war. Er habe seinen Vorgesetzten manchmal begleitet, wobei sie den verschneiten Apennin mehrmals überquert hätten. Das sei ein unbehagliches Gefühl gewesen, weil man in dem weißen Schnee so deutlich aus der Luft erkannt werden konnte. Bei dieser Erzählung kam auch sein damaliger Wunsch, an die Front zu kommen, zum Ausdruck, wodurch er seine Chancen, befördert zu werden, erheblich verbessert hätte. Aber er kam nie an die Front.
Er war damals in der Nähe von Terni. Terni liegt in Umbrien, sehr im Landinnern, fern von allem, in einer der wenigen italienischen Regionen, die keine Verbindung zum Meer haben; die Stahlfabriken der Kriegsindustrie befanden sich dort, aber dies erfuhr ich nicht von ihm, sondern erst viel später. Und er hatte dort einen "Fahrer". Was ein Fahrer sei, fragte ich ihn als Junge im Alter von etwa 12 Jahren, als er diese Geschichte erzählte. Es dauerte eine ganze Weile, bis unmissverständlich klar war, dass es sich um eine Art Kutscher handelte. Denn zuerst war ich durch mein Fragen, so ähnlich wie bei Robert Lembkes heiterem Beruferaten, bei "Chauffeur" angekommen. Aber da kam die Geschichte mit den Pferden und dem Treibstoff. Geweckt hatte mein Interesse ein Besuch bei diesem ehemaligen Fahrer während eines Ferienaufenthaltes in Schleswig Holstein.

Als ich ihn Jahre später einmal auf seinen Aufgabenbereich ansprach, um mir endlich einmal eine Vorstellung machen zu können, drückte er mir eine für Laien sehr wenig aufschlussreiche Beschreibung - eine Art Zusammenfassung der Dienstvorschriften - in die Hand, die der Bund ehemaliger Veterinäroffiziere herausgegeben hatte. Auch unschuldiges, unverfängliches, einfältiges Nachfragen stieß entweder auf wortkarge Unlust oder sogar auf Gereiztheit und blieb ohne Antwort.

Terni

Auf seinem Schreibtisch stand eine Tonplastik, die einen Soldaten zeigte, der fürsorglich ein liegendes, vielleicht sterbendes Pferd zudeckte, zu der er ebenfalls durch den Bund ehemaliger Veterinäroffiziere gekommen war. Entweder durch Kauf, oder als Geschenk für langjährige Mitgliedschaft.

Der Soldat, der hier dargestellt ist, ist eine Variante des Unbekannten Soldaten. Die Veterinäroffiziere sind die unbekannten Betrachter, für die diese Plastik geschaffen wurde. Sie identifizieren sich mit dem Soldaten in langem Wintermantel und Wehrmachthelm, mit seiner fürsorglichen Geste und mit dem leidenden Pferd, das in ihrem Leben die Rolle des schwachen, verwundeten Gedächtnisses spielt, das nicht mehr in der Lage ist aufzustehen, aufrecht zu gehen und - wie in Platons berühmtem Bild - dem Fuhrmann des tugendhaften Verstandes und der intellektuellen Redlichkeit zu gehorchen.

Smultronstallet-erdbeereck

2 Kommentare:

  1. Ich traf neulich unseren gemeinsamen Bekannten und ich fragte ihn: Warum kommentiert dieser Allwissende eigentlich nur, warum schreibt er nicht? Der Bekannte war sehr meiner Meinung. Und im heutigen Beitrag kann man ja schon einen Anfang erkennen.

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  2. Danke lieber cs! Grüßen Sie unseren gemeinsamen Freund ganz herzlich von mir.

    Und Danke lieber Michael Kunze für die heutige Eintragung in Notes & Quotes.

    http://michaelkunze.blogspot.com/2010/03/no-dreams-lost.html

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