Stationen

Donnerstag, 20. Mai 2010

Ansichten eines Seiltänzers

Religionen und Sprachen sind Behälter von Mentalitäten. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass diese Behälter sehr viel neutraler sind, als meist vermutet wird. Mit „neutral“ meine ich, dass der Zusammenhang zwischen Doktrin (bezüglich der Religion) und Mentalität, der natürlich ebenfalls vorhanden ist, in vielen Fällen nicht zur Wirkung kommt, nicht einmal direkt besteht oder schlicht irrelevant ist. Trotzdem ist gerade der Behälter Religion sehr undurchlässig und sein Inhalt (die Mentalität) sehr stabil. Obwohl die ursächliche Verkettung mürbe geworden ist, ja manchmal sogar weil kein eigentlicher Zusammenhang mit der Doktrin besteht, daher auch nie ein entsprechender Diskurs entsteht, oder entstehende Diskurse am Wesentlichen vorbeireden und somit der Behälter Religion schlicht als vertraute Umgebung stabilisierend wirkt und denjenigen, der in ihrer Tradition heranwuchs als Kosmos von Gedankenassoziationen umhüllt.

Dasselbe gilt für die Sprache. Es gibt einerseits - im Humboldtschen Sinne - Elemente der Mentalität, die in Eigenschaften der Sprache wurzeln, aber es gibt andererseits auch welche, die im Netz linguistischer Gewohnheiten, Assoziationen und Erfahrungsartikulationen willkürlich ranken und mit den Eigenschaften der Sprache ebenso wenig zu tun haben, wie mit einer vermeintlichen rassisch-biologischen Vorbestimmung, und die dennoch an der Sprache als Behälter, Umgebung und Gerüst haften wie die Krachlederne am Arsch des Bayern und, obwohl einzig und allein kulturell – mit familiärem Milieu, Schule und Medien als Vermittlern - vorherbestimmt, ebenso - oder fast ebenso - konstant bleiben wie biologisch genetische Faktoren. Besonders deutlich ist dies zu beobachten z.B. an Menschen, deren Eltern aus dem Mittelmeergebiet kommen und die fern von der Heimat der Eltern z.B in Australien, aufgewachsen sind. Wenn man ihnen unbemerkt zuhört, kann man beim Sprachwechsel einen Mentalitätswechsel feststellen, der an Schizofrenie grenzt. Bei großer Vertrautheit ist dies sogar dann zu sehen, wenn der Betreffende weiß, dass man beide Sprachen versteht und aufmerksam zuhört. 

(A propos Einblicke auf Grund von Vertrautheit! Siehe auch die Schlussfolgerung dieses Posts: Buildingpeace )

Shakespear sagte von Deutschland, es sei kein Land des entweder oder, sondern des sowohl als auch. Ein seltenes Beispiel treffender Charakterisierung Deutschlands. Seine Bemerkung entspricht Deutschlands geografischer Lage im Herzen Europas mit vielen angrenzenden Ländern. Monokultur ist genauso schädlich wie Multikulturalismus. Unter anderm haben wir das Glück, sowohl katholisch wie evangelisch zu sein. In Deutschland ähneln Katholiken und Lutheraner mittlerweile einander ziemlich. Um sich zu vergegenwärtigen, wie groß der Unterschied zwischen den beiden Gruppen eigentlich ist, ist es hilfreich an Italien und Schweden zu denken. Es handelt sich um Unterschiede im Alltag, die mehrheitlich zu beobachten sind, Bei herausragenden Würdenträgern eher nicht, da sie unter anderm gerade deshalb zu Amt und Würden gelangten, weil sie das allzu Anthropologische abstreiften.

Nichts an der katholischen Doktrin fordert Scheinheiligkeit oder laxe Elastizität. Dennoch stößt man selbst bei Atheisten mit katholischem Background bemerkenswert oft auf Bigotterie einerseits oder andererseits auf umstandslose Nonchalance beim Umgang mit menschlichen Lastern oder auch nur der eigenen Widersprüchlichkeit. Noch ausgeprägter ist bei Menschen mit katholischer Herkunft die Neigung, bei jedem Vorkommnis, sofort einen Schuldigen zu ermitteln, statt sich erst einmal zu fragen, ob nicht Zuständigkeitskonflikte und entsprechend allgemeine Teilnahmslosigeit das eigentliche Problem darstellen, und wie es kommen konnte, dass sich niemand verantwortlich fühlte.

Nichts an der lutherischen Doktrin fordert herzlose, grimmige Engstirnigkeit, pietistisch fromme Nüchternheit, oder gar die fortschreitende, dynamische Stringenz geistlicher Begrifflichkeit mancher Theologen oder die raunenden Appelle an die Verantwortlichkeit, die wie ein Echo des Gewissens aus metaphysischen Urgründen heraufzuhallen scheinen. Dennoch sind es Merkmale, die man an Lutheranern oder Menschen mit ehemals protestantischem Background beobachten kann. Lutheraner können ihren Gott nicht in der Kirche lassen, und schon gar nicht den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, und Widersprüchlichkeit wird wie andere menschliche Schwächen nicht so sehr als Grundbedingung der Existenz vorausgesetzt, sondern viel mehr als Zumutung angesehen. Andererseits entledigen sich dieselben Lutheraner, wenns drauf ankommt, ihrer Verantwortung mit einer Unbefangenheit, die nur das entspannende "sola fide" möglich macht. Man kann nur bewundernd oder entgeistert staunen vor d i e s e r Spielart der Nonchalance.

Katholiken klagen gern und klagen gern an, andererseits sind sie humorvoller und mehr geneigt, mal fünfe gerade sein zu lassen. Protestanten haben nicht so sehr die Unart, einen Sündenbock zu suchen, verstehen aber in moralischer Hinsicht dafür erst recht keinen Spaß. Und da sie für Wörter wie Sünde und Schuld viel zu fortschrittlich und aufgeklärt sind und immer nur in Kategorien von Verantwortlichkeit und Gewissenhaftigkeit denken, und nur vorsätzliche Missetaten als Versündigung ansehen wollen, haben sie meistens auch völlig aus den Augen verloren, dass man sich als Mensch eigentlich tagtäglich mehr nolens als wirklich volens mehr oder weniger schuldig macht. Katholiken und Juden sind sich dessen in sehr viel höherem Maße gewahr.


Egal wie und wer den Koran auslegt, die Unbefangenheit, mit der Mohammedaner im Falle eines Falles für die eigenen Überzeugungen wen auch immer über die Klinge springen lassen, werden – außer ein paar Mafiabossen und Lefevbrianern, wie Mel Gibson – Christen mit oder ohne ausdrücklich christlichem Selbstverständnis so schnell nicht besitzen. Nicht so sehr, weil es „satanische Suren“ gibt (auch Jesus hat sich an ein paar Stellen äußerst krass ausgedrückt), sondern weil es im Islam keine so ausgeprägte Tradition der Tötungshemmung gibt wie im Christentum. Wir haben ja jetzt noch Gewissensbisse wegen der Kreuzzüge! Man könnte meinen, wir hätten damals von Marrakesch bis Teheran die gesamte islamische Welt dazu gezwungen, sich von Sauerkraut und Schweinemilch zu ernähren und die Sahara durch Ora sed Labora in eine Sarottimohr-Rübenfarm zu verwandeln, während wir im Schatten von sich sanft wiegenden Palmen und Huris aufs Meer blickend an Datteln knabberten. Um es weniger burschikos auszudrücken: das Jahrhundertealte Schlechte Gewissen ist eine kulturelle Leistung des Christentums, das man andernorts - wo der Leitsatz "Liebet eure Feinde" keine identitätsbildende Bedeutung hat - nicht kennt, und es ergänzt als Tradition die von Thales ins Leben gerufene und von Galilei wiederentdeckte Selbstkritik durch ständiges Feedback, die ebenfalls traditionell kennzeichnend für den Westen ist. Der Einwand, dass KZ-Leiter in der Umgebung von Gulag und Shoah einen christlichen Background hatten, führt allerdings auf eine andere Ebene der Bereitwilligkeit und erfordert eine gesonderte Betrachtung. Aber an anderer Stelle.

Die unterschiedliche Unbefangenheit gegenüber dem Gegner und Feind ist nicht der einzige Unterschied. Ich hatte christliche und mohammedanische Afrikaner als Untermieter, Mitarbeiter und auch als Freunde. Der Unterschied ist auch bei geringem religiösem Selbstverständnis so groß, wie sonst nur die Charakterunterschiede, die wir zwischen Familien beobachten können und die wir geneigt sind, auf eine biologisch-genetische Ursache zurückzuführen.


(Nochmal Buildingpeace )

In den letzten 50 Jahren hat sich weniger in Kalabrien und vor allem Apulien geändert, als es den Anschein hat. Andererseits hat sich mehr geändert, als man in Nordeuropa auch nur ahnen kann. 1965 war Vergewaltigung, ebenso wie Mord an der Gattin, in Italien noch ein Kavaliersdelikt, genauer gesagt, nach damals in Italien gültigem Strafrecht, ein Delikt gegen die Sitte, aber nicht gegen das Individuum. Der Gattenmord hat seit damals meines Wissens abgenommen (zumindest, wenn er nicht mit Selbstmord einhergeht), die Vergewaltigungen haben, so weit ich weiß, zugenommen. Aber für beides lege ich meine Hand nicht ins Feuer; es wird viel so gesagt. Wann, bzw. bis wann, waren in Deutschland diese beiden Verbrechen Kavaliersdelikte?

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