Stationen

Freitag, 8. Oktober 2010

Orkan






Walter Benjamin hat nicht richtig hingesehen. Der Engel schaut nach schräg links, nichts deutet daraufhin, dass sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet sein könnte, sein milder Blick hat nicht im Mindesten etwas Starrendes. Weder seine Haare, noch sein Gewandt wecken den Eindruck, in ihnen könne sich ein aus dem Paradiese wehender Wind verfangen haben, gegen den es gälte sich zu stemmen. Es sind auch keine Flügel zu sehen, die dieser Wind aufblähen könnte. Mich erinnert das Antlitz dieses Engels ein bisschen an eine Schweizer Kuh und vielleicht an Zwingli. Seine Flügel sieht man nicht. Es sei denn, bei den, an den Papst gemahnenden, erhobenen Händen handele es sich eigentlich um Flügel. In der Tat ist, was den Menschen beflügelt, die außerordentliche Fertigkeit der menschlichen Hand. Seltsam ist, dass dieser merkwürdige dreizehige Ornithopter auf Hennentatzen zu stehen scheint, die wiederum statt Krallen federähnliche Formen zeigen. Man hat den Eindruck, die Extremitäten dieses Angelus Novus befänden sich noch im embrionalen Zustand eines Stammzellenagglomerats, das der Ausdifferenzierung harre.

Benjamin bezeichnete sich selbst als marxistischen Mystiker. Dass er vor allem das "sah", was er sehen wollte, trifft natürlich nicht nur auf ihn zu. Und auch dass seine gebannten Leser sahen, was der Autor ihnen zu sehen nahelegte, trifft ebenfalls nicht nur auf ihn zu. Wer ist schon souveräner Herr seiner eigenen Sinne?

Benjamin kommentierte einen der größten Erfolge in der Filmgeschichte, den Panzerkreutzer Potjemkin, mit den Worten, da schaue das Proletariat sich selbst ins Gesicht. Ich vermute, er transponierte da einen vernünftigen Gedanken Goethes auf eine Weise, die ich mich sträube, als mystizistisch zu qualifizieren. Goethe saß in der Arena von Verona und stellte sich vor, wie es sei, wenn eine Vorstellung im Gange ist und dachte, da schaut sich das Publikum ins eigene Gesicht (nachzulesen in "Die italienische Reise"). Über diesen A-spect der Publikumsbeteiligung am Spectandum sollten sich Leute wie Heiner Goebbels und Alexander Kluge Gedanken machen, die so gerne von der Rückerstattung des enteigneten Blickes sprechen. Spaß muss sein, und nach Verbundenheit und teilnehmendem Blick streben im Grunde alle.



http://persciun.blogspot.com/2010/03/one-of-you.html

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