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Mittwoch, 26. Januar 2011

Casanova



Dokumentation von La7 - auf italienisch

"Was sonst ist die Liebe, wenn nicht eine besondere Art kurios zu sein?" Giacomo Casanova

In italienischen Dokumentationen wird Casanova immer verherrlicht. Italien ist das Land von Casanova, Lorenzo da Ponte, Rigoletto und Berlusconi. Um einen Eindruck davon zu bekommen, muss man versuchen, sich vorzustellen, August der Starke sei der deutsche Volksheilige.

Interessant an Casanova ist, dass er bei seinen zahlreichen Liebesabenteuern nicht nur sehr viel Samen vergoss, sondern auch sehr viel Gefühl. Versuchen wir einen Augenblick lang aus unserer nordamerikanisch-nordeuropäischen Optik herauszutreten und Casanova nicht als Sexaholic abzustempeln, sondern als Specimen einer katholisch-mediterranen Kultur ernst zu nehmen, die mit den Osmanen und dem Emirat von Sizilien mehr Gemeinsamkeiten hat als mit Brandenburg oder Wittenberg..

Er war sehr oft und dabei tief verliebt. Aber selbst tiefe Verliebtheit kann sehr oberflächlich sein, wenn sie auf Grund der gesellschaftlichen Konventionen konsequenzlos bleiben darf. Immerhin war Casanova aus freien Stücken seinen Geliebtinnen (darf ich dieses Wort prägen in der Ära des Gendermainstreaming?) gegenüber immer sehr großzügig, egal ob er nur ein paar Stunden oder Tage in sie verliebt war oder Wochen und Monate lang oder (manchmal) Jahre. Er goss Samen, Gefühle und Geld aus.

Casanova hat viele Gemeinsamkeiten mit Lorenzo Da Ponte. Beide waren katholische Priester. Casanova war noch italienischer als Da Ponte (der schließlich Jude war). Bei der Uraufführung von Mozarts und Da Pontes Don Giovanni, saß Casanova im Prager Nationaltheater. Man munkelt, Da Ponte habe nicht nur eigene Erfahrungen im Libretto verarbeitet, sondern sich auch von Casanova helfen lassen.

3000 Seiten Memoiren! Hier eine Auswahl - lesenswert

Aber man sollte eine zeitgemäßere Auswahl lesen oder in der Gesamtausgabe schmökern.

Am interessantesten bei diesem Thema ist, wie sehr die Wirklichkeit sich wissenschaftlichem Zugriff entziehen kann. Die Experimentalpsychologie hat bewiesen, dass Frauen zwar zu einem One-Night-Stand zur Verfügung stehen können, aber nicht schon am ersten Abend. Ich habe aber selbst erlebt, wie diese wissenschaftliche Erkenntnis in der Praxis von Nachfolgern Casanovas widerlegt wurde. Ich kenne zwei ehemalige Fallschirmspringer, deren Hobby Sportflug ist. Die beiden machten irgendwann ein Restaurant auf, in welchem sie persönlich die Gäste bedienten und die Damen - sogar im Beisein ihrer Begleiter - hofierten. Ich habe die eine oder andere in Tränen der Rührung aufgehen sehen, weil ihr mit dem Kugelschreiber ein improvisiertes Gedicht neben den Teller auf die Stofftischdecke geschrieben wurde, und ich habe gesehen, wie die Damen, von soviel viriler Unbefangenheit überwältigt, die beiden Galans willig - zwischen Pasta und Hauptgang auf dem Weg zur Toilette abgefangen - für einen Quickie begleiteten, obwohl man sich gerade erst kennengelernt hatte. Und zwar nicht nur ab und zu, sondern als Sport, der jeden Abend ausgeübt wurde, wobei es darum ging, wer die meisten Quickies pro Abend erzielte. Es gibt in der ganzen Welt kein Institut für Sozialpsychologie oder Experimentalpsychologie, das diese Untersuchungsergebnisse zu Tage fördern könnte, und in Amerika schon gar nicht.

Selbst Reyhan Şahin wirkt neben dieser Art von Einblicken nicht nur daneben, sondern etwas blass.

Mir fällt ein, was mir mein (italienischer) Friseur einst sagte: der Journalist Indro Montanelli habe einmal gesagt, Kellner und Friseure seien früher nicht berechtigt gewesen, als Zeugen auszusagen, weil sie zu gut über die wahren Begebenheiten und Umstände im Hause ihrer Herrschaft Bescheid wussten. Übrigens wurden durch dieses Gesetz vor allem die Friseure und Hausdiener geschützt, um sie nicht in eine unhaltbare Konfliktlage zu bringen. Genau wie man heute als Verwandter oder Verschwägerter zur Verweigerung der Zeugenaussage befugt ist, galten früher in Italien auch Bedienstete als Familienmitglieder, denen die Aussagepflicht nicht zugemutet werden konnte.

Um sich andere Aspekte des Alltags von einst halbwegs zu vergegenwärtigen, die wir in unserem - von Experimentalpsychologen und anderen Daseinsexperten vermittels "allgemeingültiger Erkenntnisse" bis zur Unkenntlichkeit verzerrten - Weltbild kaum noch in der Lage sind, uns auch nur vorzustellen, empfehle ich wärmstens die Lektüre von Joachim Fests Buch "Im Gegenlicht".

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