Stationen

Freitag, 7. Januar 2011

Emser Pastille



"Auch Bismarck wurzelte mit der einen Hälfte seines Wesens im Vormärz, ja sogar mit gewissen Zügen im 18.Jahrhundert. In seiner Ära hatte ein Politiker nur die Wahl, liberal oder reaktionär, Demokrat oder Absolutist, positivistisch oder orthodox zu sein: Bismarck war nichts von alle dem, weil er alles zusammen war. Er war nämlich  ein Seigneur des Rokokos, und daher vertrugen sich in seiner Seele der Legitimist  und der Revolutionär, der Freigeist und der Pietist, der Citoyen und der Feudale auf eine Weise, wie es in seiner Zeit keinem anderen mehr möglich war. Doch war dies, wie gesagt, nur die eine Hälfte seines Wesens, die andere gehörte weder der Vergangenheit noch der Gegenwart, sondern der Zukunft an: in ihm lebte bereits der Gedanke einer demokratischen Diktatur und eines paneuropäischen Staatensysthems, der unser Jahrhundert beherrscht. Dass er als geheimnisvolle, schöpferische Janusgestalt an der Wegscheide zweier Zeitalter stand und dass sein ganzes Leben eine Art Kampf mit dem Teufel (auch mit dem eigenen) war, ist sein Gemeinsames mit Luther; die stärkste Verwandtschaft aber hatte er mit Friedrich dem Großen. Fast alle Züge, die wir an diesem hervorgehoben haben, finden sich bei ihm wieder. Zunächst jene paradoxe Mischung aus Realismus und Idealismus, aus anpassungskräftiger Elastizität und unerschütterlicher Prinzipientreue, die den Preußenkönig zu einem so fruchtbaren Staatsmann gemacht hat. Sodann das ebenso paradoxe Verhältnis, das beide zur Wahrheit hatten: scheinbar nämlich haben sie bisweilen gelogen (Bismarck übrigens höchst selten); aber dies war nur ihr Berufsjargon, im Innern waren sie die aufrichtigsten Menschen, die sich denken lassen. Man kann nämlich sein ganzes Leben lang äußerlich stets die Wahrheit gesprochen haben und dabei die Seele eines gottverdammten Heuchlers, Spiegelfechters und Falschmünzers besitzen; aber auch das Umgekehrte ist denkbar. Wer nur einige Kapitel der "Gedanken und Erinnerungen" gelesen hat und nicht spürt, dass hinter ihnen ein Elementargeist steht, dessen Grundpathos der leidenschaftliche Drang war, allen Menschen, Dingen und Ereignissen ihr wahres Gesicht abzulesen, aber auch ihnen ein wahres Gesicht zu zeigen, dass sich in ihnen eine kristallene Seele spiegelt, offen und klar und freilich auch unergründlich tief wie ein Bergsee: der hat überhaupt kein Organ für Wahrheit oder will absichtlich nicht sehen. Und hierin stand Bismarck noch höher als Friedrich der Große, wie er denn auch, was zweifellos damit zusammenhängt, der noch viel größere Schriftsteller war. Seine betont geistreiche, stets leicht ironische, in apart gefassten Epigrammen, funkelnd geschliffenen Antithesen und zitatreifen Apercus sich bewegende Betrachtungsart ist ganz dix-huitieme und hat, so paradox dies angesichts seines Vulgärbildes klingen mag, ebenso wie die Friedrichs des Großen etwas Französisches. Gänzlich unfranzösisch hingegen waren seine tiefe Religiosität, sein Gemüt und sein Humor, mit welch letzterer Eigenschaft es wiederum zusammenhängt, dass er von allen Personen, die je auf dieser Erde Macht besessen haben, einer der uneitelsten war. Wir konnten dies auch an Friedrich dem Großen konstatieren und müssen hinzufügen, dass Bismarck ebenfalls kein ernster Mensch war. Statt zahlloser Belege, die sich hierfür vorbringen ließen, sei ein einziger angeführt, der mehr beweist als alle Anekdoten, nämlich eine Stelle aus dem Tagebuch des späteren Kaisers Friedrich. Dieser, Bismarck, Roon und Moltke waren am 15. Juli 1870 dem König Wilhelm, der aus Ems nach Berlin kam, bis Brandenburg entgegengefahren. Unterwegs hielt Bismarck dem König einen zusammenfassenden Vortrag über die europäische Lage, und der Kronprinz fügt hinzu: "mit großer Klarheit und würdigem Ernst, frei von seinen sonst gewöhnlich beliebten Scherzen." Man denke sich in die Situation: zwischen Emser Depesche und allgemeiner Mobilmachung entwickelt der Kanzler des Norddeutschen Bundes dem König, dem Kronprinzen, dem Kriegsminister und dem Chef des Generalstabs die maßgebenden Gesichtspunkte, bleibt dabei vollkommen ernst, macht nicht einen einzigen Witz, und der Kronprinz notiert diese auffallende Tatsache in sein Tagebuch.

Wir könnten die Parallele noch bis in viele Details fortführen. Besonders bemerkenswert scheint mir, dass auch Bismarck, obgleich so oft das Gegenteil behauptet worden ist, kein Militarist war, indem er den Krieg ebenfalls nur als "Brechmittel" betrachtete, allerdings aber, wenn er ihn für unvermeidlich ansah, im günstigsten Zeitpunkt zu führen suchte, wodurch er scheinbar zum Angreifer wurde; und dass er auch kein Monarchist war. Er war nämlich Royalist, was durchaus nicht dasselbe ist: seine Anhänglichkeit an die Dynastie wurzelte in den feudalen Traditionen seines Hauses, und seine Stellung zu den Hohenzollern hatte immer etwas von unterirdischer Fronde. Am überraschendsten aber ist es, dass ihm mit Friedrich dem Großen sogar die "physiologische Minderwertigkeit" gemeinsam war. Er war durchaus nicht der steinerne Roland, als den das Volk sich ihn denkt, sondern der Typus des Dekadenten; vor allem darin ein geradezu klassisches Exemplar des Neurotikers, dass sich psychische Attacken bei ihm regelmäßig in physische umsetzten: zum Beispiel Ärger und Enttäuschung in Trigeminalschmerzen. Kein Malequilibre des Fin de siecle übertraf ihn an Reizbarkeit und Labilität des Nervensysthems. Ein "eiserner Kanzler" der Weinkrämpfe bekommt, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen kann, ist doch eine recht sonderbare Erscheinung, in ihrer Art ebenso sonderbar wie ein "deutscher Heldenkönig", der zwischen zwei Schlachten französische Alexandriner dichtet. Und schließlich haben die beiden auf dem Wege zum Tode und nach dem Tode ganz ähnliche Schicksale gehabt, indem sie sich in ihren letzten Lebensjahren bis zur Unwirklichkeit vergeistigten und von der Nachwelt bis zum heutigen Tage wild umstritten werden, bald wie Heilige verehrt, bald als Bösewichte, ja Verbrecher gebrandmarkt."

Egon Friedell in "Kulturgeschichte der Neuzeit", Seite 1234 (erschienen 1927 - 31)






"Politik ist die Kunst des Möglichen"

"Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen"


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