Stationen

Freitag, 18. Februar 2011

Grauenhaft



Auch eine Unsitte, die in Italien erfunden wurde, lange bevor Klaus Wagenbach anfing, italienische Sitten in Deutschland zu propagieren, und die sich in Italien bis heute gehalten hat und inzwischen in Deutschland angekommen ist. Es ist grotesk, aber dass Gymnasiasten ihre Schule besetzen, gilt in Italien als selbsverständliche demokratische Angelegenheit, genauso wie in amerikanischen Schulen die Präsidentenwahl geübt wird und Musicals eingeübt werden. Wenn man über diese Unsitte Bescheid weiß, wird vielleicht ein bisschen verständlicher, weshalb die USA Dario Fo einst die Einreiseerlaubnis mit der Begründung vorenthielten, er sei Kommunist. Es ist weder die eleganteste, noch die effizienteste Art, schlechte Lehrer und schädliche Meister zu bekämpfen, aber verständlich ist es.

Als ich noch ins Gymnasium ging, wurde gerade das Alter von Volljährigkeit und Wahlberechtigung auf 18 herabgesetzt. Ich fand schon das haarsträubend damals! Nicht etwa aus persönlichen Minderwertigkeitsgefühlen, nein, denn ich hielt ja nicht nur mich selbst für zu unreif, sondern andere meines Jahrgangs erst recht. Dabei war ich eigentlich "für mein Alter etwas zu alt", denn ich hatte damals ausschließlich Freunde, die ein Jahr älter als ich waren. Dass es Leute gibt, die mittlerweile die Wahlberechtigung auch den 16-jährigen geben wollen, finde ich grotesk.

In den italienischen Lehrerkollegien hat es immer mehrere Lehrkräfte gegeben, die ihre Schüler dazu erziehen (wobei auch jemand auf die Straße geschickt wird und Passanten um einen Beitrag für die Demonstrationskasse bittet), die Schule eventuell zu besetzen. In der Via San Gallo in Florenz gibt es ein musisches Gymnasium, das alle Nas lang "besetzt" ist: ein Bettlaken, auf dem groß "OKKUPATO" steht (mit "K", weil das hart und deutsch wirken soll), wird aus dem Fenster gehängt, und die Schule wird bis spät in die Nacht zum Treffpunkt.

Schulen, die diese Farce als demokratischen Unterricht ansehen, waren in den 80-ern noch sehr häufig in Italien. Es klang erst in den 90-ern langsam ab und nimmt in letzter Zeit wieder zu, weil Berlusconis Ministerin Gelmini Schule und Universität reformieren will, wobei Privatisierungen und private Stiftungen auch eine Rolle spielen sollen, was der Linken nicht passt. All diese Dinge wissen Kaus Wagenbach und Thomas Schmid sehr, sehr, sehr gut. Auch dass die Besetzerei nur eine widerliche, wichtigtuerische Farce ist und es immer war, wissen diese Leute ganz genau. Trotzdem wurde von Wagenbach zuerst Jahrzehnte lang das Märchen von der ach so reifen politischen Kultur Italiens erzählt, und seit Berlusconi auftauchte, wird nun gejammert und herbeigelogen, dass diese wundervolle politische Kultur der Mündigkeit, der Achtung und des aufrechten Gangs, die Italien Deutschland angeblich voraus hat, daran gehindert würde, sich weiterhin zu entfalten. Was als Verblendung anfing, wurde spätestens Anfang der 80-er Jahre zur Verlogenheit und ist heute endgültig bodenlose Verlogenheit.

Und sie wissen auch ganz genau, dass es sich da nur um eines von -zig anderen Beispielen für Quatsch handelt, von dem die Leute in Italien die Nase gestrichen voll haben, und dass es einzig und allein Berlusconi zu verdanken ist, wenn es hier weniger wurde mit den Hanswurstereien. Dass der Teufel dabei vom Beelzebu ausgetrieben wurde, ist bekannt. Wenn ein Auslandskorrepondent in Italien nicht schlüssig erklären kann, weshalb hier die Leute Berlusconi wählen, dann ist das trotzdem entweder gravierende Inkompetenz oder Niedertracht. Tertium non datur.

Ich habe 1977 erlebt, wie Theodor Berchem, der damals jüngste Universitätsrektor Deutschlands bei einer Universitätsbesetzung in Würzburg die Polizei rief, die die Studenten mit Hunden an der Leine aus dem Gebäude jagte, und ich habe 1988 erlebt, wie bei einer Universitätsbesetzung in Siena der kommunistische Rektor Luigi Berlinguer in die Aula Magna kam, um mit den Studenten zu diskutieren: "Mi è stato riferito che tra i studenti c'è un disagio".  Die italienische Situation war eindeutig ziviler. Bevor jetzt aber der Eindruck entsteht, Klaus Wagenbach habe also doch Recht gehabt mit seinen Lobpreisungen Italiens, schaue man sich noch ein paar Details an. Ganz Unrecht hatte er nicht, die Sitten sind in Deutschland zuweilen wirklich etwas zu rauh und kaltschnäuzig, aber...

In Würzburg ging es darum, Lothar Bossle daran zu hindern, Vorlesungen zu halten. Man widerlegte nicht seine Thesen, man setzte sich nicht dafür ein, Vorlesungen eines anderen Professors folgen zu können und die Examen bei einem anderen Professor ablegen zu können, sondern man wollte Bossle daran hindern, Vorlesungen zu halten; gleichzeitig empörte man sich aber über das damals gebräuchliche Berufsverbot. Dass es damals auch um dreiste Ermächtigungen von Franz Josef Strauss und dem Kultusminister gegenüber dem akademischen Senat gegangen sein soll, lese ich erst jetzt zum ersten Mal in Wikipedia. Sollte mir das tatsächlich entgangen sein damals? Damals sah ich vom Senat nichts, sondern nur Studenten, die sich zu Recht an Bossles Ansichten über Pinochet störten, in ihrer Auflehnung aber überreagierten und deutlich illiberale Züge annahmen, insofern sie nicht nur "Mit uns kannst du das nicht machen!" sagten, sondern ihm prinzipiell die Lehrfreiheit absprachen.

In Italien ging es nur darum, mehr Prüfungstermine zu bekommen, weil viele die Vorlesungen ohnehin nicht besuchten und von weit her anreisten, um eine Prüfung abzulegen. In Italien wollten die Studenten in einer bereits lumpigen Situation zusätzliche Flickereien, und Berlinguer war der richtige Mann dafür. Er ist haargenau der Schlag von Hochschulpolitiker, der auch noch in den 80-er Jahren von der Verstaatlichung des Gesundheitswesens schwärmte, es sei zweifelsfrei die richtige Gesundheitspolitik (obwohl es in Großbritannien Wartezeiten für Knochenbrüche und Tuberkulosekranke gab).

Andere Länder, andere Sitten? Im globalen Dorf schmilzt der Unterschied zur Zeitdifferenz: was mich vor 30 Jahren in Italien entsetzte, entsetzt mich heute in Deutschland um so mehr als ich es 1. für unmöglich hielt und es 2. auch noch schlimmer ist als in Italien damals. Denn die obigen Bilder sprechen von einer Leere, die beängstigend ist, und die in Deutschland nicht mehr von intakten Familien aufgefangen wird.

Dass ich jemals erleben müsste, dass in Deutschland Gymnasiasten das tun, was man in dem Video hier oben sieht, hätte ich nicht gedacht. Ich war ein paar Jahrzehnte lang stolz darauf, dass "wir nicht so sind und so einen Quatsch nicht mitmachen". Denkste. Damit ist es jetzt leider vorbei. In Deutschland erinnern mich seit der WM in Südafrika die Übertreibungen des Fußballkults unangenehm an Italien. All die Intellektuellen, die in ihren Blogs in die Fußstapfen von Gianni Brera treten und sich als Fußballideologen zum Hanswurst machen. Es nicht auszuhalten.

Jetzt sind es zusätzlich auch noch fanatische deutsche Gymnasiasten, die mich an die unangenehmsten Seiten Italiens erinnern. Es ist grauenhaft. Jetzt fehlt nur noch eine deutsche Mafia, oder faschistische Schlägertrupps, die den Politikern und der Polizei die Arbeit aus den Händen nehmen wollen. Für mich ist das Maß jetzt schon voll. Wir werden wieder ins andere Extrem schwappen über kurz oder lang, wenn es so weitergeht.

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