Stationen

Montag, 27. Juni 2011

Das Leben geht weiter - kommt Zeit, kommt Rad


Nach einem Jahrhundert des Experimentierens, während dessen die Formen immer abstrakter, nichtssagender und belangloser wurden, und das mit Jean-Michel Folons verträumten Gestaltungen ausklang, die einen über Fernando Boteros Ausgeburten hinwegtrösten konnten, taucht nun urplötzlich elementarer Symbolismus auf, wie eine langersehnte Blüte der Vereinfachung am Strauch der Abstraktion.

Dieses große Rad wurde von Dani Karavan geschaffen und steht in der Nähe von Prato, der Stadt, in der so viele Chinesen wohnen, dass sogar der "Spiegel" davon berichtete; im Industriegebiet nord-westlich von Florenz. Die Chinesen von heute denken nicht daran, das Rad des Lebens anzuhalten!

Nirgendwo anders auf der Welt hat man sich so sehr in zersetzende Abstraktionen und/oder bekennerhaftes Breittreten abstoßender Sachverhalte verrannt wie in Deutschland. Auch das ist der deutsche Michel. Der Beweggrund bei diesem Eifer war immer Hoffnung auf kathartische Läuterung, unerschütterlicher Realismus, Vertrauen auf die heilende Wirkung unnachgiebig sezierender Offenlegung, dokumentarische Aufrichtigkeit, ethische Standhaftigkeit. 

Übersehen wurde dabei die Belastbarkeitsgrenze menschlichen Empfindens. Der guten Absicht steht das schlechte Ergebnis gegenüber: die zeitgenössische deutsche Kunst ist nicht viel wert (dass es nichtsdestoweniger einen Markt dafür gibt, steht auf einem ganz anderen Blatt), die kathartische Wirkung ist verschwindend gering gegenüber der zersetzenden und entsetzenden.



Ein Buch wie Weiter leben von Ruth Klüger ist notwendig und fruchtbar. Auch ein Buch wie Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch wurde notwendigerweise geschrieben, und ich wüsste nicht, weshalb ich mir Sorgen darüber machen sollte, dass es auch gelesen wird.

Aber ein Buch wie Tiger, Tiger von Margaux Fragoso ist ambivalent: die fruchtbare Wirkung und die dem Leben abträgliche halten sich die Waage. Es ist natürlich die Wirklichkeit der Existenz selbst, die hier an uns herantritt. Aber ein Autor ist auch ein bisschen für die ungewollten, unbeabsichtigten und unerwünschten Folgen seines Werkes verantwortlich. Zumindest wird sie ein Autor mit Verantwortungsgefühl bedenken, und einen großen Autor zeichnet genau das aus. 

Jetzt höre ich schon den Chor der Wölfe, die mir vorwerfen, ich forderte zur Selbstzensur auf. Ja, genau dies tue ich, ich fordere auf zu Selbstdisziplin und Selbstzensur, und in dem Maße, in dem brauchbare Vorbilder heute fehlen, sogar zur Autodidaktik in der Ethik. 

Verdrängung ist nicht dasselbe wie Vermeidung. Nur wer gleichzeitig bezaubern kann, darf auch entzaubern. 
Es geht im Grunde darum, zu erkennen, dass die seit Jahrzehnten vorwiegende kollektive Selbstzensur (die zur hegelschen "Antithese" erstarrt ist) Ballast ist, und dass dieser Ballast abgeworfen werden muss, wenn man wieder Quote gewinnen möchte und zu einer umfassenderen, synoptischeren  (in Hegels Begrifflichkeit "synthetischeren") Sicht gelangen möchte, wie sie nur aus großer Höhe möglich ist, "super partes", da wo bei schönem Wetter die Schwalben und Lerchen fliegen, wo man sich früher Engel vorstellte und wo heute manchmal als Sinnbild distanzierter, neutraler, objektiver Betrachtung ein staunender Alien imaginiert wird, der uns aus seinem Raumschiff wie in Space-Night zuschaut.

Eine Oper wie Bluthaus von Georg Friedrich Haas und Klaus Händl kann nur Schlechtes bewirken. Sie ist das Symbol eines erbärmlichen Zustands: die fixe Idee, dass jedem grauenhaften Missstand ein künstlerisches Meisterwerk abgemolken werden könnte und sollte, um dadurch gebannt zu werden, hat etwas magisch-totemhaft Albernes und zutiefst Blödes. 

Man sollte den beiden Wichtigtuern antragen, eine Oper über neapolitanische Müllhalden zu schreiben. Das Schreckliche an diesem Gedanken ist, dass sie diesen Auftrag annehmen und voller Eifer erfüllen könnten. Gerade wird in Neapel, wo seit ein paar Jahren ein Theaterfestival stattfindet, Brechts Dreigroschenoper aufgeführt, wobei der wieder einmal herrschende Müllgestank, den die Festivalbesucher in der Nase haben, nicht das einzige ist, was die Gegenwart vergegenwärtigt. 
Es werden auch Stadtpläne verteilt (auf italienisch und deutsch; das deutsche Konsulat beteiligte sich an dem Projekt), in denen eingezeichnet ist, welche Geschäfte keine Schutzgelder an die Camorra zahlen. Wenn es denn stimmt (das Deutsche Konsulat machte sich zum Aushängeschild einer vielleicht begrüßenswerten Initiative, aber wer könnte garantieren, dass hinter diesem Deckmantel nicht doch Schutzgeldzahlungen erfolgen?). Die politisierende Inbezugsetzung von Realität und Spektakel ist mittlerweile so perfekt in Neapel, dass entpolitisierte Verschmelzung dabei herauskommt. Ein Wachsfigurenkabinett wäre lebendiger.


Es ist löblich, die eigenen Dämonen zu stellen. Aber man muss ihnen in die Augen sehen und die Stirn bieten, man darf sich nicht den Dämonen stellen und zu ihrer Geisel werden. Die Geschichte der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg liest sich besonders in Deutschland (und vor allem in der Musik, wo die Verirrung sogar eine Vielfalt der Fehlentwicklungen hervorbrachte) über weite Strecken wie eine verunglückte Kundalinierfahrung, die zu Verödung führte. Ihr Pendant ist die beispiellose Verflachung, die seit Jahrzehnten in der "leichten Muse" herrscht. 
Unsere größten Talente versäumten es, dieser "leichten" Muse zuzuhören und sie zu befeuern. Es gelang ihnen nicht, sich der hypnotischen Macht der grauen Muse zu entwinden.

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