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Samstag, 28. Januar 2012

Europäische Anthropologie

"In England ist alles erlaubt, außer dem, was verboten ist. In Deutschland ist alles verboten, außer dem, was erlaubt ist. In Italien ist alles erlaubt, auch das, was verboten ist." Piero Angela


Piero Angela ist ein Wissenschaftsjournalist aus Turin, also ein Piemonteser, wie Umberto Eco. Er lebt in Frankreich und arbeitet für das italienische staatliche Fernsehen. Er gehört zu den wenigen, die nie fürs Privatfernsehen gearbeitet haben und hat mittlerweile 20 Ehrendoktortitel.

Zu Piero Angelas humorvoller, kluger Beobachtung gibt es eine bemerkenswerte, paradox anmutende Entsprechung in der "Antipsychiatrie", die sich wie ein Negativ von Angelas Bild unter die Lupe nehmen lässt:

In Großbritannien experimentierte der Psychiater Ronald D. Laing sehr gescheit und konsequent, aber viel zu abstrakt, mit dem Relativismus und mit Sartres "dialektischer Vernunft". Ohne dabei größeren Schaden anzurichten und ohne wirklich große Fortschritte zu erzielen.

In Italien verwirklichte der pragmatische Franco Basaglia hingegen eine wichtige Reform.

In Deutschland, wo in den Medien generell sehr wenig, und kaum mal seriös, über Psychiatrie informiert wird, das Thema insgesamt eher gemieden wird (vor allem von Angelas Kollegen Lesch, Steffens und Yogeshwar) und der große Karl Jaspers immer noch nicht die ihm gebührende Beachtung findet, kam es zu den grauenhaft verbohrten Ideologisierungen des Sozialistischen Patientenkollektivs in Heidelberg, aus dem dann prompt auch Terroristen hervorgingen, die auch noch besonders engstirnig gewesen zu sein scheinen. Jedenfalls sahen die Suchbilder, die nach dem Überfall auf die Stockholmer Botschaft in den Postämtern hingen, danach aus; das weiß ich sogar heute noch.

What makes us ill

Zu diesen Unterschieden in der Psychiatrie gehören bemerkenswerte Unterschiede in der Normalität, die ein Witz veranschaulichen kann, der mir in Sizilien erzählt wurde.

Ein Verstorbener gelangt in die runde Vorhalle der Hölle, wo ringsum die Wand von Türen unterbrochen wird, die in die diversen Höllenabteilungen führen. Er klopft an die Tür der Englischen Hölle. Man öffnet ihm und fragt, was er wünsche.
Er erkundigt sich, was ihn in der englischen Hölle denn erwarte. "Peitschen, Steinigungen, siedendes Öl, Waterboarding..." ist die trockene Antwort.
Erschreckt wendet er sich ab, nein danke, die Tür schließt sich wieder. Nun klopft er an die Deutsche Hölle, man öffnet ihm, er erkundigt sich. Von ferne hört er gequältes Geschrei.
Die Antwort auf seine Frage ist jedoch genau dieselbe, wenngleich die Auskunft diesmal mit ostentativer Höflichkeit erfolgt. "Peitschen, Steinigungen, siedendes Öl, Waterboarding...".
Er zuckt zurück und beeilt sich wegzukommen.
Jetzt gelangt er vor den Eingang zur Italienischen Hölle und klopft an deren Tür.

Man öffnet ihm und fragt, was er denn wolle. Er wolle wissen, was ihn hier erwarte, sagt er. "Peitschen, Steinigungen, siedendes Öl, Waterboarding...", ist die mürrische Antwort.
In der Ferne hört er Gelächter und Musik. "Peitschen, Steinigungen, siedendes Öl, Waterboarding...???
Und warum grinsen Sie so, und was soll das blöde Gelächter???" "Ja wissen Sie, manchmal fehlen die Peitschen, manchmal sind nicht genug Steine da, mal ist das Öl knapp, mal das Wasser...".

Gemeinsam ist diesen drei Betrachtungen eine Relativierung des subjektiven Normalitätsbegriffs.

ERROR COMVNIS FACIT IVS

Man hilft sich angesichts der Willkür, die dem Normalitätsbegriff in gewissem Grade zugrunde zu liegen scheint, am besten aus der Patsche, indem man feststellt, dass:

1. - im Universum (das zu 75% aus Wasserstoff existiert und zu fast 25% aus Helium) das Leben eine Ausnahme darstellt und das Wahrscheinlichste - und somit das Normale - eigentlich der Tod ist
2. - im Bereich des Lebens das die Umgebung wahrnehmende, erfahrende, erinnernde und entscheidungsmächtige Leben gegenüber rein reaktivem Leben wiederum eine Ausnahme darstellt
3. - im Bereich des entscheidungsmächtigen Lebens das sich selbst bewusste Leben eine Ausnahme darstellt
4. - in der bewussten Lebensform Mensch das gesunde Leben eine weitere Ausnahmesituation darstellt
5. - in einem gesunden Menschenleben, der gesunde Menschenverstand (von dem Ralph Waldo Emerson sagte, er sei so selten wie Genie), die Klugheit und die Weisheit wiederum eine Ausnahme sind (obwohl moderne Psychologen in ihrer relativistischen Verblendung behaupten, es gebe weder gesunden Menschenverstand noch Klugheit, und deutsche Hirnforscher dem auch noch eine Krone durch die Behauptung, selbst freie Entscheidung und Schuld könne es nicht geben, aufsetzen).
6. - Klugheit und Weisheit ausnahmsweise auch mal einen Heiligen als unwahrscheinlichste aller Lebensformen hervorbringen können (ein guter Mensch ist nicht so sehr jemand, der nie anderen schadet, sondern mehr jemand, der sich des Schadens, den er verursacht, bewusst ist oder wird und daraufhin versucht, wieder gut zu machen, zu heilen)

Heil an Leib und Seele zu sein ist also nicht normal, sondern die ganz große Ausnahme.



Im Judentum ist „קדוש“ (hebräisch kaddosch, „heilig“) ein Wort, das vor allem die einfache Bedeutung von „besonders, außergewöhnlich“ oder „das Besondere, Außergewöhnliche“ hat und damit im Gegensatz zu profan (im Sinne von „weltlich, normal, alltäglich“) steht.
„Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin Ich, der Ewige, euer Gott.“
– (3 Mos 19,2 EU)


Holyness ist im Grunde nichts anderes als Wholeness, Heiligkeit ist eigentlich nur Ganzheit. Die "Vervollkommnung" ist also nur das Ergebnis eines ständigen Reparaturprozesses im Reich der Entropie. Und selbst dieses Ergebnis wird nie erreicht, so sehr wir auch danach streben. Es existiert im besten Fall als Idee und Leitmotiv, solange wir uns in der Vergänglichkeit aufhalten und noch nicht vergangen sind. Das eigentlich Menschliche ist die Unzulänglichkeit, und das Menschlichste ist vielleicht, sie anzuerkennen, anzunehmen und zu verzeihen und dennoch zu versuchen, ihrer Herr zu werden, wenigstens der eigenen. Nur der liebe Gott ist nicht geistig behindert.

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