Stationen

Sonntag, 27. Mai 2012

Moralapostel

"L'homme n'est ni ange ni bête et le malheur veut que qui veut faire l'ange fait la bête."

"Alle Ideale sind gefährlich: weil sie das Tatsächliche erniedrigen und brandmarken; alle sind Gifte, aber als zeitweilige Heilmittel unentbehrlich."



Leider gibt es kaum noch engagierte Moralapostel. In diese Bresche springt nun Günter Grass. Er ist sozusagen eine unfreiwillige Parodie von Engagement und moralischem Bewusstsein. Wie ramdösig wir in Deutschland mittlerweile sind, ist daran zu erkennen, dass im ganzen Land darüber debattiert wurde, ob Grass sagen durfte, was er sagte, oder nicht, statt ihn einfach zu widerlegen oder ihn dazu aufzufordern gefälligst zu erläutern, auf welche Weise es denn wohl zu seinem Schreckensszenario kommen sollte? Es ist nicht zu fassen, mir fällt wieder Leonardo Sciascia ein. Doch dazu später.

Dürrenmatt, Popper und Anna Politkovskaya sind nicht mehr unter uns. Die brillanten Juden sind seit dem Mauerfall stiller geworden, und seit 9/11 erst recht (Stéphane Hessel ist eine Ausnahme, die viel Anklang fand). So als sei auf einmal nur das, was nicht glänzt, echtes Gold. Claude Lévi-Strauss, der sein Leben lang die außerokzidentalen Kulturen in Schutz genommen hatte, machte schon 1986 eine radikale Kehrtwendung zum Schutz genau jenes Westens, den er zuvor immer so gerne kritisiert hatte. Aber 2 Jahre zuvor war Salmon Rushdie von Khomeini zum Tode verurteilt worden, und das führte bei Claude Levy-Strauss zu einem Umdenken. Ivan Illich ist gestorben, Peter L. Berger pensioniert. Der einst maoistische Scharlatan des Denkens, der Ende der 70-er durch Ideen berühmt wurde, die für Golo Mann lange vorher eine Selbstverständlichkeit waren, wurde mittlerweile Wahlhelfer Sarkozys. Die Orientierungslosigkeit und Ratlosigkeit hat zugenommen. Die Unwägbarkeit legt sich wie ein Schatten über die Häuser, die Vorhersagen hören sich kurzfristig an, es schmeckt alles so nach Aporie. Lohnt sich das? Lohnt es sich nicht? Für wen lohnt es sich?Für alle? Für niemand? Die Beantwortbarkeit dieser Fragen ist so vage geworden. Wer klug ist, schweigt meistens. Wer schweigt, ist nicht unbedingt klug. Aber so sehr die Menschen sich auch nach Orientierung und Vergewisserung sehnen, sie wollen auch ihre Ruhe haben und sind froh, dass die Klugen schweigen. Denn sie spüren, dass die auch mit ihrem Latein am Ende sind.

Richard David Precht macht seine Sache trotzdem gut. Ob mit ihm als Moderator wohl eine ergiebige und aufschlussreiche Diskussion zwischen Joschka Fischer und Wilhelm Hankel zu Stande kommen könnte? Ich würde es mir wünschen. Oder zwischen Joschka Fischer und Sarrazin. Oder zwischen Joschka Fischer und Friedrich Merz. Oder zwischen Joschka Fischer und Wolfgang Reitzle. Warum eigentlich immer Joschka Fischer? Weil er inzwischen der konsequenteste Propagandist von Angela Merkels Politik ist.

Götz Kubitschek zieht still und geduldig seine Furche und wird dank der Salafisten langsam auch hörbar. Lebt Naipaul noch? Ich hab schon lang nicht mehr von ihm gehört. In Italien fehlt jemand wie Leonardo Sciascia. Ein distanzierter Betrachter, der zu abgeklärt ist, um durch den Ballast gesinnungsbedingter Gruppenzugehörigkeit behindert zu sein. Umberto Eco, der früher so gut die Ambivalenz kommentierte (seine hervorragenden Beiträge zu Italien kennt man in Deutschland nicht; sie sind das Kostbarste, was es zum Verständnis der politischen Situation Italiens in den 80-ern gibt), wurde mit Berlusconis Auftauchen über Nacht selber zu einem Teil der Ambivalenz. Furio Colombo wurde zum brillanten, militanten, zielgerichteten Polemiker, der alles tat, was in seiner Macht stand, um Berlusconi zu delegitimieren, und ich muss sagen, Chapeau! Claudio Magris macht sich die Sache immer zu einfach und fuhr schon immer auf dem Schlitten der Zeit. Bachisio Bandinu lebt auf dem sardischen Kontinent. Gaspare Barbiellini-Amidei ist gestorben. Paolo Mieli, Massimo Cacciari und Leoluca Orlando sind noch da (die beiden letzten sind Philosoph und Architekt der eine, Jurist der andere, aber beide sind eigentlich viel bessere und begeistertere Germanisten als der flatterige, pedantische Magris mit seinem Querdenkernimbus). Last not least ist da das prächtige Enfant Terrible Piero Buscaroli (Cousin Cacciaris), der mehr ein unerbitterlicher Jeremias ist als ein Moralapostel und sogar gerichtlich dagegen vorgehen musste, als Nazi beschimpft zu werden. Seine politischen Kommentare sind ein fürchterliches, schneidendes Dokument maximaler Aufrichtigkeit, das nicht mal vor einem Zeitungsheiligen wie Montanelli halt macht (so als zöge Scholl-Latour auf einmal Joachim Fest mit Enthüllungen durch den Dreck). Wenn man nicht zum Zyniker werden will, liest man es besser nicht. Aber Buscarolis Bücher über Mozart, Bach und Beethoven sind im Moment vielleicht das Beste, was über die drei geschrieben wurde. Angeekelt von der italienischen Politik hat er seine ganze Liebe diesen Komponisten gewidmet. Diese Bücher wurden nicht ins Deutsche übersetzt. Wahrscheinlich möchte man mit jemandem, der so deutschfreundlich ist wie Buscaroli, nichts zu tun haben. Wenn Ratzinger der Rottweiler Gottes ist, ist Buscaroli wahrscheinlich der Gott der Rottweiler. Merkwürdigerweise war dieser kompromisslose Charakter dennoch Chefredakteur mehrerer Veröffentlichungen.

Ein Moralapostel, der seine Sache gut macht und sich nicht beirren lässt, ist Mario Vargas Llosa. In seinem neuesten Buch beanstandet er die Inflationierung des Begriffs "Kultur". Hier in Deutschland kann man den Eindruck haben, er übertreibe da wohl ein bisschen. Aber in Italien und den lateinamerikanischen Ländern - weniger in Spanien - ist diese Inflationierung wirklich schlimm. Und man muss eine bewundernswert unabhängige Urteilskraft besitzen, wenn man als gebürtiger Südamerikaner diesen Tatbestand so mühelos diagnostiziert, statt diesen Intellektuellenjargon mitzumachen. Für mich als außenstehenden, in Deutschland verwurzelten, ist es keine Kunst das zu sehen. Das Schwierige ist, es von innen heraus zu erkennen wie er. Ralph Waldo Emerson sagte, "Gesunder Menschenverstand ist so selten wie Genie."

Vor 34 Jahren sagte mir dieser kompetente Mann, der damals schon eine wahrhaft ciceroartige Karriere hinter sich hatte und zu den ersten westlichen Professoren gehörte, die in China Vorlesungen hielten, dass es nie ein vereinigtes Europa geben werde, weil die Unterschiede innerhalb Europas viel zu groß seien. Das leuchtete mir damals ein. Aber in den 90-ern sah es in meinen Augen tatsächlich so aus, als habe der gute Signor Morello sich geirrt, weil tatsächlich eine gemeinsame Entschlossenheit Gestalt anzunehmen schien. Die erste Enttäuschung, die mich wieder sehr skeptisch werden ließ, war eigentlich die Europäische Verfassung. Ein derartig undurchschaubares Machwerk kann nicht als Verfassung dienen.

Ich war monatelang hin- und hergerissen, glaube aber inwischen, dass Wilhelm Hankel in doppelter Hinsicht recht hat. In wirtschaftlicher Hinsicht und in gesetzlicher. Die legale Spitzfindigkeit, mit der vor einem Jahr Griechenland gerettet wurde, ist nach allem, was ich darüber erfahren konnte, haarsträubend. Leider ist es in der Politik oft unumgänglich, Gesetze überzustrapatzieren. Solange es mit dem Konsens aller und zum Wohle aller geschieht, muss der Politik dieses Primat wohl eingeräumt werden. Aber es muss dann auch zügig Bewegung auf dem Weg zur Besserung gesehen werden. Es wurde aber immer schlimmer. Ich bin deshalb zu meiner skeptischen Haltung zurückgekehrt. Am liebsten wäre mir eine Lösung, die auf halbem Weg zwischen Senator Hankels und Joschka Fischers Position liegt. Joschka Fischers Ansicht, "wenn wir zur Mark zurückkehren, können wir gleich zum bayrischen Taler zurückkehren" ist zwar falsch, aber sie ist nicht ganz falsch. Bayern könnte wahrscheinlich tatsächlich auch ohne den Rest Deutschlands bestehen, und der Taler hat dank der Fugger glaube ich auch einen guten Ruf, ähnlich wie der Florentinische Florin. Aber man soll die Portionen ja nicht kleiner machen als nötig, jetzt, wo Deutschland endlich wieder vereinigt ist, und das gilt auch für Europa: nicht zu groß, aber auch nicht zu klein. Fischers Osterweiterung war zu groß und auf jeden Fall verfrüht, und es war auch ein Fehler, Griechenland und Italien aufzunehmen. Es muss ein Europa mit zwei Geschwindigkeiten her: ein pangermanisches Kerneuropa, an dem auch Frankreich und Polen und alle anderen, die dazu in der Lage sind, teilnehmen können, und der Rest muss erst mal seine Hausaufgaben machen. Und international muss der Kapitalismus vor den Kapitalisten gerettet werden, sei es, indem man Senator Hankels Mahnung, Geld nicht durch Geld, sondern durch Arbeit zu generieren, ernst nimmt, sei es indem man die Empfehlungen von Rajan und Zingales befolgt.

Italien hat nichts gegen die Mafia ausrichten können und den Süden nicht integrieren können. Und wir glauben Italien und Griechenland mit Eurorettungsschirmen integrieren zu können? Und gleichzeitig auch noch die nötigen Mittel zu haben, um Polizeieinsätze gegen die Salafisten bezahlen zu können?

Leonardo Sciascia sagte einmal, man sollte es nicht glauben, aber es gebe tatsächlich hochintelligente Idioten in unserer Zeit, und er sehnte sich zurück nach den unverfälschten Idioten von einst. Dass Günter Grass hochintelligent ist, wage ich zu bezweifeln (er ist zweifellos literarisch hochbegabt, zumindest seine Novelle "Katz und Maus" ist ein Meisterwerk und die "Blechtrommel" auch, und irgendwann möchte ich unbedingt noch "Das Treffen in Telgte" lesen), aber ich musste an Leonardo Sciascias Wort denken, als ich Michael Naumann sagen hörte, die italienische Linke seien keine Kommunisten, sondern Sozialdemokraten. Ich hätte mich übergeben können. Italiens Problem war niemals Berlusconi, sondern besteht darin, dass es in Italien weder eine ausgereifte Kultur des Liberalismus gibt (Berlusconis Partei kommt der deutschen FDP noch am nächsten) noch eine gesunde Sozialdemokratie, die Berlusconi mit programmatischen Inhalten hätte in Schach halten können. Statt ihn zu dämonisieren und ihm gleichzeitig in Schein und Sein nachzueifern!! Wie es 12 Jahre lang geschah, bis alle ein paar marktwirtschaftliche Grundprinzipien herbeten konnten und auch der letzte Genosse endlich maßgeschneiderte Anzüge oder Pullover von Ermenegildo Zegna trug. Es gibt in dieser Linken, die nicht zerstrittener sein könnte, nur ein paar linke Ex-Christdemokraten und linke Ex-Sozialisten (die weniger linken Ex-Sozialisten traten in Berlusconis Partei ein, was Naumann auch einfach übergeht), viele Ex-, Post-, und Nochkommunisten, die aus der einstigen KPI hervorgingen und sage und schreibe zwei kommunistische Nachfolgeparteien (die beide das Wort "Kommunistisch" auch in ihrem Namen tragen), sowie noch weiter links außen die Disubbidienti, die den zivilen Ungehorsam ins Statut schrieben. Prodi war der Sklave der letzten drei Formationen. Wenn die den Stecker rauszogen, war er fertig. Das ist so, als könne Angela Merkel nur das machen, was Sarah Wagenknecht erlaubt. Prodi, der ehemalige Christdemokrat, war einer der ganz wenigen, die man in Italien als authentisch sozialdemokratische Politiker bezeichnen könnte. Dass der Journalist, der Naumann interviewte, nicht einmal auf die Idee kam, ihn - der ständig von Berlusconis Medienmacht und Interessenkonflikt faselte - zu fragen, weshalb diese italienischen "Sozialdemokraten", die mehrmals seit Berlusconis politischem Debüt regiert haben (zweimal Prodi, einmal D´Alema, einmal Amato) während ihrer Regierungen nie Gesetze schufen, die Berlusconis Medienmacht und Interessenkonflikt hätten verhindern können, sei nicht nur am Rande vermerkt.

Ivan Illich habe ich 1979 bei einem Abend im Istituto Stensen erlebt. Ein unvergesslicher Abend. Nach seinem Vortrag über "Die Entschulung der Gesellschaft" diskutierte er mit dem Publikum. Er ging dabei auf folgende Weise vor. Zuerst sammelte er Fragen aus dem Publikum, die jeder mündlich äußerte, immer etwa 8 Fragen. Dann antwortete er, indem er die 8 Antworten spontan zu einer druckreifen Rede verflocht, wobei er die jeweiligen Punkte, die sich auf die zuvor gestellten Fragen bezogen, dadurch unterstrich, dass er mit der Hand jeweils auf die Fragesteller wies, auf deren Frage sich das bezog, was er gerade äußerte. Wenn er auf diese Weise alle Fragen beantwortet hatte, begann ein neuer Zyklus. Ich habe seit damals nie wieder ein derartig beeindruckendes Beispiel genialer Klarheit, Aufmerksamkeit und Sachbezogenheit erlebt.

Moralpredigt

Glaubwürdigkeit

Der geschickteste Moralapostel ist im Moment unser Bundespräsident. Er besitzt etwas äußerst Seltenes: Sinn für Maß, großes Einfühlungsvermögen, feinste Wahrnehmung der richtigen Proportionen und die Fähigkeit, seine Einsichten angemessen zu artikulieren.

Gegenstrebige Fügung

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.