Stationen

Samstag, 16. Juni 2012

Bloomsday

Franz Mueller-Darß könnte der Schnittpunkt zwischen meinen Wünschen und Sehnsüchten, denen meiner Familie und dem Nazismus sein. Das Buch "Verklungen, Horn und Geläut" von Wolfgang Frank sollte ich eigentlich schon 1972 lesen, als ich 15 Jahre alt war. "Das sollst du auch lesen" sagte meine Mutter. Meine Eltern waren damals schon verhältnismäßig alt. Seit einem Abend im Keller in Syke bangte ich bei jeder größeren ihrer Fahrten um ihr Leben.

Ich empfand widerstreitende Gefühle beim Lesen der ersten Seiten. Einerseits spürte ich den Sog, den nur die Beschreibung einer verlorenen Welt auf uns ausüben kann, die man nie kennengelernt hat, aber nach der man sich trotzdem sehnt, weil man ihren Wert spürt und als etwas intim Eigenes empfindet und fühlt, dass sie zum Ureigensten dessen gehört, was man in seinem Innersten als eigentümlich, persönlich und für sich selbst typisch und kennzeichnend erachtet. Andererseits aber spürte ich an der spontanen, gedankenlosen Sprache des Autors, dass er unbekümmert die schöne Wahrheit mit dem schönen Schein vermengte und sich nicht bemühte, wie Ernst Jünger die Spreu vom Weizen getrennt zu halten und der Wahrheit den Vorrang einzuräumen, sondern einen Traum anbot, der den Verstand ausschalten sollte oder zumindest konnte (man soll ja nie etwas unterstellen).

Ich las das Buch damals nicht, weil ich noch zu jung war, um ein Urteil über Frank und Mueller - Darß einerseits und über Kafka andererseits fällen zu können, das allen dreien gerecht wird und darüberhinaus die Stelle und den Stellenwert aller dreier schlüssig definiert. Und ich habe dieses Buch bisher immer noch nicht gelesen, weil ich den Vorwurf der Pedanterie und der Kleinkariertheit nicht scheue, wenn es um so wichtige Dinge geht, und weil ich es genau wissen wollte und mich sehr lange im Zustand der Selbstvergewisserung befand. Über Frank und Mueller - Darß waren lange Zeit keine zuverlässigen Informationen zugänglich. Aber seit sie zugänglich sind, ist offenbar, wie richtig ich damals mit meinem argwöhnischen Zögern lag. Dieses Buch von 1959 ist ein Paradebeispiel für die romantisierende Beschönigung einer Zeit. Es ist ideologisches Gift, und dass mir die eigene Mutter nahe legte, das Buch zu lesen (das die Schwester überschwenglich pries), machte es nicht leichter, sich diesem Gift zu entziehen.

Damals oder etwas später, vielleicht ein Jahr später, war es, dass mir Kafkas Parabel "Heimkehr" zusammen mit einer Passage aus Kellers "Der grüne Heinrich" zur Interpretation vorgelegt wurde.

Gottfried Kellers Beschreibung einer Heimkehr schien mir realistisch und menschlich zu sein. Kafkas Parabel empfinde ich auch heute noch als unmenschlich und unrealistisch, als ungewöhnliche Ausnahmesituation pathologischer Zerrüttung. Schrecklich war damals, dass unsere Lehrerin darauf bestand, Kafka sei realistisch und sachlich, während Keller auf Grund gesellschaftlicher Konventionen damals die tatsächliche Wahrheit verschwieg. Ich spürte dabei zwar die ideologische Verbissenheit, die hinter der Behauptung einer unreifen, skrupellosen Pädagogin steckte, aber man ist im Alter von 16 Jahren zu jung, um dem etwas entgegensetzen zu können. Ich hob also, wie immer, wenn mich eine Lehrmeinung beunruhigte, die beiden Texte auf und behielt mir vor, die Frage zu untersuchen, sobald ich mich ihr gewachsen fühlte.

Beides, Kafkas "Heimkehr" und die Aufforderung meiner Mutter, Franks Heimatroman zu lesen, sind in meinem Leben einschneidende Momente, die mit einem Trauma in Verbindung stehen, das mit der systematischen Ermordung von Millionen von Menschen zu tun hat. Kafkas pathologische Verdüsterung und Franks pathologische Beschönigung hielten sich die Waage. Zwei Exzesse, die einander bedingten.

Kafkas Parabel habe ich seit damals mehrmals gelesen, den Roman von Frank habe ich aber immer noch nicht zuende gelesen. Jenes Trauma erlebte ich damals als sanftmütige, völlig undramatische Begebenheit, bei der die Unschuld meiner Eltern zunächst in der Rolle des einzig Glaubwürdigen und Gewissen in Erscheinung trat, und ihr Auftreten daher die Wirklichkeit von einem Moment auf den anderen in ein Theaterstück verwandelte, sodass alle anderen Beteiligten plötzlich zu fragwürdigen Akteuren wurden und der Autor dieses Theaterstückes ein verschlagener, niederträchtiger Lügner sein musste; wenn es so etwas wie Logik gab auf dieser Welt.

Mit der Zeit verloren meine Eltern und die Geschwister, die Krieg und Nachkriegszeit persönlich erlebt hatten, zusehends an Glaubwürdigkeit, während die Schule nie gänzlich glaubwürdig wurde.

http://persciun.blogspot.de/2010/03/errare-hvmanvm-est.html

Gottfried Kellers Text blieb in meinen Augen das Relikt einer gesunden Zeit, Kafka dagegen ein böses Zeitzeichen.

Nur wer in der Lage ist, gleichzeitig auch zu bezaubern, darf entzaubern.

Noch heute liebe ich an meinen Eltern besonders, dass sie - mit einer Ausnahme - nie mogelten. Aber ausgerechnet mir gegenüber mogelten sie nun einmal. Sie wollten mir eine Wahrheit nicht zumuten, die sie selbst nicht ertrugen und belogen mich. Es ist verständlich, dass man ein Kind manchmal aus Liebe belügt. Aber man kann ein umfassendes Trauma nicht mit Mogelei heilen, man kann es so nur vertiefen. Seit meinem 15. Lebensjahr verzeihe ich meinen Eltern täglich aufs neue die grauenhafte Verunsicherung, die sie mir damals zu Herzen legten.

Der eigentliche Text der Heimkehr und Heimatliebe wurde in meinen Augen aber Homers Odyssee.

Der Ulisses von James Joyce knüpft direkt daran an. Es ist ein im wahrsten Sinne des Wortes sagenhaftes Buch. Ein homerisch verträumtes, abenteuerliches, wahr-nehmendes, ehrfürchtiges, logisches, poetisches, irisches, ironisches, kat-holisches, keltisches, die Banalität verehrendes, spöttisches, humorvolles, genießerisches Buch. Ein Buch der Verwurzelung und Entwurzelung, das Joyce nicht hätte schreiben können ohne die Distanz von Triest, dieser Stadt, in der sich, ähnlich wie in Florenz, Norden und Süden, Osten und Westen begegnen. Buch der Verwurzelung in der Epoche der Entwurzelung, Buch der mikroskopischen Entschleunigung in der Epoche der Beschleunigung und des pluralistischen Crescendos. Buch der (Un)zugehörigkeit und Universalität, voller Unzulänglichkeit. Buch der Annäherung und des Ungefähren.


"A man's errors are his portals of discovery." James Joyce

"Ausdauer ist eine Tochter der Kraft, Hartnäckigkeit eine Tochter der Schwäche, nämlich - der Verstandesschwäche." Marie von Ebner-Eschenbach



Deutschlandfunk

http://persciun.blogspot.de/2012/03/armer-kerl.html

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