Stationen

Sonntag, 9. September 2012

Pacta iam non sunt servanda

Eigentlich ist das Maß jetzt voll, und es müsste eigentlich Merkels Ende angefangen haben, weil jetzt ein Umdenken beginnen müsste. Denn Draghis Bereitschaft zu kaufen, kann nur dann Wirkung auf die Märkte haben, wenn die Bereitschaft als solche glaubwürdig ist, auch wirklich Bereitschaft ist. In dem Maße, in dem sie an Bedingungen gebunden ist, ist diese Bereitschaft aber keine Bereitschaft und kann den erwünschten Effekt auf die Märkte und die Zinsen nicht bewirken. Das Gerüst der Bedingungen, an die der Anleihekauf angeblich geknüpft sein soll, besteht daher lediglich darin, den hilfsbedürftigen Staaten Beteuerungen abzuringen, die wie alle bisherigen Zusicherungen auf geduldiges Papier geschrieben werden. Es ist nur Showgeschäft, um dem Medienzirkus ein Programm zu sichern. In Wirklichkeit kann der positive Effekt auf die Märkte nur dann eintreten, wenn an der Willigkeit der BZE, unbegrenzt zu kaufen, keine Zweifel bestehen.

"Die stärkste Kraft im Universum ist der Zinseszins.", soll Albert Einstein gesagt haben. Das ist aber nur dann so, wenn die Gewissheit besteht, dass man sie einstreichen kann.

Die eigentliche Krise besteht in der ständigen Ambiguität der Protagonisten und vor allem im kontinuierlichen Rechtsbruch. Dass beides aus pragmatischer Trägheit zur Routine werden wird, darin besteht die Italienisierung Europas.

Hinzu kommen die Halluzinationen der deutschen Journalistenkaste, die jedes Mal in Trance fällt, wenn von Italien die Rede ist. Draghi sei "sehr angespannt" gewesen, als er in die Pressekonferenz ging, hieß es im ZDF. Das genaue Gegenteil war der Fall. Draghis Körpersprache sprühte nur so vor Entspannung. Wie jeder Italiener, der auch wirklich ein Italiener ist (der ordnungsliebende Monti gehört wie Padoa-Schioppa eher zu den ganz seltenen Ausnahmen), fühlt sich auch Draghi im Chaos wohl wie ein Fisch im Wasser. Je ungemütlicher es für uns deutsche Weidmänner wird, desto ausgelassener und entspannter werden die Italiener. Das Chaos ist ihr eigentliches Element. Hierauf beruht ihre Schwäche, wo Ordnung notwendig ist, aber auch ihre Überlegenheit, wo Ordnung nicht möglich ist. Nichts hassen Italiener mehr als Ordnung, und nichts lieben sie mehr als die Umgehung oder Abwandlung der Bestimmungen. Das ist so im Spiel, und erst recht in Wirtschaft und Politik. Wo Übersichtlichkeit gewährleistet ist, wird sie verschwinden, sobald ein paar Italiener die Hand mit im Spiel haben, denn der eingrenzende Überblick über die eigene Interessenlage und die indirekte Einflussnahme sind die Grundelemente des italienischen Korporationswesens. Schlimm ist, dass kein einziger deutscher Journalist in der Lage ist, diese Zusammenhänge auch nur zu sehen, die für die italienischen Journalisten zu selbstverständlich sind, um sie zu debattieren. Die paar Italiener, die in Deutschland interviewt werden, hängen diese Binsenweisheit natürlich erst recht nicht an die große Glocke. Täten sie es, wären sie keine Italiener, und es würde sie ohnehin niemand verstehen in Deutschland.

Berlusconi sagt der BILD-Zeitung, er ziehe einem deutscheren Europa ein europäischeres Deutschland vor. So denken in Italien alle. Genau das ist das Problem. Ich hätte lieber ein deutscheres Europa, und ein europäischeres Italien, statt einem italienisierten Europa. Lieber gar kein Europa als ein italienisiertes Europa. Franz Josef Strauss sagte einmal: "Die Italiener kommen mit Verhältnissen zurecht, in denen das deutsche Volk längst ausgestorben wäre."

Dass Italiener so gut wie nie in deutsche Talkshows eingeladen werden - ganz zu schweigen von hochintelligenten Politikern wie Rocco Buttiglione, der außerdem sehr viel besser deutsch spricht als Leoluca Orlando - sei nur am Rande vermerkt: die Stimme eines der meistkommentierten Länder hat man in Deutschland noch nie gehört, weil nur Themen, die sich für elegische Verklärungen eignen, das Interesse deutscher Moderatoren wecken. Oder die Mafia und die Camorra. Aber auch diese Themen möchte eigentlich niemand verstehen. Man möchte nur das Gefühl haben, trotz verklärender Italiensehnsucht besser als die Italiener zu sein. Man ist sich von vornherein sicher, dass es nie eine deutsche Mafia geben wird. Aber niemand könnte eigentlich plausibel begründen, weshalb er diese Möglichkeit ausschließt. Zumal systematische Betrugsdelikte in Deutschland viel verbreiteter sind als in Italien, wo der Verkauf von Wundermitteln der bequemere Weg ist.

Man weiß in Deutschland nichts über Italien. Man weiß jedoch auch  in Italien nichts über Deutschland. In Italien nahmen schon in den 80-er Jahren Experten aus Amerika über Satellit an italienischen Talkshows und politischen Diskussionen teil, aber aus Deutschland oder der Schweiz, wo so viele Italiener arbeiten, wird nie jemand in die Studios der RAI gebeten. Der Durchschnittsitaliener ist deshalb nicht der einzige, der in Italien nie vom "Nettozahler Deutschland" gehört hat. Auch gebildete Italiener sind darüber nicht im Bilde, denn das ist in den italienischen Medien nun einmal kein Thema. Nicht einmal in Il sole 24 ore habe ich je darüber eine Reportage gelesen. Bereits 1993 flossen 20000 DM/Minute nach Spanien, stand damals in der FAZ. Und schon damals schüttelte man darüber den Kopf, dass deutsche Steuergelder nicht die Entwicklung ankurbelten, sondern zur Begrünung des Autobahnmittelstreifens verwendet wurden. In Italien können die Kommunisten auch heute noch unwidersprochen im TV behaupten, Deutschland habe nie für den 2. WK gezahlt. Und auch diejenigen, die gewöhnlich besser informiert sind, glauben allen ernstes, Italien nehme mehr Flüchtlinge und Asylanten als Deutschland auf, während Deutschland alle abschiebe. Unverrückbare, vorgefasste Meinungen, wohin man blickt. Seit Jahrzehnten. Dass es keinen Sinn hätte, aus dem Nähkästchen zu plaudern, wissen Giovanni Di Lorenzo und Markus Lanz sehr gut. Beide haben ihre Wahl getroffen und arbeiten nicht fürs italienische Fernsehen. Klaus Davi hat sich für Italien entschieden, und kämpft dort manchmal ein bisschen gegen Windmühlenflügel. Lilli Gruber und Michelle Hunziker pendeln zwischen Deutschland und Italien hin und her. Aber ihr Profil ist stromlinienförmig. Statt zu vermitteln vervollkommnen sie die Mythenbildung, indem sie ihren Zuschauern genau das sagen, was diese hören möchten.

Ambiguität und ständiger Rechtsbruch sagte ich. Vor ein paar Jahren waren wir entsetzt darüber, wie George Bush sich über Regeln hinwegsetzte, um Krieg mit dem Irak zu führen. Jetzt stecken wir selber bis zum Hals in illegalem Pragmatismus. Anders gesagt: das Jahrzehnte lang bewährte Modell Italien gibt Europa nun seit Jahren die Richtung vor. Seit kurzem geschieht es mit erhöhter Unbefangenheit, wenn auch immer noch ein kleines bisschen verblümt.

Bedingung und Gesetz; und aller Wille
ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
dem harten Muss bequemt sich Will und Grille.

Erschreckend ist die Merkelhörigkeit. Das ganze Land ist wie in Traum verfallen. Die Frau hat wirklich ein Händchen. Jeder heranwogenden Bedrohung begegnet sie mit dem Gleichmut eines Korkens und einem entschiedenen "Jein". Und die Menschen in Deutschland vertrauen ihr: die Führerin wird schon wissen, was sie tut. Und wenn Draghi ihr ein Zeitfenster öffnet, für das nicht sie, sondern er verantwortlich ist, um so besser. Nur schade, dass Draghi nie für etwas gerade stehen müssen wird und nicht mal riskiert, eine Wahl zu verlieren, dass der Rechtsbruch zur Routine geworden ist, dass das italienischer Stil ist (wobei das, was wir in Deutschland als pathologische Entwicklung empfinden, für die Italiener "nur" eine anthropologische Konstante ist) und Merkel den Schlawiner Draghi, den wir im Moment gerne als ihren rechten oder linken Arm sehen, mit ins Amt gehieft hat und damals alle lobend über ihn sagten, er sei ein rigoroser Preuße. Wenn man auf der Stirn einen Zettel hat, auf dem "Verarscht mich!" drauf steht, wird man eben irgendwann verarscht.

Jetzt, wo Merkel in Spanien ist, ist es lehrreich, sich das spanische Fernsehen anzusehen. Nichts von dem in Italien zu beobachtenden Hass ist in Spanien zu sehen. In Spanien hat Angela Merkel prominente Bewunderer, und man schätzt sie im allgemeinen. In der italienischen öffentlichen Meinung schätzt sie eigentlich niemand, und selbst die deutschfreundlichsten Journalisten haben keine Zweifel, dass Joschka Fischer Recht hat und dass niemand so vom Euro profitiert wie Deutschland und dass Deutschland am längeren Hebel sitzt, egal was kommen wird, und dass Deutschland sich seines Despotismus schämen soll und zahlen, zahlen, zahlen. Die in Deutschland lebenden Italiener sehen das auch nicht anders, wenn sie den Brenner in Richtung Süden hinter sich haben und wieder mal zu einem Familientreffen reisen. Aber sie hüten sich, das im deutschen Alltag so zu sagen.

Die antideutsche Haltung Italiens hat nichts mit Berlusconis Medienmacht zu tun oder mit den sogenannten Geoklischees, die sich linke Soziologen an deutschen Universitäten ausgedacht haben. Italien ist in vielerlei Hinsicht de facto Deutschlands Antipode. Mit dem Unterschied, dass die Italiener sich dessen bewusst sind, nie an diesem Gegensatz zweifeln und Deutschland nie verklären.

Berlusconi

http://storyarchitekt.blogspot.de/2012/09/gut-erkannt.html







Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.