Stationen

Freitag, 11. Oktober 2013

Kontrast nimmt zu

"Vor einiger Zeit wurde in Frankreich Jean-Marie Le Pen mit 10 000 Euro bestraft, weil er polemisch bemerkte, dass es im Land demnächst 25 Millionen Muslime geben werde, an denen die Franzosen dann mit gesenktem Haupt vorbeigehen müssten.
Auch liberalere Geister könnten sich bei Gelegenheit der aktuellen Unruhen fragen, ob die erfolgreichen Abwehrkämpfe, die das christliche Europa einst gegen den Ansturm arabischer Mächte führte, von heute aus gesehen nicht umsonst gewesen sind. Der zur Mehrheit tendierende Anteil der muslimischen Bevölkerung von Amsterdam und anderen Metropolen braucht unsere Toleranz bald nicht mehr.
In welche Zukunft predigen wir die alten zivilen Werte? Sind wir mit Blindheit geschlagen, oder reden wir mit doppelter Zunge? Das Letztere wäre vielleicht nicht einmal Heuchelei, sondern Ausdruck einer aufrichtigen Verwirrung.
In der deutschen Geistesgeschichte gab es immer auch die östliche Sehnsucht, gab es zum Beispiel Nietzsche, der Karl Martell schmähte. Er habe mit seinen Feldzügen gegen die Araber im 8. Jahrhundert Europa um die Segnungen und Reichtümer der sarazenischen Kultur betrogen und unsere glückliche Islamisierung verhindert. Ob er in seinem tiefen antichristlichen Rigorismus dies Urteil auch angesichts der Terrorschläge von Dschihadisten und Salafisten aufrechterhalten hätte? Durchaus denkbar. Nichts bleibt unerbittlicher und eifernder als eine Anti-Passions-Passion.
Niemand von geradem Gewissen wird sich von der Köterspur des Rassismus samt seiner xenophoben Abarten reizen oder verführen lassen. Aber wenn sie den Sohn auf dem Fußballplatz ein "Christenschwein" rufen, junge deutsche Türken, dann zuckt man zusammen, selbst wenn man sich zuvor nicht als Christ gefühlt oder bekannt hätte. Ein Widerwille gegen jegliche Form von religiöser Verunglimpfung ergreift einen, mit allen banalen Ansprüchen der Revierdominanz oder sogar mit einem Anflug von Reconquista-Groll.
Sogleich folgt jedoch die zaghafte Nachfrage: Dominanz? In spätestens zwanzig Jahren wird der junge christliche Kicker auch in diesem Stadtteil zur kulturellen oder ethnischen (sagt man dann noch so?) Minderheit gehören. Man wüsste nur gern, ob sich die anderen in ihrer Mehrheit dann ebenso empfindlich bei der Abwägung zwischen Toleranz und Dominanz verhielten.
Integration, darunter versteht man bei uns vor allem Assimilierangebote. Am demokratischsten wäre der Verzicht auf Glaubensidentität und Sittenprägung. Für Ausbildung und berufliches Fortkommen empfiehlt sich die profane Gesinnung und Lebensform.
Folglich gehört der Junge, der gläubige Christ, das Kind, das Heimat kennt und Heimat fordert, so oder so zu einer verschwindenden Minderheit. Es wird ihm sein inneres Hab und Gut eher streitig gemacht von den Zwängen der Anpassung, der Vorteilssucht und des Karrieredenkens als von den Strenggläubigen des Propheten. Im Gegenteil, die Letzteren müssten ihn in seinem Glauben noch bestärken - er wird sich ihnen gerade in dem Maße entgegensetzen, wie sie ihm zum Vorbild dienen.
Sollten Regeln für das friedliche Miteinander in der Unvereinbarkeit festgelegt werden, so hätte als eine der ersten zu gelten, dass man Christen nicht als "Ungläubige" denunziert.
Um eine weitere Regel wird gegenwärtig gestritten: ob der Meinungsfreiheit eine Grenze zu setzen sei. Sie findet sie bereits beim Schutz der Person. Es ist nicht einzusehen, weshalb ein solcher Schutz nicht auch für die Sakralsphäre gewährt werden sollte, ohne dass damit demokratische Grundrechte aufs Spiel gesetzt würden.
Die religiös Indifferenten leben nicht mehr ganz unter sich in diesem Land. Der Verletzung sakraler Gefühle kommt daher eine andere Bedeutung zu als in der früheren Bundesrepublik. Sie sollte ebenso strafbar sein wie die Verletzung der Ehre.
Wie oft beschrieben, bezieht der Islam seine stärkste Wirkung aus seiner sozialen Integrationskraft. Seine diesseitigen Vorteile lässt man leicht außer acht, wenn man sich mit dem politisch-spirituellen Konflikt beschäftigt. Gleichwohl werden liberale Systeme mit ihrem Integrationsangebot, ihren Assimilierforderungen immer mit der innerislamischen Integration konkurrieren.
Mit anderen Worten, die angebliche Parallelgesellschaft ist eigentlich eine Vorbereitungsgesellschaft. Sie lehrt uns andere, die wir von Staat, Gesellschaft, Öffentlichkeit abhängiger sind als von der eigenen Familie, den Nicht-Zerfall, die Nicht-Gleich-Gültigkeit, die Regulierung der Worte, die Hierarchien der sozialen Verantwortung, den Zusammenhalt in Not und Bedrängnis. Selbstverständlich ist es für den aufgeklärten Westeuropäer der Born der Finsternis, der dies Leben in der Gemeinschaft unterhält und gut organisiert.
Als Experte für passagere Krisen fällt es ihm schwer, mit einem auf Dauer nicht lösbaren Konflikt zu leben. Mit seinem Sinn für das Vorübergehende muss er an ebendieser Dauer scheitern. Da nützt es ihm wenig, wenn er - zwischenzeitlich und vorübergehend - neue Quellen der Religiosität in seiner Welt entdeckt. Sie hören meistens nach dem Kirchentag schon wieder auf zu sprudeln. Andererseits gibt es eine Chance der Inspiration und der indirekten Beeinflussung, die von der unmittelbaren Nähe einer fremden und gegnerischen sakralen Potenz herrührt.
Sie sollte uns allerdings zu etwas mehr als zu Spott und Satire provozieren. In dieser Konkurrenz gilt es, unser eigenes Bestes aufzubieten, es neu zu bestimmen oder wiederzubeleben: das Differenziervermögen an oberster Stelle, das Schönheitsverlangen, geprägt von großer europäischer Kunst, Reflexion und Sensibilität - lauter Sinnes- und Geistesgaben, die in der westlichen Gesellschaft der Gegenwart von geringer Bedeutung, geringem Ansehen sind.
Wir sind ja nicht bloß eine säkulare, sondern weitgehend eine geistlose Gesellschaft. Schon das macht den "Dialog" nicht leichter. Für die Vorbereitungsgesellschaft wäre zwar auch unser Bestes heute nichts als Häresie, und doch - gäb's je ein globales Toledo, zumindest eine kurze Blütezeit westöstlicher Synergien, dann führte der Weg dorthin weniger über die Weltmärkte, technische Innovationen, Sitten und Moden, sondern wiederum über die Annäherung und den Disput zwischen den Schriftkulturen.
Der Konflikt ist nicht zu lösen, dafür aber fest umrissen und beendet die Periode der "neuen Unübersichtlichkeit". Mit der westlichen Einfühlung in einen unüberwindlichen Antagonismus, sakral/säkular, ist die herrschende Beliebigkeit, sind Synkretismus und Gleich-Gültigkeit in eine Krise geraten. Vielleicht darf man sogar sagen: Wir haben sie hinter uns. Es war eine schwache Zeit!"

Botho Strauß



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