Stationen

Sonntag, 6. Oktober 2013

Marcel Reich-Ranicki

Unangenehm war mir an Reich-Ranicki immer das vage Gefühl, dass etwas nicht stimme an diesem Menschen und seinem Wirken und seiner Einstellung. Als ich jung war, maß ich Gefühlslagen wie diesen keine Bedeutung bei. Aber seit die einstige SS-Mitgliedschaft von Günter Grass bekannt wurde, vertraue ich meiner Intuition. Denn auch bei ihm hatte ich zuvor dieselben Gefühle der Unangemessenheit und Inkongruenz empfunden. Grass ist mir übrigens seit dem nicht unsympathisch geworden. Im Gegenteil, unsympathisch war er mir zuvor; die Autentizität macht ihn sympathischer, finde ich. Aber mir ist auch Jaruzelski ganz sympathisch, seit ich ihn einmal von Enzo Biagi interviewt erlebte.

Gefallen hat mir an Reich-Ranicki sein unbefangener Freimut. Schade, dass er nie einen ebenso freimütigen, ebenso unbefangenen und ebenso kompetenten Gesprächspartner hatte. Seine Kompetenz wurde durch den "unverstellten Blick" begünstigt, der das Resultat seiner emotionalen Teilnahmslosigkeit war, die in Nichtzugehörigkeit wurzelte. Denn er war heimatlos wie ein Doppelagent und daher in Allem etwas halbherzig: halb Pole, halb deutsch, halb Jude... Selbst die deutsche Literatur war nicht seine Heimat (und schon gar nicht sein Vaterland). Er hatte sich in ihr eingerichtet und war in ihr zu Hause. Er liebte sie, wie nur ein erleuchteter Chemiker das Periodensystem der Elemente lieben kann. Die Teilnahmslosigkeit übersah man leicht hinter der emphatischen Geschäftigkeit und Heftigkeit seiner Begeisterung oder Entgeisterung. Wahre Kosmopoliten dagegen sind nie heimatlos, weil - wie Bartok sagte - "wer international sein möchte, erst einmal national sein muss". Sympathisch an Reich-Ranicki war das von Thomas Gottschalk ausgehende Licht, das auch seine Gesichtszüge in Gottschalks Nähe widerleuchten ließ, obwohl sie auch dann noch an eine Krrrröööte erinnerten.

Eine alte Preußin, die Jahrzehnte lang seine Kollegin bei der FAZ war und ihn oft bei sich zu Hause bewirtet hat, sagte mir über ihn "er ist schrecklich primitiv, aber dann tat er mir auch immer wieder leid, wenn er über den Antisemitismus in Deutschland jammerte".

Thomas Gottschalk

Siegfried Lenz

Götz Kubitschek




Fragen, die ihm die ARD Journalisten nie stellten



Ulrike Meinhof und Walter Jens

Das Interview, in dem Ulrike Meinhof sich so einfühlsam für Reich-Ranickis Vergangenheit interessierte, führte sie im Auftrag der DDR. Sie sollte erkunden, ob man Reich-Ranicki etwas unter die Nase reiben könnte, wodurch der BRD geschadet werden konnte. Im Interview, das Reich-Ranicki der Zeitung "Die Welt" gab, bleibt das jedoch unerwähnt. Es wurde erst bekannt, als Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl recherchiert hatte.




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