Stationen

Mittwoch, 22. Januar 2014

2014 - Weltmeisterschaft

Ich habe 1977 zum ersten Mal davon erfahren, dass in Auschwitz zum Zweck medizinischer Versuche Menschen gequält wurden, bei denen besonders Zwillinge zu Versuchsobjekten gemacht wurden, um die Wirkung von Schmerzen und Erfrierungen zu erforschen. Man schreckte auch nicht davor zurück, Zwillinge aneinander zu nähen und künstlich zu "siamesischen" zu machen.
 Ich war entsetzt, dass dies in 9 Jahren Gymnasium nie auch nur ein einziges Mal erwähnt worden war. Ich las davon in der Zeitschrift "Konkret". Ich hatte diese Zeitung abonniert, um mir ein Bild von deren Berichterstattung zu machen.

Ich wunderte mich, dass diese Monatszeitschrift der Alltagspolitik so wenig Beachtung schenkte und sich dafür lieber bemühte, Milton Friedman lächerlich zu machen, der gerade den Nobelpreis für Wirtschaft bekommen hatte (er war damals Berater der israelischen und der chilenischen Regierung, und die Inflationsrate beider Staaten war schwindelerregend hoch) oder Verhandlungen in deutschen Gerichten von Peggy Parnass unter die Lupe nehmen ließ und in diesem Zusammenhang alte Artikel von Ulrike Meinhof von neuem veröffentlichte (über die Sozialisation von Jürgen Bartsch und die Sozialisation des urteilenden Richters: eine Gegenüberstellung unter dem Zeichen der Milieutheorie), und Rudi Dutschke von den freimütigen Diskussionen in Italien schwärmen ließ (der war, nachdem er in Deutschland fast erschossen worden war, von Giangiacomo Feltrinelli und Hans Werner Henze gastfreundlich aufgenommen worden, um sich von seiner Verletzung zu erholen. Er musste wegen des Kopfschusses mühselig erst wieder Gedächtnis und Sprache durch eine Therapie zurückgewinnen).


Es waren interessante und wichtige Artikel, aber es kam mir immer so vor, als ziehe man wichtige Randerscheinungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so als seien sie das einzig Wesentliche, und man verlöre dabei das Weltgeschehen, das meiner Ansicht nach eben viel mehr Gewicht hatte, völlig aus den Augen.

Genauer gesagt bestand damals eine schwindelerregende Kluft zwischen unseren Leitmedien einerseits und fokalisierenden Zeitschriften (private Radiosender gab es ja noch nicht, und das Internet erst recht nicht) wie "Konkret" andererseits.

Die BILD-Zeitung war damals - warum eigentlich? das war doch gar nicht in Springers Sinn? - offen faschistisch, in einem Ausmaß, das sie - auf Grund der höheren Auflage sogar noch mehr als die "National-Zeitung", die Vati abonniert hatte - de facto für das Attentat an Dutschke verantwortlich werden ließ, beinahe zum Auftraggeber machte; ähnlich wie in Italien, mit umgekehrtem politischem Vorzeichen, "Lotta Continua" dem Mob die Weisung erteilt hatte, den Kommissar Calabresi zu ermorden.


Aber der Artikel über die Menschenversuche überzeugte mich davon, dass diese Zeitschrift eben doch wichtig und sogar notwendig war (und nicht nur als plumpes Gegengewicht zur plumpen BILD-Zeitung). Denn keine andere Zeitschrift hatte je dieses Thema auch nur gestreift. "Bunte" und "Hör zu" sowieso nicht, aber auch nicht der "Stern" und der "Spiegel" (oder nur vor meiner Zeit und ohne bleibende "Engramme" zu gravieren. Außerdem erfuhr man damals durch Radio, TV und gedruckte Medien weder, dass der gute Heinemann Rudi Dutschkes Umzug nach Cambridge aus eigener Tasche finanziert hatte, noch dass er einen Briefwechsel mit Ulrike Meinhof hatte, noch dass er sich in Italien für die Freilassung Kapplers stark machte (oder nur in Randnotizen). So gesehen sind die Informationsmöglichkeiten heute im Vergleich mit 1977 geradezu paradiesisch.
Es gab auch ein Buch über die Menschenversuche in Auschwitz, das damals in "Konkret" annonciert wurde, aber nirgendwo in den Schaufenstern lag. Diskrepanzen dieser Art übersieht jemand, der Herr seiner Sinne ist, nicht.

Und ich war 1977 Herr meiner Sinne. Gerade deshalb war ich eigentlich reif für den Psychiater: zu gesund für meine Umgebung.

Ich fing damals an, darauf zu warten, dass über diese Geschehnisse wie selbstverständlich berichtet würde. Aber die Berichterstattung wurde nie selbstverständlich.
Erst gestern Abend sah ich endlich zum ersten Mal (in arte) einen sehr anschaulichen Dokumentarfilm über diese unsäglichen Verbrechen. Ich empfand es als unerträglich spät, als Entaktualisierung, als Entverantwortlichung, als gelungene Vertagung zum Zweck historisierender Entkeimung und Entrückung.

Ein bisschen Verdrängung ist menschlich, haargenau, wie das sprichwörtliche Irren. Aber maßlose Verdrängung ist wiederum unmenschlich und über jede Verirrung hinaus im wahrsten Sinne des Wortes irrsinnig. Nimis removere humanum non est. Und mein Bruder, der sich soviel auf seine Schweigsamkeit zu gute hält, hat die Stirn, mich als "Weltmeister der Verdrängung" abzustempeln. Wie ein Tierarzt die hängenden Schweinehälften bei der Fleischbeschau..
Ausgerechnet mich, der ich nur deshalb das Licht der Welt erblickte, weil es für die abtreibende Drängung zu spät war, woraufhin ich später in die Ferne gedrängt wurde. Ausgerechnet mich, der ich mir meiner Missetaten in jeder Sekunde meines Lebens bewusst war und, im Gegensatz zu ihm, nie so getan habe, als könne ich kein Wässerchen trüben. Und sogar heute noch zu meinen Missetaten stehe, so als seien sie nicht nur eine Maßnahme des eigenen Überlebens gewesen, sondern eine Pflicht gegenüber meinem Gewissen, die mir nur ein Vater im Himmel anrechnen oder verzeihen könnte.

Ich kann nicht verdrängen. Wenn ich jemandem weh tu oder unrecht tue, dann immer im vollen Bewusstsein dessen, was ich jemandem antue. Ich glaube sogar, dass die wichtigste Konsequenz von Sigmund Freuds Erkenntnis ist, dass man für seine unbewussten Handlungen die Verantwortung übernehmen muss, und sich auch das bewusst machen muss, was man unbewusst angerichtet hat, und weshalb man etwas unbewusst tat.

Woran erkennt man die Niedertracht eines Kryptonazis? Daran, dass er mit unerschütterlicher Selbstverständlichkeit Ursache und Wirkung vertauscht, um die Nachkommen auf Kurs zu bringen und zu halten und das Vorher mit dem Nachher rechtfertigt, so als fließe die Zeit ihm zu Liebe rückwärts. Dieses Merkmal ist zwar nicht zu 100% untrüglich, aber fast. Aber fast.


Übrigens gleicht Bettina Röhls veranschaulichender Stil demjenigen Ulrike Meinhofs wie ein Ei dem anderen. Nur das politische Vorzeichen ist anders. Ists die Genetik, die hier zum Zuge kommt? Ist es ein Dominoeffekt? Wenn wir ehrlich sind, geben wir zu, dass wir es nicht wissen. Aber auch, dass wir die biogenetische Hypothese für plausibler halten. Ich habe aber solche frappierenden Dejavues auch als Dominoprägung beobachtet. Die Frage wird unter seriösen Wissenschaftlern noch lange offen bleiben.

Der Frauenarzt, von dem sich die Frauen im Umkreis meiner Verwandtschaft und Bekanntschaft behandeln ließen, war ein Sohn von Eduard Wirths. Aber das erfuhr ich erst sehr spät und auch nur, weil der Mann einer meiner Nichten auf diese Dinge achtete und mir mitteilte, als ich einmal meine Verwunderung äußerte, wie wenig die ehemaligen Täter auch nach dem Krieg mit ihrem Gewissen in Konflikt geraten seien (Wirths hatte sich anscheinend in einem Moment der Erleuchtung - wie sie eher nie als selten vorkommen - selber ermordet; vielleicht war dabei die einzige Einsicht, dass sein Konto gelöscht werden sollte). Sonst hätte ich es nie erfahren. Alles, was nur entfernt mit den Verbrechen der Nazis zu tun hatte, wurde von meinen nächsten Verwandten gnadenlos weggeschwiegen, und besonders in meinem Beisein wurde penibel darauf geachtet, jede Erwähnung zu meiden. Wörter wie Scheiße, Fotze und Auschwitz gab es nicht im Vokabular einer anständigen Familie, wie wir sie waren, und über Juden wurde nur gesprochen, um sie zu schmähen. Es war tatsächlich so einfach, so weltfremd und primitiv. Hannah Arendt nennt es "Die Banalität des Bösen". Mittlerweile ist Deutschland - im Guten wie im Schlechten - ins andere Extrem gefallen. Jeder Affe rühmt sich, er habe Ecken und Kanten, man verwechselt Gemecker mit kritischem Bewusstsein und Rüpelei mit Selbstbewusstsein und Leistreterei mit Korrektheit. Am anständigsten sind aber leider immer noch die Zaghaften. Draufgängertum und Anstand finden in Deutschland immer noch kaum je einmal zueinander. Dass beides zusammengehört, ist - ihr könnt es mir glauben - in Italien eine Selbstverständlichkeit, bei allen Widersprüchlichkeiten, die dieses Land auszeichnet. Wie auch Disziplin in Italien immer die Selbstdisziplin eines Einzelnen ist, während die Disziplinierung von Gruppen und Truppen in Italien ein hoffnungsloses Unterfangen ist. Es ist eines der Symptome, an denen wir erkennen können, dass es in Italien immer noch recht viele intakte Familien gibt. Dafür gibt es in Italien keinen intakten Staat. Bei uns ist es genau umgekehrt. Wie schrieb Joachim Fest in "Im Gegenlicht"? Unter dem Strich ist Italien letztlich menschlicher.

Das Beste, was meine intelligente Mutter einmal nach der dritten Tasse Kaffee beim Frühstücken und Zeitunglesen sagte, war: "Manchmal hat man den Eindruck, jemand rühre die Welt mit so nem Löffel ab und zu um." Dieses Bild ist nicht schlecht. Es passt zu den Spiralnebeln der Galaxien und ist auch das einzige, durch das der alberne Begriff "Revolution" auf eine angemessene Weise anschaulich wird.


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