Stationen

Montag, 13. Januar 2014

Sharon

Zu klein waren (und sind) die meisten, um die historische Größe Ariel Scharons zu erkennen oder gar zu benennen. Was ist historische Größe? Für Historiker anderes als für jedermann, der heute dies und morgen das als "historisch" feiert. Angesichts der Geschichte ist eine Person oder ein Ereignis "historisch", wenn der Gang der Dinge danach anders als vorher ist. Was also ist durch und seit Scharon historisch anders als vor ihm? Die Antwort ist klar: Er hat mit seiner Strategie den Anti-Guerilla-Kampf revolutioniert und um die Variante erfolgreicher Terrorabwehr ergänzt. Anders formuliert: Was der Chinese Mao Tse-tung und der vietnamesische General Giap für den Guerillakrieg, ist Scharon für den Anti-Guerilla- und Anti-Terror-Krieg, sozusagen der Anti-Mao.

So unterschiedlich Scharon einerseits und Mao sowie Giap andererseits, sie haben eines gemeinsam: Gewalt war für sie Mittel der Politik. Das Primat der Politik bestimmte die Anwendung von Gewalt. Ihre Politik mag dem einen gefallen, dem anderen nicht. Das hängt von subjektiven Wertvorstellungen ab. Ihr jeweiliges Instrumentarium aber ist von Wertvorstellungen unabhängig und kann sowohl vom einen wie vom anderen eingesetzt werden.

Welthistorisch betrachtet waren bis zur Ära Scharon Guerillakrieger mit herkömmlichen militärischen Mitteln praktisch unbesiegbar. David kämpft gegen Goliath – und gewinnt wie weiland David im Alten Testament. Um den fremden Besatzer zu schwächen, zu verunsichern, zu entnerven und so schließlich zum Rückzug zu bewegen, überfielen einheimische, zivil, also ohne Uniform oder Kriegerabzeichen gekleidete Kleinkrieger das feindliche Militär aus dem Hinterhalt. Halt, Unterschlupf und Schutz bot ihnen die eigene Zivilbevölkerung. Dort, so Mao, bewege sich der Guerilla wie der Fisch im Wasser.

Die zivile Quelle wurde von den fremden Soldaten früher oder später erkannt. Doch ins gegnerische Zivil schießt kein Militär so unbeschwert, wenn überhaupt, wie auf gegnerische Soldaten, die als solche eindeutig erkennbar sind. Das ist eine militärpsychologische Grundtatsache. 

Die Grundüberlegung der Guerilla ist dabei ebenso einfach wie doppelbödig und letztlich zynisch. Das eigene Zivil ist freiwilliger Partner und eher unfreiwillig Geisel. 

Die eigenen Zivilisten, die sich den Guerillas entziehen oder verweigern, werden als "Kollaborateure" des Feindes denunziert und liquidiert.

Dieses Szenario bedeutet für jedes herkömmliche Militär: Wenn sie siegen wollen, müssten sie sowohl die gegnerischen, zivil getarnten, Krieger als auch die Zivilisten des Gegners bekämpfen, notfalls vernichten. 
Letzteres ist in der ohnehin schon grausamen Weltgeschichte der Kriege gottlob eher die Ausnahme. Man denke an den gnadenlosen Vernichtungskrieg der Regierung von Sri Lanka gegen die Tamilen im eigenen Staat oder an Julius Caesars gallischen Krieg. An dessen Ende war, so der zynische Caesar voller Genugtuung, Gallien "befriedet", sprich: durch verbrannte Dörfer, Städte, Erde vernichtet. Bis zu Scharon galt also im Anti-Guerilla-Krieg: Rückzug oder physische Vernichtung des Gegners.

Wegen der räumlichen Nähe der feindlichen Zivilbevölkerung haben die palästinensischen Kleinkrieger die klassische Guerillastrategie um eine Variante erweitert: den Terror. Während die Guerilla auf das feindliche Militär zielt, richtet sich Terror gegen das Zivil des Feindes. Aus und ins eigene Zivil bewegten sich sowohl die palästinensischen Guerillas als auch Terroristen. Ob sie wollten oder nicht, palästinensische Zivilisten mussten "ihre" Guerillakämpfer und Terroristen decken. Wie in jedem Guerillakrieg gab es solche, die freiwillig mitmachten, andere unfreiwillig, weil unter Mordandrohung er- und gepresst.

Genau hier setzte Anfang der 50er- Jahre die Anti-Guerilla- und Anti-Terror-Strategie Scharons an. Und kein Zweifel, es war vor allem er, der sie gedanklich entwickelte und dann auch anwandte. Zunächst, sein eigenes Leben immer wieder riskierend, als aktiver, an der Seite seiner Kameraden kämpfender Soldat, später als Minister und schließlich als Ministerpräsident. Als Militär und Politiker verlangte er von ihnen nicht mehr als von sich selbst – aber auch nicht weniger. Weil fordernd, hochriskant und anstrengend, führt diese Haltung selten zu Beliebtheit, aber zu Respekt, Furcht und Hass.
Der israelischen Spionage gelang es seit jener Zeit immer besser, diejenigen Palästinenser ausfindig zu machen, die sich ihren Kriegern und Terroristen entziehen wollten und deren Pläne, Aufenthalt und andere wichtige Informationen den Israelis aus Selbstschutz oder Eigennutz oder anderen Motiven preiszugeben bereit waren. Man kann auch sagen: zu verraten, doch das wäre schon die Bewertung und nicht die Beschreibung der scharonschen Strategie.
Auf diese Weise konnten nun Scharon, seine und spätere Elitesoldaten Israels mit gewagten Kommandoaktionen gezielt Terror- oder Guerillaaktionen vergelten oder verhindern. Anders als Caesars alles vernichtender Krieg war und ist dies ein begrenzter und gezielter Kampf gegen die Feuerquelle. Scharon entzog – Maos Definition folgend – den Fischen das Wasser.

Das liest sich so glatt und scheinbar elegant. Tatsächlich ist von schlimmen, grausamen, unmenschlichen Dingen die Rede. Oft wurden bei den israelischen Präventiv- oder Reaktivaktionen unschuldige, unbeteiligte Zivilisten getötet. Mal mehr, mal weniger, immer zu viele, weil jeder Einzelne zu viel ist. Krieg ist Krieg, sein Gesetz grausam, entsetzlich, unmenschlich. Es gilt, ihn zu verhindern. Doch wenn ausgebrochen – und Israels Überleben haben Palästinenser und arabische Staaten seit jeher bekriegt – muss er gefochten und gewonnen werden, um zu überleben. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, die Verluste des Feindes zu minimieren. Töten darf nie Selbstzweck sein. Daran hielt sich die Scharon-Strategie weitgehend. Sie wurde im Krieg entwickelt, um Krieg zu beenden. Es war zu spät, ihn zu verhindern.
Jenes Instrumentarium haben Israels Militär, Politik und Nahost-Wissenschaft so sehr verfeinert, dass immer weniger Kollateralschäden zu beklagen waren. Die "gezielten Tötungen" gehören zu den neueren Methoden im alten Vorgehen. Die Drohnentechnik, in Verbindung von Aufklärung und Tötungsfertigkeiten, macht es möglich. Die USA wenden sie in Afghanistan, Pakistan, Somalia und im Jemen an. Alle werden nachziehen, denn die Scharon-Strategie ist nun allgemein – und deshalb historisch.

Ganz auszuschließen waren und sind auch dabei unbeabsichtigte Schäden nie. Das politische, sprich: strategische Ziel der militärischen Aktionen war für Scharon und seit Scharon für Israel eindeutig: Die mehrheitlich friedlich gesinnten palästinensischen Zivilisten sollen ermutigt werden, sich dem durch die Scharon-Strategie sinnlos gewordenen Guerilla- und Terrorkrieg zu verweigern. 
Das sei für die palästinensischen Zivilisten zwar nicht unriskant, doch letztlich weniger selbstmörderisch als die Fortsetzung der Gewalt. Nach Beendigung der Gewalt könne, müsse und werde eine politische, politisch-friedliche Lösung gefunden.

War der Krieger Scharon also ein Mann des Friedens? Ja und nein, gerade weil er in der Anwendung seiner Strategie unglaubliche Konsequenz bewiesen hat. Was heißt "Konsequenz"? Scharon war knallhart und nicht selten brutal. Blut klebte an seinen Händen, und sein Beiname "Bulldozer" kommt nicht von ungefähr. Man denke an den Verteidigungsminister, September 1982, im Libanonkrieg gegen die PLO. Seine Truppen standen Gewehr bei Fuß, als Christenmilizen Hunderte von Palästinensern in den Lagern Sabra und Schatila massakrierten.

Im aufgezwungenen Krieg war sein Krieg seine Politik – das, was er für seinen Weg zum Frieden hielt. Das sei nun kurz skizziert. 
Scharons rein militärische Leistungen mögen andere würdigen: Die Kommandoaktionen seit 1953, sein Einsatz in den Kriegen von 1956 (Sinaifeldzug), 1967 (Sechstagekrieg), 1973 (Jom-Kippur-Krieg). 
Gerade im Oktober 1973 zeigte sich der politische Kopf und Charakter dieses scheinbar Nur-Haudegens: Er widersetzte sich den Vorgaben seines Oberbefehlshabers und erzielte damit, aus der Defensive, den militärischen Durchbruch gegen die Armee Ägyptens, die er einkesselte. Er stand rund 100 Kilometer vor Kairo. Und damit war eine politische Lösung möglich. US-Außenminister Henry Kissinger begann sie, Israels Premier Begin vollendete sie 1977 bis 1982 – unter maßgeblicher Beteiligung Scharons. 

Die erstmalige Räumung israelischer Siedlungen auf dem Sinai zugunsten des Friedens mit Ägypten hat Minister Scharon im April 1982 federführend für seinen Ministerpräsidenten durchgesetzt, nein, durchgeboxt.

Schon zuvor, Anfang der 70er, als Kommandeur der Südarmee, hatte er die menschenunwürdigen palästinensischen Flüchtlingslager im Gazastreifen sanieren wollen. Dafür wurde ihm von der PLO – und den UN! – Unmenschlichkeit unterstellt. Es blieb also bei den unmenschlichen Bedingungen, die immer unmenschlicher wurden und so die Palästinenser weiter radikalisierten. Das genau hatte die damalige PLO gewollt. Die islamistische Hamas erntete die Früchte – gegen die PLO und Israel.
Wäre der Scharon-Plan realisiert worden, hätte sich die Politik in Gaza anders entwickelt. Menschlicher. Nein, nicht aus reiner Menschenliebe oder zum ausschließlichen Wohl der Palästinenser hat Scharon diesen Plan entwickelt. Er wollte den Guerilla- und Terrorfischen das Wasser entziehen.

Wie ist seine seit 1977 vehement betriebene Siedlungspolitik zu beurteilen? Etwa auch, wieder gegen den Strom schwimmend, positiv, friedensbezogen? Ja, auch wenn mich manche Leser dafür steinigen. Der massive Aus- und Aufbau israelischer Siedlungen im Westjordanland begann 1977 unter der Regie von Begin und Scharon. Gleichzeitig führte die Begin-Scharon-Dajan-Regierung seit jenem Sommer hinter den Kulissen und seit November auf der weltpolitischen Bühne Friedensgespräche mit Ägyptens Präsident Anwar al-Sadat. 
Im September 1978 wurde das Camp-David-Abkommen geschlossen, im März 1979 der israelisch-ägyptische Friedensvertrag. Beide sahen für Gaza und das Westjordanland eine weitgehende Selbstverwaltung ("Autonomie") vor. 

Deren politische Dynamik hätte unweigerlich zur Gründung eines Palästina-Staates geführt. 

Wenn die PLO unter Arafat diesen Prozess nicht torpediert und sich sowie das Volk der Palästinenser damit selbst geschädigt hätte. Zunächst waren diese Siedlungen nämlich ein israelisches Druckmittel in den Friedensverhandlungen: Wenn wir einen politischen, nicht militärischen Weg finden, bauen wir auch keine Siedlungen. Legt die Waffen nieder, und es gibt keine neuen. Macht ihr weiter, wird unser Appetit auf Siedlungen größer. So oder so, aus Sicht Scharons nur vorteilhaft.

Jene leisen Töne wurden auch international überhört, und die sich dann entwickelnde Eigendynamik der Siedlungspolitik führte dazu, dass heute rund eine halbe Million Israelis im Westjordanland (einschließlich Ost-Jerusalems) leben. Auch das wäre vermeidbar gewesen, wäre Scharons Signal verstanden worden. Dass es nicht verstanden wurde, überrascht noch mehr, wenn man bedenkt, dass Scharon als erster etablierter Politiker, als erste Nichtfriedenstaube Israels, vor Sadats historischem Besuch in Jerusalem (November 1977) seine Bereitschaft bekundet hatte, mit Arafat und der PLO zu verhandeln. 
Wörtlich: "Es kommt nicht darauf an, mit wem, sondern worüber und wofür verhandelt wird." Überhört, abgelehnt.

Als Ministerpräsident entwickelte er die Anti-Terror-Strategie weiter, nachdem sich palästinensische Überfälle und Anschläge auf israelische Zivilisten und Militärs in der zweiten Intifada (2000–2005) aus dem Westjordanland gehäuft hatten. Er ließ zwischen Israel und dem Westjordanland einen "Trennzaun" bauen. Faktisch ist es eine Mauer. Sie stellt die Berliner Mauer in den Schatten. Sie trifft das Westjordanland bis ins Mark. Das ist die eine, inhumane Seite. 
Die andere, humane: Ohne eine verheerende Militäraktion zu starten, hat sich Israel als Terrorzielscheibe entzogen. So besiegte Scharon die zweite Intifada.

Im Grunde genommen handelte Scharon wie einst Bismarck, 1866 nach dem gewonnenen Krieg gegen Österreich. Er schlug es militärisch und öffnete den Rückweg in die Politik. Diesen Weg ging Scharon 2005 weiter: Gegen den massiven Widerstand seiner Koalition, Partei und Öffentlichkeit räumte er alle Siedlungen im Gazastreifen. 
"Land für Frieden". Die internationale Gemeinschaft forderte und fordert das von Israel seit jeher. 
Statt Frieden fürs Gaza-Land bekam Israel von der Hamas allerdings Raketen. Doch Scharon wollte den politischen Weg fortsetzen. Dafür gründete er eine eigene Partei. Er verließ den von ihm 1973 mitgegründeten Likud. Gemäßigte Politiker wie Schimon Peres schlossen sich ihm an. Im Januar 2006 wurde Scharon vom Schlag getroffen.
Seine Nachfolger hatten nicht den Willen, die Fähigkeit oder die Kraft, Scharons Weg zum Frieden zu vollenden.

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