Stationen

Montag, 24. März 2014

Deja vue und Virtus



Unverzichtbar, um Italien zu verstehen - und überraschenderweise hilfreich, um meine Mutter zu verstehen - ist Fernando Camons Buch "Occidente".

Im Gegensatz zu Deutschland, wo es nur die vergleichsweise harmlose, stümperhafte und politisch perspektivelose Mordserie der NSU gegeben hat, hat es in Italien parallel zu den Roten Brigaden auch einen ernst zu nehmenden Terrorismus der Rechtsextremisten gegeben, deren pragmatische, aktivistische Ideale und deren Pflicht- und Staatsbewusstsein keineswegs weltfremd waren, in gewissem Sinne sogar das genaue Gegenteil des verquasten, utopistischen Denkens der Roten Brigaden, Renato CurciosAntonio Negris darstellen und mit Valerio Fioravanti eine schillernde, begeisterte und doch sehr nüchterne, durchaus nicht unsympathische Figur in ihren Reihen hatten, die ein bisschen an Ernst von Salomon erinnert. Wenn man ihre Protagonisten sprechen hört und sie mit den Kollegen des linken Terrorismus vergleicht, wundert man sich beinahe, dass sie ihre Ziele nicht erreichten. Bzw. man kommt zu dem Schluss, dass sie ihre Ziele womöglich erreicht haben könnten...

Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn man Camons Buch liest. Fernando Camon hat als Schriftsteller, der an der Wahrheit interessiert ist, einen der rechtsradikalen Hauptangeklagten des Bombenanschlag auf der Piazza Fontana interviewt, nachdem dieser in erster Instanz verurteilt worden war und am Ende doch freigesprochen wurde. Und am Ende des Interviews sagt er ihm: "Sie sind freigesprochen worden. Ich frage Sie jetzt nach der Schließung Ihrer Akten also nicht im juristischen Sinn, sondern als Moralist und Chronist: Haben sie diesen Bombenanschlag nun begangen oder nicht?" Und der Gefragte antwortet ihm: "Nicht der ist unschuldig, der unfähig ist, einem anderen Leid zuzufügen, sondern der, der es ihm zufügt, ohne je Gewissensbisse deswegen zu haben."

Eine erfrischend aufrichtige Haltung im Vergleich zum erbärmlichen, betretenen, duckmäuserischen, heuchlerischen Rumgedruckse und der überbordenden Feigheit der Heideggeristenriege, die sich dieser Tage zu dessen "Schwarzen Heften" äußert. Aber das nur nebenbei.

Gedanken zu Lethe in Deutschland und Italien

Italiens Justiz ist ein Labyrinth, das wie eine Stadt in "Viertel" aufgeteilt ist. Und in diesen Vierteln haben die politischen Kräfte vor langer Zeit "Quartier" genommen. Und so gibt es einerseits politische Akteure wie Sofri, dessen Erfahrungen mit der Justiz zumindest die Vermutung nahelegen, sein Freispruch werde durch Manipulation von Beweismaterial und Verfahrensdetails verhindert - zumal die Rechtsterroristen irgendwann alle freigesprochen werden und dann in Interviews mit Italiens größten Schriftstellern glänzen - und andererseits gibt es Schicksale wie die Berlusconis, der gewiss kein Heiliger ist (was umgekehrt auch für Sofri gilt!), dessen Erfahrungen mit der Justiz aber genau wie bei Sofri nicht nur ein Gschmäckle anhängt, weil sie förmlich nach politischer Einflussnahme stinken, zumal "Magistratura Democratica" sich die politische Militanz auf die Fahnen schrieb und sogar im Statut verankerte und die italienische Justiz - in der die Linke offenbar die unmittelbareren Fäden zieht, während die Rechte ihre Männer mehr in den Geheimdiensten platziert zu haben scheint - über Instrumente verfügt, die aus ihrer Unabhängigkeit etwas machen, was ihre Kompetenz auf eine Weise erweitert, die bei uns bisher nicht vorstellbar ist und durch die eine Portion Exekutive in die Judikative hineinrutscht.
Derselbe Richter, von dem man angeklagt wird (die Figur des Staatsanwalts gibt es in Italien nicht; auch wenn die FAZ dies nie erklärt und den die Klage formulierenden Richter immer den "Staatsanwalt" nennt) kann außerdem in der nächsten Instanz der urteilende Richter sein. Mir ist nicht bekannt, dass je eine deutsche Veröffentlichung sich mit diesen Problemen befasst hätte oder sie auch nur hätte anklingen lassen. Da sie fast nur von Berlusconi thematisiert wurden und Leoluca Orlando sie geflissentlich im deutschen Fernsehen ignorierte und Deutschland immer nur nach Cavalleria rusticana lechzt, fielen sie bisher unter den Tisch.

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