Stationen

Samstag, 17. Januar 2015

Aus Sebnitz nichts gelernt

Kommt dies Ihnen bekannt vor? Die Westöffentlichkeit hält den Osten für zurückgeblieben und latent rechtsradikal. In Sachsen gibt es einen Toten. Es gibt Unterstellungen und wilde Spekulationen und dann ganz schnell eine breite öffentlich-mediale Gewissheit. Rechtsradikale Ostdeutsche haben einen Unschuldigen ermordet! Nur, dass nichts davon stimmte. Diese Geschichte könnte sich jetzt wiederholen.

Die erste Geschichte spielt in Sachsen Ende der 90ziger Jahre im kleinen, völlig unbekannten Städtchen Sebnitz.Der 6-jährige Joseph, ein Kind einer aus dem Westen zugezogenen deutsch-irakischen Familie wird tot im Becken des Sebnitzer Freizeitbades gefunden. Er war mit seiner minderjährigen Schwester in dem prall gefüllten Bad. Den Tod des 6-jährigen hat in dem Bad zunächst keiner bemerkt – nichts wirklich Ungewöhnliches im vollen Badebetrieb mitten im Sommer. Man vermutete zunächst einen Unfall.

Doch drei Jahre später platzt die Bombe. Die Mutter des Jungen behauptet, dass ihr Kind von Neonazis ermordet wurde, unter Zeugenschaft weiterer Deutscher. Was eigentlich vollkommen an den Haaren herbeigezogen wirkt, entwickelt sich zu einem deutschen Medienpolittsunami. Es gibt mehrere Verhaftungen, das mediale Echo ist riesig, Mahnwachen werden veranstaltet, der Kanzler trifft die Mutter. Abstruseste Horrorfantasien über das Verhalten der ostdeutschen Badegäste geistern durch die Medienlandschaft. Dann bricht die Welle in sich zusammen.
Die Frau, die Joseph mit einer Limonade vergiftet haben sollte, war an diesem Tag gar nicht im Schwimmbad. Ärztliche Untersuchungen belegen, dass der Tod ein trauriger Unfall war. Durch einen unerkannten Herzfehler, verursacht durch den Stress im Freizeitbad. Badetod – eine Diagnose, die in deutschen Sommern regelmäßig gestellt wird. Im Medienrausch ging alle Vernunft unter.

Stimmen, die vor Hysterie und Vorverurteilung warnten, die es, wie der Theologe Richard Schröder, für schwer vorstellbar hielten, dass hunderte Menschen bereit wären, einen Mord an einem kleinen Jungen unter ihren Augen geschehen zu lassen und anschließend zu vertuschen, wurden verbal attackiert, als wären sie selbst in das angebliche Mordkomplott verstrickt.

Weltweit berichteten die Medien über Sebnitz, das kurzzeitig zum Symbol neonazistischer Gewalt avancierte. Der Ruf der Stadt war gründlich ruiniert. Ostdeutschland stand am Pranger. Wer es nicht glaubt, lese es nach: Einige der damaligen Artikel kann man heute noch im Netz finden.

Die neue Geschichte ist noch nicht an ihrem Ende. Aber die Ähnlichkeiten sind frappierend. Mehr denn je hält die mediale (West-)öffentlichkeit den Osten für zurückgeblieben und latent rechtsradikal. Sonst gäbe es ja die PEGIDA-Demonstrationen nicht. Und in Sachsen gibt es wieder einen Toten. Diesmal gleich in Dresden. Und diesmal ein Asylbewerber. Und diesmal Opfer eines Tötungsverbrechens, was die Polizei aber erst nach einigen Stunden feststellt. Und wieder gibt es Unterstellungen und wildeste Spekulationen, dies sich schon fast zu einer neuen öffentlich-medialen Gewissheit verdichten. Die Süddeutsche Zeitung schreibt als Artikelüberschrift: Toter Flüchtling in Dresden. “Wir sehen den Hass in den Augen der Menschen”. Gemeint sind die ostdeutschen Nachbarn. 

Haben die Mainstreammedien nichts aus Sebnitz gelernt oder, fast wahrscheinlicher, ihre eigenen Fehlleistungen vergessen? Bevor die Polizei überhaupt etwas ermitteln kann, ist der stigmatisierende Verdacht ausgesprochen und politisch bekräftigt. Volker Beck und andere springen auf den Zug der medialen Stimmungsmache auf.

Nicht auszumalen, was der Effekt auf die Bevölkerung und vor allem die Demonstranten in Dresden sein wird, wenn sich am Ende herausstellt, dass der gewaltsame Tod des jungen Flüchtlings nichts mit den Ostdeutschen zu tun hat.

Wie schnell Streit in den sicherlich schwierigen Verhältnissen in Flüchtlingsunterkünften, gerade in unbetreuten Situation wie im konkreten Fall einer Unterbringung in einer Wohnung, auch zu einem tödlichen Gewaltausbruch führen kann, bewies der Tod eines Besetzers der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg vor einigen Wochen. Ein nichtiger Streit im Duschraum endete mit tödlichen Stichverletzungen für einen Flüchtling.

Ein für den Fall in Dresden durchaus denkbares Szenario. Es wird aber in den sehr großen Artikeln der großen Zeitungen nicht diskutiert. Passt offenbar nicht ins Bild. Vielleicht ist es doch nicht so überraschend, dass es in Deutschland und insbesondere in Ostdeutschland die Stimmungslage ‚Lügenpresse’ gibt.
Wann werden wir endlich wieder einen Journalismus haben, der diesen Namen verdient? Vera Lengsfeld

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