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Montag, 12. Januar 2015

Die Vernunft ist eine Hure

RELIGION UND GEWALTBEREITSCHAFT: PAPST BENEDIKT HAT IN REGENSBURG NICHT NUR MISSVERSTÄNDLICH ZITIERT - SONDERN SCHLICHTWEG FALSCH


Stellungnahme von Kurt Flasch zu Ratzingers Rede in Regensburg



"Die Vernunft ist keine Jacke

Der Papst hat gesprochen. Der Papst mag unfehlbar sein, Professor Ratzinger ist es nicht. Aber ob er diesmal einen oder mehrere oder gar keinen Fehler gemacht hat, darüber kann nur urteilen, wer seine Regensburger Vorlesung als ganze liest. Wie jeder Redner hat er ein Recht darauf, nicht nur nach einzelnen Zitaten beurteilt zu werden. Mein Gesamteindruck: An der persönlichen Bereitschaft zum Dialog, auch mit dem Islam, braucht man nicht zu zweifeln. Der Papst trägt seine gute Absicht glaubhaft vor. Aber er konterkariert sie durch eine - diesmal sanft vorgetragene - dogmatische Defensivposition: indem er eine Einheit von Vernunft und Glauben, Griechentum und Christentum behauptet, die es so nicht gab. Und er verspielt den Erfolg durch eine Art des Umgangs mit zwei Zitaten, die man bei weniger hohen Autoritäten "dilettantisch" nennen würde. Wahrscheinlich gehen diese Passagen auf seine Redenschreiber zurück. Ein Papst hat andere Verpflichtungen, als mittelalterliche Quellen oder Kant zu lesen. Wenn der Papst ein wirklich regierender Papst ist, dann hat er seine Redenschreiber schon gefeuert; sie könnten in der Landseelsorge in Niederbayern nützliche Arbeit im Weinberg des Herrn leisten. Niemand, der die Rede liest, kann - von den Zitaten einmal abgesehen - daran zweifeln: Der Papst ist ernsthaft besorgt. Der Dialog ist eine Lebensnotwendigkeit unserer Gesellschaft. Er diagnostiziert eine "Pathologie der Vernunft und der Religion". Er sieht in Europa einen langen Verfallsprozess. Er weiß, dass er die Krise durch autoritative Akte nicht heilen kann. Daher das glaubwürdige Pathos des Ausgleichs, des Gesprächs und der Offenheit. Aber der Papst blockiert seine Absicht durch die extreme Vereinfachung der geschichtlichen Realität - des Islams, aber auch der westlichen Ideenentwicklung und seiner eigenen Kirche. Frommer Relativismus Um mit dem Islam zu beginnen: Er erscheint als vernunftfeindlich und daher gewalttätig. Sein Gottesbild sei entweder völlig unbestimmt, rein negativ, oder bloß jenseitig-fremde Willensenergie. Dieses Bild verkennt zweierlei: Erstens: Die reiche Ideenentwicklung in der arabischen Theologie und Philosophie, in der sowohl die radikale negative Theologie wie der Voluntarismus eine Strömung unter mehreren war. Zweitens: Dieselben als vernunftfeindlich kritisierten Motive des Islam kommen auch in der christlichen Welt vor. Bei großen christlichen Theologen findet sich der Gedanke, wir wüssten nicht, was Gott ist: Als der Unendliche müsse er völlig bestimmungslos gedacht werden. Christliche Theologen der göttlichen Willensmacht verbieten dem Menschen, diesem Sündenwurm, auch nur zu fragen, warum Gott dies oder jenes beschlossen hat: "Wer bist du, dass du...-"? Die Regensburger Rede, die durchaus auf die Geschichte des Christentums eingeht, gesteht dies zweite Motiv ein für die Zeit seit Duns Scotus, also ab 1300. Aber es steht im Römerbrief des Paulus, und der späte Augustinus hat es energisch fortentwickelt. In beiden Hinsichten, im Frageverbot wie im Verbot von Prädikaten, geben sich die islamische wie die christliche Tradition nichts. Der Papst empfiehlt die Versöhnung von Vernunft und Glaube, von Griechentum und Christentum, aber über Jahrhunderte haben seine Vorgänger gelehrt, die Vernunft müsse sich in den Glauben gefangen geben. Er zeichnet ein harmonisches Wunschbild der Geschichte des christlichen Denkens. Er übergeht alle Konflikte. Er ordnet dem Islam die bedenklichen, dem Christentum die liebenswürdigen Tendenzen zu. Dies ergibt keinen Dialog. Eine Einheit von Glaube und Vernunft hat es in der irdischen westlichen Welt nie gegeben. Der Papst fordert eine neue Weite der Vernunft, welche die Theologie einschließen müsse, aber zur Verengung der Vernunft kam es erst durch die Misserfolge der "weiten" Vernunft. Wir können heute nicht eine "weite" Vernunft wählen, wie man eine weite Jacke wählt. Das wäre der vom Papst so oft beklagte "Relativismus" in frommer Form. Auch die historische Perspektive der Rede stimmt nicht: Die christliche Welt des Westens hat von 400 bis 1800 die Toleranz nicht nur de facto nicht geübt; sie hat sie theoretisch verworfen. Es gibt lange Seiten des Heiligen Augustinus, in denen er die Notwendigkeit des Heiligen Kriegs begründet. Diesen Gedanken gab es in der Hebräischen Bibel, christliche Theologen haben ihn liebevoll weiterentwickelt. Der Papst lehrt, der Glaube sei eine Sache der Seele; aber viele christliche Denker, von Augustinus an bis ins hohe 19. Jahrhundert, haben diesen Gedanken zwar wiederholt, aber dann hinzugefügt: Gewiss beruhe der Glaube auf freier Zustimmung, doch seien die Menschen so in Sünden und schlechten Gewohnheiten befangen, dass wir sie mit körperlicher, auch militärischer Gewalt daraus befreit müssen, damit sie danach frei zustimmen. Augustinus beschreibt jubelnd, wie christliche Abweichler, in die Kirche zurückgetrieben von Soldaten, die er gerufen hatte, der Vorsehung gedankt hätten. Denn durch Schrecken erzogen, seien sie nun ihren Irrtum los. Das soll Kant gesagt haben? Ein anderes Beispiel: Vor einigen Monaten wurde in Afghanistan ein Moslem zum Tode verurteilt, weil er zum Christentum übergetreten war. Er kam durch diplomatische Ränke frei. Aber die muslimischen Autoritäten, die ihm nach dem Leben trachteten, haben sich genau an die christlichen Moralvorschriften des Thomas von Aquino gehalten. Thomas lehrte nämlich: Wer den christlichen Glauben verlässt, ist des Todes schuldig. All dies und vieles andere - auch das Te Deum des Papstes, als er von der Abschlachtung der Hugenotten in der Bartholomäusnacht erfuhr - ignoriert der Papst in seiner Suche nach Harmonie. Sein Bild von Islam und Christentum gerät darüber zur Karikatur. Diese Religionen sind aufs Ganze gesehen so unähnlich nicht; nur befinden sie sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Nachdem die Kirche im Westen Polizei und Militär nicht mehr befehligen kann, lobt sie die Religionsfreiheit, die sie noch im 19. Jahrhundert feierlich verworfen hat. Der Papst will kein vernunft- und kulturfeindliches Christentum, aber er zieht der christlichen Vernunft enge Grenzen: Seit Duns Scotus gab es, sagt er, gefährliche Verfallstendenzen; die Reformatoren ließen sich durch die Entwicklung der Spätscholastik zu Programmen der Trennung von Vernunft und Glauben hinreißen; auch Pascals Trennung des Gottes Abrahams vom Gott der Philosophen besteht nicht zu recht. Dann kommt der Papst auf Kant zu sprechen. Kant habe das Erbe der Reformatoren auf die Spitze getrieben. Kant, heißt es wörtlich, behaupte, er "habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen". Dies Zitat ist falsch. Die versammelte bayerische Intelligenz nahm daran keinen Anstoß: Hat Kant wirklich gesagt, er habe das Denken beseitigen wollen? Das Zitat heißt richtig: "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen". Bei Kant und in Wirklichkeit sind Denken und Wissen nicht dasselbe. Man kann sich vielerlei denken, ohne etwas zu wissen. Kant hat gesagt, was er unter Wissen verstand: Sinnliche Anschauung plus Denken. Auch "Glauben" ist hier im Kantischen Sinn zu nehmen: nicht Kirchenglaube, sondern der Vernunftglaube oder die denkende Erfahrung unbedingten Sollens in der praktischen Vernunft. Bis zum Beweis des Gegenteils kann ich nicht glauben, dass ein Professor von der Bildung Ratzingers Kant so elementar entstellt hätte. Ich sehe ihn vor mir, von Staatsgeschäften, Zeremonien und Folklore überanstrengt, und daneben malochen seine bleistiftkauenden Redenschreiber. Kant bestritt, dass die bisherige Metaphysik Wissen war. Ihren Anspruch, nicht "das Denken", musste er beseitigen, um für das Denken seiner praktischen Philosophie Platz zu bekommen. Gab es keinen besseren Zeugen? Ich komme zu dem inzwischen berüchtigten Zitat des griechischen Kaisers, der seine Belagerer belehrt, sie sollten nicht aus Glaubensgründen Krieg führen, das sei dem Wesen des Glaubens zuwider. Der Professor folgert aus dem Zitat 1) Es sei unangemessen, die Religion mit Gewalt zu verbreiten. 2) Der Islam denke Gott als "absolut transzendent", während das Christentum ihn denke als Vernunft und Liebe. Es vermeide, Gott in einen "undurchschaubaren Voluntarismus zu entrücken". Dem Zusammenhang nach muss man fortfahren: Darum ist das Christentum dialogbereit, der Islam nicht. Das sagt der Papst nicht. Aber es stellt den Zusammenhang her, und man muss nicht bösen Willens sein, um diese Kontrastierung herauszulesen, die den jetzigen Christen schmeicheln und Muslime verletzen kann. Zumal der Papst hinzufügt: Die Sure 2, 256 des Korans, die den Zwang in Glaubenssachen ablehne, stamme aus der frühen Zeit, als Mohammed noch machtlos war, während spätere Texte, als der Prophet Macht hatte, den heiligen Krieg empfehlen. Dieses Zitat und seine genaue Rolle im Gedankenfortgang bleiben rätselhaft. Ist etwa der belagerte Christenkaiser der richtige Glaubensverkünder? Gab es im Westen keinen glaubwürdigeren Zeugen? Und wenn der Papst - von sich aus historistisch relativierend, also in dieser Richtung aufklärerisch - hinzufügt, die Ablehnung des Zwangs gehöre in die Zeit der Machtlosigkeit, dann fragt es sich, ob die neue christliche Absage an die Gewalt nur die schlaue Folgerung aus der Machtlosigkeit sei. Sind die Trauben sauer, weil sie zu hoch hängen? Der Papst hätte ohne diesen historischen Dekor überzeugender für Religionsfreiheit argumentieren können. Aber wer Kant falsch zitiert und mit einer im Argumentationsgang entbehrlichen Stimme aus dem belagerten Byzanz der Zeit um 1400 geradezu tolpatschig-ungenau verfährt, hat den Misserfolg programmiert. Um in der realen Welt Gespräche zwischen Religionen und Kulturen anzuregen, genügen nicht edle Intentionen. Es braucht genaues Denken, philologische Präzision, historische Gerechtigkeit und politische Umsicht. Das alles mag der Papst gewollt haben. Dann hat er sich selbst einen Strich durch die Rechnung gemacht."




Flaschs spöttische Einleitung - "der Papst mag unfehlbar sein" - ist eine für nordeuropäische Vertreter des Laizismus typische Herabsetzung, die ich vom gebildeten Flasch allerdings nicht erwartet hätte. Denn der Papst hat ja nur in ganz speziellen Ausnahmesituationen die Möglichkeit, ex cathedra zu sprechen und muss dies auch ausdrücklich erklären und dazu auch möglichst auf der "cathedra" sitzen, also auf dem Thron, der sich nicht im Vatikan befindet, sondern in St. Johannes im Lateran. Ob der Papst in Notfällen, wenn der Lateran nicht zugänglich sein sollte, überhaupt ex cathedra etwas verkünden kann, wäre eine interessante Frage, besonders insofern dieses Dogma ja selber eine Maßnahme für Notfälle darstellt. Meines Wissens kam es seit Bestehen dieses Dogmas erst zwei Mal dazu, dass ein Papst von dieser Möglichkeit Gebrauch machte.

Ansonsten sind Flaschs Einwände korrekt, genauso wie Paul Schulzes Einwände. Wie diese sind auch Flaschs in ihrer studierstubenhaften Reinheit nur leider völlig irrelevant und helfen uns nicht weiter. Seine bleistiftkauende Unterscheidung zwischen "Aufhebung des Wissens" und "beiseite schaffen des Denkens" (grotesk hierbei ist Flaschs Gleichsetzung von "Beseitigung" und "beiseite schaffen") ist auch nur am Rande interessant, insofern folgende Worte Kants auf jeden Fall das Zentrum bilden:

“Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.”
Die Tatsache, dass die Liebe für das Christentum wichtiger ist als die Wahrheit, wird dem Christentum immer wieder zum Verhängnis.
Aber damit muss es leben. Denn die Tatsache, dass es dieses Verhängnis für die anderen Religionen nicht gibt, macht gerade die Besonderheit des Christentums aus und die breitspurige Rationalität der anderen Religionen. Die Vernunft ist eine Hure, und der Relativismus muss nach innen bekämpft werden, wenngleich er nach außen - nolens volens - benutzt werden muss.

Wenigstens in dieser Hinsicht sollte sich das Christentum nicht von anderen Glaubenstraditionen unterscheiden. Man kann nicht in allen Situationen mit demselben Maß messen. Das ist ein bedenkliches, gefährliches, aber auch unumgehbares Fazit, das uns plötzlich ins Unwägbare abgleiten lässt. Wir verlieren den Halt, der uns seit Jahrhunderten Sicherheit gewährleistete. Die insicuritas greift bald unerbittlich um sich. Es wird lange dauern, bis wir wieder sicheren Boden unter die Füße bekommen. Der Relativismus wird Europa zusammen mit dem Islam höchstwahrscheinlich in den kommenden 100 Jahren stärker erschüttern als es Luthers Reform tat.

Die Größe Woytilas bestand hierin: offen nach außen zu sein und andere Religionsführer nach Assisi einzuladen, aber nach innen Geschlossenheit durch Verschluss zu festigen. So hat er die vertrottelte katholische Kirche noch einmal gerettet und vitalisiert. Die Doppelbödigkeit ist eine alte römische Ressource. Schon Publius Terentius Afer sagte "Alliis si licet, tibi non licet", woraus dann im Mittelalter "Quod licet Iovi, non licet bovi" wurde. Und es ist nicht immer eindeutig feststellbar, wer der Ochse ist und wer Jupiter.

Von einem von beiden wurde Europa auf jeden Fall nach Westen getragen! Und darauf kommt es letztlich an, die Tradition des Abendlands zu verteidigen. Zu dieser Tradition gehört auch, dass die katholische Kirche mit ihrer Jahrtausende alten Erfahrung eine virtuelle Fundamentalalternative darstellt, die als Raum der Reflexion und Archiv der Blickwinkel sehr nützlich sein kann, und die man nicht gedankenlos liquidieren darf, weil Monokulturen grundsätzlich gefährdet sind und eine freiwillige Gleichschaltung die größte Dummheit ist, die einer Demokratie passieren kann.

Hinzu kommt auf einer anderen Ebene eine neue Notwendigkeit: Die Selbstkritik war immer die kennzeichnende Stärke des Westens. Genauer gesagt, Selbstkritik ist seit der Renaissance, besonders seit Galileo wieder die Stärke des Westens. 
Zum ersten Mal in der Geschichte, wird nun aus dieser Stärke eine Schwäche werden. Damit diese Stärke nicht zur Schwäche wird, muss die Stärke des Westens die Wahrhaftigkeit sein.

Das kann aber rebus sic stantibus nur mit Eigenlob einhergehen und ausnahmsweise auch einmal mit einer warnenden Zurücknahme unserer habituellen Offenheit gegenüber "den Anderen" (um nicht gesichtslos zu werden; mit dem Wort "gesichtslos" hat Ratzinger den Nagel auf den Kopf getroffen), und in der Gewissheit, dass das Rezept der anderen das ist, welches Treitschke resignierend zu dem seinen machen wollte.

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