Stationen

Sonntag, 26. April 2015

Menschenkinder


Da hatten wir einen wirklich herausragenden Schriftsteller mit überragendem Sprachschöpfungs- und Fabuliertalent. "Katz und Maus" ist ein Lesegenuss, der die Liebe zum Abenteuer des Lebens, zum mitteleuropäischen Wetter, zur Ostsee, zum erinnernden Erzählen und Zuhören, zur deutschen Sprache und ihrer holzschnittähnlichen Wärme und zur Wahrnehmung deutscher Stimmungen und Sehnsüchte wecken kann.

Die Idee des kleinen Jungen in der "Blechtrommel", der sich weigert, groß zu werden, weil ihn die Unreife der Erwachsenen anekelt, ist ein geniales Bild neotenischer Spiritualität. Grass war 32 Jahre alt, als er dieses Buch schrieb. Genialer kann man die Tatsache, mit 17 Jahren der SS beigetreten zu sein und mit 18 vom Völkermord erfahren zu haben, vielleicht nicht verarbeiten (und den Völkermord, den das eigene Volk beging, nicht verwinden). Wie kann man so herzlos sein, einem 17-jährigen die damalige Entscheidung als Verfehlung vorzuhalten? Wie kann man so unbarmherzig sein, dem reifen Mann und dem alten Mann zu verdenken, so lange geschwiegen zu haben, wo doch tagtäglich zu beobachten ist, wie moralisch eitle Nachgeborene die, "die dabei waren", zum Spießrutenlauf auffordern.

Der Butt ist ebenfalls ein geniales Bild. Die Plattfische sind ja zunächst erst einmal vertikal gebaut, wie alle anderen Fische und Wirbeltiere auch, und haben anfangs eine bilateral-symmetrische Körperform. Aber bereits in einem frühen Stadium wandert eines ihrer Augen auf die andere Seite hinüber (bei Schollen und Seezungen nach rechts, bei Butten - und bei Grass - nach links). Was aber macht dieses Bild genial? Neben der Unebenmäßigkeit männlich-deutscher Ästhetik ist es die Ahnung kommender Verdrehungen zum Zeitpunkt der Niederschrift und der Nachhall der Verwindungen und das plättende Gewicht unserer Zeit. Grass hatte symbolistisches Gespür und konnte anspielen.




"Aus dem Tagebuch einer Schnecke" ist ein Buch, das wie kein anderes die Ära Willy Brandt festgehalten hat. Die damalige Aufbruchstimmung, den Fortschrittsglauben und Fortschrittswillen und Fortschrittswahn und dieses unerschütterliche Selbstbewusstsein gegenüber allem Konservativen, die Verbissenheit und Verbohrtheit, mit der man sich darauf versteifte, der Mensch könne und müsse umgemodelt werden (Gesellschaftsveränderung und Weltverbesserung durch Änderung der Köpfe; ohne je wirklich zu hinterfragen, was wirklich nur geschichtlich ist und was entwicklungsgeschichtlich, was onthogenetisch, was phylogenetisch). Und dann wieder das Beharrungsvermögen, das träge, schneckenhaft langsame am Fortschritt und die daraus resultierende Schwermut: das Buch endet mit einem Essay über Dürers Melencolia I und über Marsilio Ficino. Der Gedanke, dass bestimmte Dinge nun mal nicht zu ändern sind, kam in diesem Buch nicht vor. Aber er klingt im Butt an, wenn auch nur als Grundierung der üblichen Apotheose des Weiblichen.

1972 bekam Heinrich Böll den Nobelpreis. Ich empfand es damals als völlig irrsinnig, dass nicht Grass, den ich als überragend empfand, sondern Böll, der außer seinem Irischen Tagebuch nur langweilige Bücher geschrieben zu haben schien, den Nobelpreis bekam. Aber ich war damals 15 Jahre alt. Noch zu klein, um mir meiner Sache sicher sein zu können. Zu jung, um einschätzen zu können, was ich zu spüren meinte... Was an Böll besser sein sollte als an Grass, konnte mir allerdings niemand sagen. Die einen schmähten Böll, die anderen äußerten sich zu Böll voller Ehrerbietung und es irritierte sie, dass ich ihre Ehrerbietung nicht zu teilen schien. Dabei wollte ich sie nur verstehen.

Ich stimme natürlich Klonovskys Beschreibung des ante litteram Stockholmsyndroms zu.

14. April 2015

Nachdem mit Marcel Reich-Ranicki der größte Kritiker seit Saruman das Zeitliche segnete, hat sich nun der größte Literat des 20. Jahrhunderts bzw. der Neuzeit in die Ewigkeit absentiert. Das Vermächtnis von Günter Grass werde neben dem von Goethe stehen, verkündete etwa die Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU). Leider fragte sie keiner: Warum denn? (Kamerad J. juxt, sie habe es bloß alphabetisch gemeint.)

Ähnlich enthemmt fiel das Statement von Nobelpreisjuror Per Wästberg aus, Grass sei von der Schwedischen Akademie als "der Höhepunkt des 20. Jahrhunderts" verstanden worden. "Die Entscheidung damals", also die No-Böll-Preis-Verleihung an den nunmehr – aber nur hienieden! – Verblichenen im Jahr 1999, "war eine ganz bewusste. Er war das 20. Jahrhundert, mindestens nach Thomas Mann." Also sprach Per Wastberg. Woraus gefolgert werden darf, dass der "Stockholmer Elferrat" (Eckhard Henscheid) den Preis immerhin anno 1999 ganz bewusst vergeben hat, denn dergleichen scheint eher die Ausnahme gewesen zu sein. Erinnern wir uns daran, welche Autoren die Jury in dem besagten und nunmehr also Grass'schen Jahrhundert nicht geehrt hat, auf dass wir die ganze Größe des Heimgegangenen ermessen können: Proust, Kafka, Joyce, Joseph Conrad, Hofmannsthal, Doderer, Musil, Brecht, Rilke, George, Benn, Friedell, Karl Kraus, Chesterton, Isaak Babel, Bulgakow, Ernst Jünger, Lampedusa, Italo Svevo... ich breche hier ab.

Jeder einskommafünfte Nachruf betonte, Grass sei ein großer politischer "Mahner" gewesen, natürlich von links, weil das nach dem (sozial)demokratischen Katechismus nämlich Hauptaufgabe und Habitat des echten Künstlers ist, und am Ende dürfte das berühmteste schreibende SPD-Mitglied damit am treffendsten charakterisiert sein. So ruhe er denn in Mahnfried. Hätte sich Grass auf der anderen politischen Seite betätigt und beispielsweise Franz Josef Strauss statt Willy Brandt vollgequasselt, wir hörten heute keinen Mucks von wegen Klassiker und Weltliteratur, das "Stockholmer Nobelpreis-Roulette" (nochmals Henscheid) wäre über ihn hinweggegangen, und es gäbe heuer bloß ein paar gesetzte, wenngleich kundige Nekrologe auf einen achtbaren Autor, der er ja, sofern er nicht zu "mahnen" anfing, durchaus zuweilen war. Die Tatsache, dass er "ein wunderbarer Demokrat" gewesen sei, wie der unvermeidliche Herib. Prantl ihm hinterherposaunte (aber ist das denn kein Pleonasmus, Gevatter?), stellt den so bestürzend genrefern Befaselten jedenfalls gerade nicht neben den Weltweisen aus Weimar. Wenig ist egaler als die politischen Überzeugungen eines Künstlers, und entsprechend dämlich fallen sie ja meistens aus. Sobald sie aber sein Werk berühren, wird es minderwertig.

Doch halten wir die nunmehr offizielle Version fest: Das 20. Jahrhundert war literarisch das von Günter Grass, und er wird neben Goethe stehen. Was die Aussage der sogenannten Kulturstaatsministerin angeht: Ich habe die nicht gewählt, ich habe nie eine(n) von denen gewählt und fühle mich also schuldlos, wenngleich durchaus angewidert, in einem Land zu leben, wo dergleichen exorbitante Dümmlichkeiten aus offiziellem Munde allzeit möglich und zu gewärtigen sind. In einem Kulturstaat wäre dergleichen undenkbar. Dort gäbe es aber auch kein angeblich für Kultur zuständiges Ministerium.  Klonovsky am 14. April 2015

Aber in Deutschland fehlen fast völlig Schriftsteller wie Mario Tobino! Doch, einen gibt es: Johannes Bobrowski. Tobino und Bobrowski, das sind meine Favoriten.

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