Stationen

Montag, 27. Juli 2015

Der romantische Dünger


»Das Genaue ist das Falsche. Es läßt den Hof, den Nimbus nicht zu. Unsere Lebenssphäre ist das Vage, das Ungefähre« (Botho Strauß). — Es gibt in der Sphäre der Politik – also dort, wo es um den Bau und den Erhalt der politischen Ordnung geht – drei unverzichtbare Kategorien für jeden Rechten:
das Volk (die ethnisch-kulturelle, nicht starre, aber erkennbar abgegrenzte Schicksalsgemeinschaft), die Nation (diese Willensbekundung des Volkes zur Souveränität) und die Große Erzählung (den Bericht über die Tage und Taten des »Wir«, das aus dieser Erzählung Kraft schöpft).
Leider steht es – um es mit einem Rest an Hoffnung auszudrücken – in Deutschland mit diesen drei Größen nicht zum Besten. Das Volk schrumpft, die Verluste werden durch Zuwanderer ausgeglichen, ein quantitativer Austausch, bei dem die Qualität (das heißt: die Unverwechselbarkeit, die aus der Verwurzelung rührt) keine Rolle mehr spielt. Man muß ja auch zugeben: Ob der weltläufige Konsument als Spanier in München, als Türke in New York oder als Deutscher in London jobben und shoppen geht, ist letztlich egal. Dem Volk wird dadurch doppelt zugesetzt, beides raubt ihm seine Eigentümlichkeit – unumkehrbar wahrscheinlich.
Zur Nation ist zu sagen, daß sie ihre Souveränität nach 1945 nie mehr zurückerhalten und allein in den vergangenen zwanzig Jahren so viele Kernkompetenzen an supranationale Institutionen abgegeben hat, daß alles politische Handeln wirkt, als klebe man Tapeten über schimmlige Wände.
Von der Großen Erzählung schließlich ist die Ausleuchtung der großen Sauereien geblieben. Natürlich kann man Christopher Clarks Bericht über den somnambulen Taumel in den Ersten Weltkrieg für einen ersten Schritt auf dem Weg der Rückeroberung verlorener Deutungsmacht halten, indes: Während wir auf diesen klitzekleinen Historikerstreit hoffen, speist die Deutsche Filmförderung achteinhalb Millionen Euro in die Hollywood-Schmonzette Monuments Men ein, weil George Clooney in Merseburg und Babelsberg dreht. Er behauptet in seinem Film, daß es die Amerikaner gewesen seien, die inmitten der kleinen Unordnung des alliierten Vormarsches das kulturelle Erbe der Menschheit vor der Zerstörung bewahrten. Gedreht hat dieser grinsende Blender beispielsweise auch in Halberstadt, diesem kriegsunwichtigen Städtchen, das am 8. April 1945 innerhalb von zwanzig Minuten durch Bomben vollkommen zerstört wurde. Drei Tage später marschierten die Amerikaner in das ein, was ihre Luftwaffe übriggelassen hatte, und vermutlich zog irgendein Clooney schon damals aus den Trümmern ein Gemälde mit angekohltem Rahmen, um es für die Menschheit aufzubewahren.
»Für uns also heißt es: überaus aufmerksam untergehen«, schreibt Botho Strauß. Mit »uns« kann er nur uns meinen.
Die Neue Rechte wird seit Alain de Benoists Programm einer Kulturrevolution von rechts mit Antonio Gramscis Strategie der Eroberung der kulturellen Hegemonie in Verbindung gebracht: Wer Begriffe definiere, Debatten führe und gewinne, Slogans durchsetze und die Kultur weltanschaulich kanonisiere, werde zu einem Machtfaktor, den die Politik auf Dauer nicht ignorieren könne. Wir haben diesen Ansatz in der Sezession nicht nur etliche Male durchdekliniert – die Sezession selbst ist eine Strecke auf diesem Weg. Dabei gab und gibt es stets drei Sphären: den Einzelnen, die Politik und das Ganze.
Der Einzelne zielt auf die Verwirklichung des ihm Angemessenen und hinterläßt dabei eine Spur. Dieser Anspruch der ersten Sphäre ist in seinem Wechselspiel aus Freiheit und Bindung eines der großen, konservativen Themen – er wirft die Frage nach innen- und außengeleitetem Handeln, nach Dienst und Einpassung, Widerstand und Ego non auf; Es geht also um ein grundsätzliches Zurechtkommen, um das eigene Schicksal, um das »Eigentum« in einem weit über den Besitz hinausweisenden Sinn. Diese erste Sphäre ist total, sie ist existentiell und spielt für die Frage nach der Strategie Gramscis insofern eine Rolle, als aus ihr heraus ein Gutteil jener Persönlichkeit geformt, gestärkt und entlassen wird, die ausgreifen und Wirkung entfalten möchte.


Ort dieses Wirkens ist zum einen der politische Raum. Diese zweite Sphäre ist von der Arbeit am Machbaren geprägt, und es gibt auf Dauer nur eine Möglichkeit, in dieser Sphäre zu verweilen: indem man sich von den Gegebenheiten, den Wirkungsgesetzen und den Machbarkeitshinweisen der Politik zum Politiker erziehen läßt, von der Anmaßung also zum Angemessenen findet und weder das Ich, noch das Ganze gegen Ausgleich und Kompromiß setzt. Bleibt es beim Ich, wird man zum Narren, soll es das Ganze sein, endet es im Chaos oder in der Katastrophe.
Dieses »Ganze« nämlich – getragen nicht vom kompromißbereiten, sondern vom anmaßenden »Ich« – ist die dritte Sphäre: der Ort des großen Entwurfs, der Kunst, des Traums, der Rücksichtslosigkeit, der Lebenssteigerung, des Rausches, der Kompromißlosigkeit, des großen Moments, der irrationalen Vitalität, und nicht nur jene, die bruchlos von Luther über Nietzsche zu Hitler durcherzählen, sehen in der Übertragung der Innerlichkeit, der Gralssehnsucht und der Tiefe auf die Politik den Sündenfall des deutschen Geistes an sich.
Carl Schmitts Arbeit über die Politische Romantik ist das Dokument einer theoretisch geglückten Selbstheilung. Schmitt selbst schwankte als junger Mann zwischen seiner Neigung zur Germanistik und seiner Einsicht in die Notwendigkeit einer Karriere als Staatsrechtler. Mit der 1919 erschienenen Politischen Romantik war die Entscheidung gefallen: Schmitt beschrieb den Typus des Romantikers dergestalt, daß er ihn selbst nicht mehr verkörpern wollte und konnte. Er nahm ihm zunächst die deutsche Exklusivität: Zwar habe sich das Romantische (also eine bestimmte, an der historischen Romantik ausgerichtete Art des geistigen Zugriffs) in Deutschland auf besondere Weise manifestiert und behauptet, sei aber insgesamt das Ergebnis einer beinahe notwendigen Entwicklung der modernen Psyche: Der Romantiker glaube im Gefolge Rousseaus und Herders daran, daß die aus Vernunft und Aufklärung rührende Entfernung des Menschen von seiner »Natur« ein Vorgang der Verarmung sei und daß der ungeordneten, un-vernünftigen, natürlichen Begabung des Menschen Vitalkräfte innewohnten, die es zu befreien und zu feiern gelte.
Der Mensch rückt damit ins Zentrum der Schöpfung, aber nicht mehr in christlicher Demut: Er wird selbst zum Schöpfer. So verstanden, ist Romantik nach Schmitt »subjektiver Occasionalismus, d.h. im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romantischen Produktivität.« Von dieser Position aus versetzte der Staatsrechtler Schmitt dem Romantiker mit politischen Ambitionen den Todesstoß: Aus seiner expressiven Schöpfergeste heraus bleibt der Romantiker blind für die Realität und das Unabwendbare, dem er einen anmaßenden, eben »occasionellen«, selbstgefälligen Entwurf entgegenstellt – eine Utopie, die er meist als einziger Bewohner besiedelt, und darüber hinaus nur im Geiste! Denn im konkreten Leben greift selbst der romantischste Romantiker auf jene Ordnungsleistungen zurück, die von den weniger inspirierten, weniger trunkenen Bürgern aufgerichtet worden sind. »Keine Gesellschaft kann eine Ordnung finden ohne einen Begriff von dem, was normal und dem, was Recht ist. Das Normale ist seinem Begriff nach unromantisch, weil jede Norm die occasionelle Ungebundenheit des Romantischen zerstört« (Schmitt). Anders ausgedrückt: Auch Ein-Mann-Kasernen hängen an der öffentlichen Stromversorgung.
Capisco et obmutesco, dachte Schmitt vermutlich, als er sein Manuskript abgeschlossen hatte, »ich begreife und verstumme«. 1933 blitzte seine unterdrückte Sehnsucht nach dem Großen, Ganzen, Vitalen noch einmal auf, obwohl er die Katastrophe ahnte. Die Frage nach der Wirkmächtigkeit Politischer Romantik erhält aus den zwölf Jahren folgende Antwort: Nie wieder hat eine politische Okkasion auch nur annähernd so elektrisierend und erschütternd, entfesselnd und produktiv, katastrophal und verheerend gewirkt wie diese kurze Zeitspanne. Das Dröhnen dieser deutschen Götterdämmerung hallt bis heute nach, neben den Nibelungenzug ist der Vormarsch der Wehrmacht, neben Etzels Saal ist Stalingrad getreten. Von solchen Orten findet seit jeher niemand zurück, und mit dem Hinweis auf sie läßt sich untermauern, daß sich die Politik auf das Prinzip der Verhinderung von Schmerzen, Leid und Grausamkeit gründen müsse.
»Die Spannung zwischen dem Romantischen und dem Politischen ist die Spannung zwischen dem Vorstellbaren und Lebbaren. Der Versuch, diese Spannung in eine widerspruchsfreie Einheit zu überführen, kann zur Verarmung oder zur Verwüstung des Lebens führen. Das Leben verarmt, wenn man sich nichts mehr vorzustellen wagt über das hinaus, was man auch leben zu können glaubt. Und das Leben wird verwüstet, wenn man um jeden Preis, auch den der Zerstörung und Selbstzerstörung, etwas leben will, bloß weil man es sich vorgestellt hat. Wenn wir die Vernunft der Politik und die Leidenschaft der Romantik nicht als zwei Sphären begreifen und als solche zu trennen wissen, wenn wir statt dessen die bruchlose Einheit wünschen und uns nicht darauf verstehen, in mindestens zwei Welten zu leben, dann besteht die Gefahr, daß wir in der Politik ein Abenteuer suchen.« (Rüdiger Safranski)

Hier ist das alles also wieder klar voneinander geschieden und doch väterlich vermittelt: die Politik von der Kunst, das Mögliche vom Ganzen, die soziale Frage von der Schönheit, und nicht schwer ist es, zu erkennen, worauf das hinausläuft: Der panische Schrecken, den die Kunst verbreiten kann, wird ersetzt durch eine Art romantischen Dünger. Das Leben soll schon seine paar Erregungs- und Verzückungsspitzen haben, am besten aber nur Samstags zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr dreißig. Derlei Sphärentrennung ist vergleichbar mit dem Eifer, Museen zu bauen und um jeden etwas älteren Stein einen Zaun zu ziehen.
Alles ist behandelt, beschrieben und abgelegt, man weiß viel, eigentlich alles, aber nichts zündet mehr. Der bloßen Verwaltung des Lebens wird durch einen vom Ernst abgetrennten, inneren Erlebnispark vorgebeugt. An die Stelle der Temperaturerhöhung tritt das folgenlose »Interesse«, tritt das, was Nietzsche das »Schweißtuch des Bürgers« genannt hat: geordnete Erregung, weit entfernt von dem, was der Torso Apolls zu bewirken vermochte und vermag – »Du mußt dein Leben ändern!«
Anscheinend verweigern sich nur Unbelehrbare einem neuen Trend: Neuer Realismus ist sein Name, die AfD verkörpert ihn, die Junge Freiheit verbreitet ihn, Vordenker beschreiben seinen spröden Charme und die ihm innewohnende Hinwendung zu Lagefeststellungen, Machbarkeitsüberlegungen und politischer Bescheidenheit. Die Fragen lauten: Wo können wir anknüpfen, welche Kröten müssen wir schlucken? Implizit bedeutet das: Wer jetzt noch mehr als das will, was möglich geworden ist, kann nicht mehr für politikfähig gelten. Denn die Sphäre der Politik, aus der bisher jeder Ansatz von rechts hinausgeprügelt wurde, scheint offen zu sein für diese Mixtur aus liberalem Konservatismus, Überdehnungswarnung und kommunitaristischer Disziplin. Nicht wenige Konservative und Rechte sehen die Chance, politisch zu Wirkung, Einfluß, sogar zu Macht zu gelangen, und es ist der Vorgang an sich, der sie dazu bringt, plötzlich auf diesen Minimalkonsens zu pochen. Endlich dabei!
Vor diesem Hintergrund und dieser Dynamik gilt es, eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen: Sind die direkte und die metapolitische Einflußnahme auf die zweite Sphäre von solcher Bedeutung, daß sie ab sofort die Richtschnur rechten Denkens, Publizierens und Handelns sein sollten und alles, was auf die Politik ausgerichtet ist, einer Art Parteidisziplin unterwerfen dürfen? Ist die Anmaßung – diese Maximalforderung des Ichs oder des Ganzen – tatsächlich das Schlimmste, was man jetzt, gerade jetzt hineintragen könnte in den ein ganz klein wenig aufbrechenden, durch und durch liberalen, abgesicherten, auf die Mitte hin orientierten Konservatismus?
Wer zu viele Kröten schluckt, kann nichts Großes mehr erzählen, und vor allem opfert er der Struktur das Notwendige. Anzuknüpfen heißt nämlich, auch in Zukunft auf dieses Geflecht Rücksicht nehmen zu müssen. Dies ist also eine grundsätzliche Entscheidung: für oder gegen die Sezession. Denn nur losgelöst von engen Bindungen in die zweite Sphäre gelingt es, der Großen Erzählung den taktierenden Ton zu nehmen und das Mobilisierende, Magnetische, Elektrisierende gegen den Realismus (sei er alt, sei er neu, sei er vernünftig) zu stellen, nach einem uralten poetischen Gesetz: Zwar war es nie so, wie es erzählt wird, aber es wirkt immer! »Der Reaktionär«, schreibt Botho Strauß, »ist Phantast, Erfinder (der Konservative dagegen eher Krämer des angeblich Bewährten). Gerade weil nichts so ist, wie er’s sieht, noch gar nach seinem Sinn sich entwickelt, steigert er die fiktive Kraft seiner Anschauung und verteilt die nachhaltigsten Güter. Oder die lange anhaltenden. Oder die im Erhalten sich erneuernden.«
Es ist ein wenig müßig, immer wieder auf die Bilanz der Politik der letzten Jahrzehnte hinzuweisen. Dieser schleichenden Katastrophe, dieser Auflösung aller Dinge fehlt das Alarmierende. Man kann ganz gut leben, wenn man über gar keinen oder einen sehr geordneten Kopf verfügt, wenn einem also die Verödung des Lebens gar nicht oder nur aus der Distanz zusetzt. Zivilisation? Für Arnold Gehlen ist das nichts anderes als die »Katastrophe im Zustand ihrer Lebbarkeit«. Das von Max Weber beschriebene »stählerne Gehäuse« aus Institutionen, Bedürfnisbefriedigung und Verwaltungsnotwendigkeit, in das sich der einzelne Mensch innerhalb der Massengesellschaft gezwängt sieht, garantiert diese Lebbarkeit und schnürt natürlich auch den Politiker in ein Korsett: Er wird zum anti-erhabenen Typ – wenn er es nicht schon immer war – und kann keine Alternative mehr formulieren.
Dies könnte nur dem gelingen, der Maßstäbe aus einer Sphäre mitbrächte, in der die Politik keine Rolle spielt: Glaube, Dichtung, Anderland. Er hätte ein ganz anderes Bild dabei, eine Große Erzählung, und vor allem wäre er von furchterregender, angemessen rücksichtsloser Entschlossenheit. Der Einzelne und sein inneres, sein poetisches Reich – wer wirklich schöpferisch und restaurativ zugleich wirken will, muß dort gewohnt haben. Hat der ein oder andere Realist vielleicht die Geburt des Täters Claus Graf Schenk von Stauffenberg aus dem George-Kreis (mithin im Geheimen Deutschland) übersehen? Keimte nicht gerade in diesem glänzenden Offizier etwas, das zur rechten Zeit reifen konnte? Mehr von diesem Dünger!

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