Stationen

Freitag, 29. Januar 2016

Die wehrhafte Wut des Winkelzahnmolchs

Marc Jongen ist eine Amphibie, so nennt er sich. Man könnte an einen Frosch denken oder an den Sibirischen Winkelzahnmolch, dem es als einzigem Schwanzlurch gelingt, nördlich des 66. Breitengrades zu überleben. Jongen aber meint, dass er wie eine Amphibie in zwei Welten unterwegs ist. Während die Amphibie zwischen Wasser und Land wechselt, lebt Jongen „halb im politischen System, halb im akademisch-philosophischen“. Das erklärt sich aus seinen Funktionen.

Er arbeitet als Philosophiedozent an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, dort war er Assistent von Peter Sloterdijk. Außerdem ist er stellvertretender Landesvorsitzender der AfD in Baden-Württemberg, erster Nachrücker der AfD für das Europaparlament sowie Mitglied der Bundesprogrammkommission seiner Partei. Marc Jongen schreibt also am Parteiprogramm der AfD mit. Vor allem aber hat der 47 Jahre alte Politiker eine Funktion, für die es in der Partei keine Visitenkarte gibt: Jongen ist der Parteiphilosoph. Er arbeitet an einem Buch, einer philosophischen Grundlegung zur AfD. Er nennt das unfertige Werk ein „Manifest“.

Jongen ist bereit, vor der Veröffentlichung über die Inhalte seiner Theorie zu sprechen. Das Gespräch findet im Foyer des Karlsruher Zentrums für Kunst- und Medientechnologie statt. Jongens Universitätsbüro liegt nur wenige Schritte entfernt. Dass er sich nicht dort treffen will, hat einen Grund. Seine politischen Aktivitäten sind an der Hochschule umstritten.

Es gibt Studenten und Professoren, die Maßnahmen gegen ihn fordern, und einen Universitätsrektor, der alle Beteiligten auf die Existenz der Meinungsfreiheit hinweist. Jongen musste versprechen, seine Arbeit an der Hochschule und seine Parteiarbeit nicht miteinander zu vermischen – und keine Interviews an der Universität zu geben.
Das sind die Hindernisse im Lebensraum Jongens. Seine amphibische Existenz hat aber auch Vorzüge. Wenn er in Karlsruhe in intellektueller Manier über seine Philosophie spricht, steht er nicht im Verdacht, etwas mit den Auswüchsen seiner Partei zu tun zu haben. Jongen redet über Nietzsche, AfD-Anhänger schimpfen über kriminelle Muslime. Jongen redet über Soziokybernetik, AfD-Anhänger prophezeien den Staatszerfall. Jongen spricht leise, AfD-Aktivisten grölen Parolen, etwa bei einer Demonstration in Magdeburg im Oktober. Hier das Land, dort das Wasser. Und vielleicht muss man, während Jongen seine Trockenübungen betreibt, immer auch einen Blick auf die stürmischen Gewässer werfen, in die sich die AfD begeben hat.

Jongen hat nichts gegen die Rauheit der AfD-Anhänger gerade im Osten Deutschlands, im Gegenteil. Er würde sich wünschen, dass es insgesamt rauher, aufgepeitschter zuginge. Denn die Bundesrepublik, da ist Jongen sicher, leidet an einer „thymotischen Unterversorgung“, einer Armut an Zorn und Wut. Thymos ist ein altgriechisches Wort, das in seiner Bedeutung zwischen Mut, Zorn und Empörung schwankt. Der Begriff spielt in Jongens Ausführungen über die Philosophie der AfD eine zentrale Rolle. Er nennt den Thymos eine der drei „Seelenfakultäten“ neben Logos und Eros, der Vernunft und der Lust.


In Europa, wo vor allem die Vernunft in Politik und Philosophie Ansehen genießt, sei der Thymos zu Unrecht in Verruf geraten, meint Jongen. Weil es Deutschland an Zorn und Wut fehle, mangele es unserer Kultur auch an Wehrhaftigkeit gegenüber anderen Kulturen und Ideologien, etwa dem Islamismus, der eine „hochgepushte thymotische Bewegung“ sei. Die AfD unterscheide sich durch ihren positiven Bezug zum Thymos von allen anderen politischen Parteien. Einzig die AfD lege „Wert darauf, die Thymos-Spannung in unserer Gesellschaft wieder zu heben“, sagt Jongen.

Vom Logos-zentrierten System der sogenannten Altparteien wollen auch die AfD-Anhänger wegkommen, die sich Ende Oktober zu einem Marsch durch Magdeburg versammelten. 2000 Bürger, von denen etliche in schwarzen Bomberjacken erschienen waren, setzten dort in politische Praxis um, was Jongen im philosophischen Seminar vordenkt. Der Thymos des deutschen Volkes war dort zu hören. Zunächst recht milde mit „Merkel muss weg, Merkel muss weg!“-Sprechchören. Dann aus voller Kehle mit der Parole: „Lügenpresse, Lügenpresse!“ Auf einem Plakat hieß es: „Die Asylanten werden verwöhnt. Das Volk wird verpönt.“ Die Erregungskurve des angeblich kleingehaltenen deutschen Volkes, insofern es sich in Magdeburg versammelt hatte, zeigt steil nach oben. „Wie krank im Geschlecht und im Geiste, wie unnatürlich ist diese rot-grüne Gefolgschaft“, rief Sachsen-Anhalts AfD-Spitzenkandidat André Poggenburg. Die Menge rief: „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen!“
Mit diesem letzten Sprechchor, da will Jongen nicht widersprechen, haben die AfD-Anhänger ein wenig übertrieben. Allerdings hält er einen gewissen Überschwang für normal. „Stolz und Wut sind in der AfD wichtige Emotionen“, sagt er. Auf Demonstrationen wie in Magdeburg würden sich diese „Energien in etwas unreiner Form“ äußern. Das sei aber „ganz natürlich“ – „es liegt dann eben in der Verantwortung der AfD-Politiker, diese Dinge nicht weiter aufzuwiegeln“.

In Magdeburg stand auch Björn Höcke am Mikrofon, der thüringische Landesvorsitzende der AfD. „Ich stehe hier und atme Geschichte“, verkündete er und blickte auf zu den Türmen des Magdeburger Domes, wo Kaiser Otto der Große begraben liegt. Höcke beschwor den Geist des alten Herrschers im Sound historischer Unmittelbarkeit. „Otto – ich grüße dich!“ Denn Otto, erklärte Höcke, habe auf dem Lechfeld mit Kriegern „aus allen deutschen Stämmen“ die Eindringlinge aus dem Osten vernichtet. 1000 Jahre liege der alte Kaiser im Dom begraben, dozierte Höcke. Eine Zahl, mit der er sich stark beschäftigt. „Ich will, dass Magdeburg und Deutschland nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit haben“, rief er. „Ich will, dass sie auch eine tausendjährige Zukunft haben! Und ich weiß: Ihr wollt es auch!“

Jongen hält die oft geäußerte Empörung über Höcke für ein Missverständnis. „Es ist die Romantisierung, hinter der man den Übermut vermutet, denn diese Sprache erinnert an übermütige Zeiten“, sagt Jongen. Er meint jedoch nicht, dass der nationale Übermut in Deutschland – und generell in Europa – wieder eine reale Gefahr werden könnte. „Viel eher gehen wir an Missmut und Kleinmut zugrunde. Von daher verlieren auch Höckes Aussagen, in eine andere, modernere Sprache übersetzt, sehr rasch ihren Gruselfaktor.“

Eine scharfe Trennlinie zwischen sich und dem extremen Flügel der AfD um Höcke zieht der Parteiphilosoph nicht. „Ich bin kein Gegner von Höcke.“ Dass es Schnittmengen zwischen beiden gibt, leugnet er nicht – „deshalb sind wir ja auch in derselben Partei“. Jongen widerspricht auch nicht Höckes jüngst geäußerten Ansichten über das Fortpflanzungsverhalten von Afrikanern. Er würde den Sachverhalt allerdings sozioökonomisch erklären und nicht mit einer „biologistischen Theorie“, erläutert er.

Nach Jongens Auffassung weisen auch die vom Höcke-Lager organisierten Demonstrationen wie in Magdeburg in die richtige Richtung. Sie seien ein Mittel gegen die Thymos-Schwäche der Deutschen. „Die Japaner haben einen noch niedrigeren thymotischen Level. Aber die können sich den auch leisten.“ Die Deutschen hingegen, die sich vielen Einwanderern gegenübersähen, könnten sich das nicht erlauben. „Weil es uns wehrlos macht gegenüber robusteren Naturellen“, den Einwanderern zum Beispiel. Das zentrale Ziel der „Psychopolitik“ der AfD müsse es deshalb sein, den deutschen Thymos wieder hochzuregulieren.

Was aber, wenn eine Steigerung des Thymos die Grundordnung der Gesellschaft bedroht? „Damit ist eine Gefahr angesprochen, das leugne ich überhaupt nicht“, sagt Jongen. „Diese Gefahr muss man aber auf sich nehmen, wenn man der existentiellen Großgefahr eines Verschwindens der deutschen Kultur begegnen will. Dann muss man mit diesen Dingen umgehen und leben.“ Die Deutschen sollen also ihre Kultur dadurch verteidigen, dass sie ihre eigentlich sehr deutsche Mäßigung aufgeben. Um sich gegen die laut Jongen „thymotisierten“ Islamisten zur Wehr zu setzen, müssten sie ihnen ähnlicher werden.

Nicht widersprechen will Jongen auch den apokalyptischen Prophezeiungen von Björn Höcke. Bei der Kundgebung in Magdeburg hatte dieser das Jahr 2016 zum „Jahr der Entscheidung“ ausgerufen. „Wenn wir diese Entwicklung nicht stoppen, prognostiziere ich einen Bürgerkrieg.“ Denn wie die meisten anderen AfD-Politiker sieht Höcke die Gegenwart hauptsächlich durch Krisen bestimmt: Flüchtlingskrise, Währungskrise, Ukraine-Krise und Terrorgefahr kulminieren bei ihm in eine Insgesamt-Krise, die nach einer scharfen politischen Zäsur ruft. Ziel der AfD sei es, erklärte Höcke im Gespräch mit dieser Zeitung einmal, in das durch die „schwere Staatskrise“ herbeigeführte „Vakuum“ einzudringen.

Man könnte dagegen natürlich einwenden, dass es den meisten Deutschen trotz aller Krisen niemals in ihrer Geschichte so gut ging wie heute. Marc Jongen weist dieses Argument zurück. „Nie ging es so gut wie heute, sagten auch die Gänse vor Weihnachten.“ Die AfD interpretiere die Gegenwart „fundamental anders“ als alle anderen Parteien. Diese „Altparteien“ vertreten nach Jongen eine „linear-modernistische“ Auffassung der Geschichte. In der AfD hingegen könnte auch eine Rückkehr zu früheren Zeiten als erstrebenswert gelten. Man könnte diese Haltung als reaktionär bezeichnen, weil ein Konservativer, der Deutschland, wie es ist, bewahren will, auch die Europäische Union, den Euro und den Schengen-Raum bewahren müsste.

Schimmert bei Jongen also eine Fundamentalkritik an der Moderne durch? Der Philosoph bezieht sich jedenfalls vorwiegend auf Denker, die in diesem Ruf stehen: Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler, Martin Heidegger und einen Vordenker der „konservativen Revolution“ wie Carl Schmitt, der zunächst von seinem Schreibtisch aus die Weimarer Republik zu sabotieren suchte und dann nach der Machtergreifung ebenso wie Heidegger dienstfertig dem Nationalsozialismus zuarbeitete. Gemeinsam ist diesen Denkern, dass sie von der Vernunft und republikanischer Mäßigung wenig hielten, sondern mehr von scharfen historischen Brüchen. Sie operierten vorwiegend in geistigen Gefilden abseits der Vernunft, in Ausnahmezuständen und Seinsordnungen, Freund-Feind-Schemata und dionysischen Rauschzuständen.

Jongen bezieht sich also vor allem auf Denker, die Professoren sind an der „Seelenfakultät“ des Thymos, nicht des Logos. Und der philosophische Irrationalismus prägte auch ihr politisches Denken. Auf sich selbst will Jongen den Begriff des Irrationalismus jedoch nicht angewendet sehen. Er hält ihn für ein Schimpfwort. Warum? „Weil es Nazi ist“, sagt Jongen. Aber wie soll man sonst eine politische Philosophie bezeichnen, in deren Zentrum der Thymos steht? „In einem wertneutralen Sinn kann ich mir den Begriff des Irrationalismus zu eigen machen, ich würde mich aber selbst nicht so bezeichnen wollen.“
Häufiger noch als der Name Nietzsche fällt in der Diskussion mit Jongen allerdings der Name jenes Denkers, der bis vor kurzem sein Chef war. Peter Sloterdijk war auch derjenige, der in Deutschland den Thymos wieder in die philosophische Debatte geworfen hat. Im vergangenen Jahr schrieb er in seinem Aufsatz „Letzte Ausfahrt Empörung“: „Mit einem Mal steht er wieder auf der Bühne – der thymotische Citoyen, der selbstbewußte, informierte, mitdenkende und mitentscheidungswillige Bürger, männlich und weiblich, und klagt vor dem Gericht der öffentlichen Meinung gegen die mißlungene Repräsentation seiner Anliegen und seiner Erkenntnisse im aktuellen politischen System.
Er ist wieder da, der Bürger, der empörungsfähig blieb, weil er trotz aller Versuche, ihn zum Libido-Bündel abzurichten, seinen Sinn für Selbstbehauptung bewahrt hat, und der diese Qualitäten manifestiert, indem er seine Dissidenz auf öffentliche Plätze trägt.“ Heißt der wahre Philosoph der AfD am Ende also gar nicht Marc Jongen, sondern Peter Sloterdijk?
Diesen Gedanken weist Sloterdijk mit Vehemenz zurück. „Mit dem AfD-Ideen-Müll habe ich nichts zu tun“, lässt er auf Anfrage wissen. Sloterdijk grenzt sich scharf auch von Jongen ab, der bis zum Sommer sein Assistent war und sich auf einem Kongress schon mal als „Apostel“ Sloterdijks vorstellt. Um das Verhältnis der beiden scheint es, zumindest aus der Sicht Sloterdijks, nicht zum Besten zu stehen. Von Jongens Buchprojekt zu einer Philosophie der AfD wisse er nichts, schreibt Sloterdijk. „Ich sähe es lieber, er führte seine seit langem überfällige Habilitationsschrift zu Ende.“

Hilfe von seinem akademischen Lehrer, aus dem „AfD-Ideen-Müll“ eine „Philosophie der AfD“ zu formen, braucht Jongen also nicht zu erwarten.

Die Methode, um dennoch an sein Ziel zu gelangen, nennt Jongen „Avantgarde-Konservativismus“. Damit sei mehr gemeint als „Laptop und Lederhose“. „Das geht schon wesentlich tiefer.“ Ziel sei eine „neodarwinistische Kulturtheorie“, die nicht auf eine Abschaffung von Traditionen, sondern auf deren Beibehaltung hinwirkt. Sie bediene sich dabei allerdings der „avanciertesten Denktechniken“, um dann mit ihnen „gegen die Moderne zu denken“. Die traditionellen Geschlechterrollen zum Beispiel will Jongen so gegen die Anfechtungen des Konstruktivismus abschirmen. Er erkennt zwar an, dass die Geschlechterrollen bis zu einem gewissen Grad tatsächlich kulturell konstruiert sind, wie von der Gender-Theorie behauptet wird.
Für Jongen folgt daraus im Praktischen aber nicht, für Transgender eigene Toiletten einzurichten oder in der Schule über sexuelle Identitäten zu sprechen.

Im Gegenteil. Jongen will – gerade weil der Konstruktivismus nicht nur Unrecht hat – die Geschlechterrollen stärker festschreiben, um sie vor der Bedrohung durch die Gender-Theorie zu schützen. Statt „Gender Mainstreaming“ fordert Jongen deshalb „Erziehung zur Männlichkeit“. Dieses Denken bezieht er nicht nur auf Geschlechterfragen. Der gesamte „kulturell-religiöse Überbau“ der Gesellschaft soll auf diese Weise geschützt werden. Die AfD soll die weitere Dekonstruktion von Familie, Volk und Kirche verhindern. Man müsse „pfleglich umgehen mit den notwendigen Illusionen“.

Ganz ungeschoren kommen also auch die Traditionen, die Jongen in seiner Philosophie der AfD zu Bastionen des Abendlandes ausbauen möchte, nicht davon. Die „avanciertesten Denktechniken“ des „Avantgarde-Konservativismus“ fordern auch ihnen einen Preis ab. Sie sollen zwar mit thymotischer Inbrunst hochgehalten werden, haben aber erkenntnistheoretisch nur noch den Status einer Illusion.
Doch wie pflegt man eine Tradition, wohl wissend, dass sie eine Illusion ist? Jongen weiß ein Beispiel. Einmal war er auf einem Landesparteitag der AfD in Baden-Württemberg. Die Teilnehmer hatten gerade eine Resolution gegen das „Gender Mainstreaming“ verabschiedet, da geschah es. Ganz spontan und aus „nationalem Überschwang“, wie Jongen sagt, begannen die Teilnehmer die deutsche Nationalhymne zu singen. Jongen denkt gerne an diesen Augenblick zurück. Der Gesang und seine Theorie, alles passt auf einmal zusammen. „Das“, sagt Jongen, „war ein thymotischer Moment.“ Marc Jongen

Im Übrigen findet sich Jongens Rezept schon bei Cicero. Der schrieb ein entlarvendes Buch über die Religion im Lichte eines Cato-Zitats ( "Vetus autem illud Catonis admodum scitum est, qui mirari se aiebat, quod non rideret haruspex, haruspicem cum vidisset." De divinatione II, 51) und empfahl dennoch die ehrwürdige, lieb und teure Gepflogenheit aus praktischen Gründen, um des leiebn Friedens Willen und um des lieben Logos, des Eros und des Thymos Willen beizubehalten. Der verklemmten postmodernistischen Verlegenheit, den durch dieselbe bewirkten zwanghaften Bespöttelungen und den daraus resultierenden lächerlichen, dekonstruktivistischen Ausuferungen zum Trotze und zum Verdruss!

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