Aber wie kam dieser Mythos in die Welt? 1914 hätte kaum ein Mensch den Begriff Kriegsschuld verstanden; er entstand erst durch die Millionen Opfer der Materialschlachten. Mit dem Vertrag von Versailles, den die Vertreter des Deutschen Reiches im Juni 1919 unter Protest unterzeichneten, zog er in die Politik ein. 1918 hatte das Kaiserreich in Brest-Litowsk Russland einen Frieden diktiert, der in puncto Gebietsabtretungen noch härter war, aber in Versailles geschah etwas Neues. Bislang verhielt es sich so, dass Staaten gegeneinander Krieg führten, Frieden schlossen und der Sieger dem Verlierer Land wegnahm. So war etwa Frankreich unter Ludwig XIV. in den Besitz von Elsass-Lothringen gekommen, dessen Verlust 1871 die französischen Revanchegelüste einleitete, die 1919 befriedigt wurden. Doch in Versailles verhandelten nicht mehr Staaten, sondern die Reinen verurteilten die Schurken. Das Reich und seine Verbündeten mussten zu allen Gebietsverlusten und Reparationen die alleinige Kriegsschuld auf sich nehmen, die deutschen Delegierten durften an den Verhandlungen nicht teilnehmen und wurden schriftlich über deren Resultate informiert, ihre Staatsordnung wurde als rückständig und aggressiv denunziert. In Deutschland erkannte von politisch rechts bis links niemand dieses Schulddiktat an.
Das
geschah erst nach dem Erscheinen von Fritz Fischers Buch „Griff nach
der Weltmacht“ anno 1961. Der Historiker lud darin dem Reich „den
entscheidenden Teil der historischen Verantwortung“ am Kriegsausbruch
auf. Später spitzte er zu, dass „im Juli 1914 ein Kriegswille einzig und
allein auf deutscher Seite bestand“. Fischers Bezichtigungseifer mochte
damit zu tun haben, dass er als ehemaliges SA- und NSDAP-Mitglied viel
gutzumachen hatte. Er durfte die bis dahin unter Verschluss der
Alliierten gehaltenen Akten des Auswärtigen Amtes und der Reichskanzlei
auswerten. Den Alliierten konnte dabei nur an der Bestätigung der
Alleinkriegsschuldthese gelegen sein; wenn die ins Wanken geriet, wurde
Versailles zu einer der Ursachen für den Zweiten Weltkrieg,
was wiederum die moralische Rechtfertigung der Nachkriegsordnung nach
1945 ramponiert hätte. Dass die „Encyclopedia of Historians and
Historical Writing“ (London 1999) Fischer zum wichtigsten deutschen
Historiker des 20. Jahrhunderts erhob, dürfte eine späte Danksagung der
Alliierten an ihren deutschen Helfer sein.
Fortan reklamierten immer mehr deutsche Wissenschaftler und Intellektuelle wenigstens die Hauptschuld am Kriegsausbruch für ihre Vorfahren. Kanzlerin Angela Merkel nahm am 11. November 2009 in Paris an den Feiern zum Jahrestag des Kriegsendes teil (ihre Amtsvorgänger hatten es noch als taktlos empfunden, des Sieges über das eigene Land zu gedenken) und sagte dort: „Wir werden nie vergessen, wie sehr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Franzosen durch Deutsche zu leiden hatten.“ Damit war die deutsche Schuld auch am Ersten Weltkrieg regierungsoffiziell.
Gewissermaßen gegen
seine Intentionen hat Fritz Fischer dargelegt, dass das Reich erst nach
Beginn des Krieges anfing, Kriegsziele zu formulieren. Diese Ziele
wurden immer kühner und grotesker, je deutlicher sich abzeichnete, dass
er für Deutschland nicht zu gewinnen war; Sebastian Haffner verglich
diese Rasereien auf der Landkarte mit „Schlemmerphantasien eines
Hungernden“.
Tatsächlich
dürfte Deutschland Frankreich angegriffen haben, um sich aus der
russisch-französischen Umklammerung zu befreien. Bis heute staunen
Geschichtsschüler darüber, dass ein russischösterreichischer
Interessenskonflikt auf dem Balkan mit einem deutschen Großangriff auf
Frankreich beantwortet wurde, aber die Tektonik der Bündnisse liefert
die Erklärung. Deutschlands Umzingelungsphobien besaßen handfeste
Ursachen. Die russischen
und französischen Armeen erreichten 1913/14 eine Gesamtstärke von
2.170.000 Mann, Deutsche und Österreicher nur 1.242.000 Mann, bilanziert
der britische Historiker Niall Ferguson. Im Kriegsfall verfügten die
Mittelmächte über ungefähr 3,45 Millionen Mann, Russland, Frankreich, Serbien und Belgien über 5,6 Millionen.
Das
russisch-französische Abkommen von 1891/92, „das aggressivste Bündnis
auf dem europäischen Kontinent“ (Clark), richtete sich seit der
Jahrhundertwende ausschließlich gegen das Kaiserreich. Henry Kissinger
bezeichnete es als „die Wasserscheide auf Europas Weg in den Krieg“.
Englands Entschluss wiederum, in den Krieg einzutreten, richtete sich Fritz Fischer zufolge „gegen die Macht, die das europäische Gleichgewicht zerstören wollte“. Gewiss, aber wie funktionierte dieses Gleichgewicht? Es bedeutete, dass auf dem Kontinent keine Führungsmacht existierte, sondern ein den Engländern genehmes Patt waltete, während außerhalb Europas England herrschte. Bismarck hatte das akzeptiert, und das Kaiserreich hätte gut daran getan, es ebenfalls zu schlucken. England betrachtete den wirtschaftlichen Riesen im Zentrum Europas als unliebsame Konkurrenz, und gemeinsam mit Frankreich haben die Briten zudem ihren überseeischen Kolonialraub gegen einen potenziellen neuen Räuber verteidigt; ihr Raub gewinnt dadurch nicht an Ehrwürdigkeit.
Das
alles ist Vergangenheit, spaltet aber den Kontinent bis heute. Die
anderen halten es einstweilen für angezeigt, das eigene Land eher zu
verteidigen als anzuschwärzen, nur bei den geschichtspolitischen
Strebern hierzulande gilt absonderlicherweise das Gegenteil. Jedenfalls
gibt es in der EU keine gemeinsame historische Erinnerung.
1992
nannte „Le Figaro“ den Maastricht-Vertrag „Versailles ohne Krieg“, und
dieses „Versailles“ wurde noch überboten durch den Europäischen
Stabilitätsmechanismus ESM. Wenn sich die Schuld an La Grande Guerre
nachträglich in Europa
gerechter verteilte, nähme die moralische Erpressbarkeit Deutschlands
ab und die Möglichkeit rationaler Interessenspolitik zu. Das wäre doch
eine gute Nachricht. Michael Klonovsky am 13. 1. 2014
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