Stationen

Dienstag, 16. Februar 2016

1914 - 1918 aktuell

Vier deutsche Historiker haben ein Manifest gegen die These von Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs veröffentlicht. Die Publizistin Cora Stephan sowie die Professoren Dominik Geppert, Sönke Neitzel und Thomas Weber wollen damit vor allem verhindern, dass die EU-Politik mit historischen Schuldzuschreibungen vermengt wird. Obwohl nicht ausgesprochen, schwingt in der Erklärung der Zusammenhang zwischen deutscher Schuld und deutscher Schuldenmacherei mit. Die Autoren verweisen auf Werke ihrer Zunftkollegen, die sich mit der Verantwortung der anderen Mächte befassen und den deutschen Alleinschuldmythos längst widerlegt haben, zuletzt Christopher Clark mit seinem Bestseller „Die Schlafwandler“.

Aber wie kam dieser Mythos in die Welt? 1914 hätte kaum ein Mensch den Begriff Kriegsschuld verstanden; er entstand erst durch die Millionen Opfer der Materialschlachten. Mit dem Vertrag von Versailles, den die Vertreter des Deutschen Reiches im Juni 1919 unter Protest unterzeichneten, zog er in die Politik ein. 1918 hatte das Kaiserreich in Brest-Litowsk Russland einen Frieden diktiert, der in puncto Gebietsabtretungen noch härter war, aber in Versailles geschah etwas Neues. Bislang verhielt es sich so, dass Staaten gegeneinander Krieg führten, Frieden schlossen und der Sieger dem Verlierer Land wegnahm. So war etwa Frankreich unter Ludwig XIV. in den Besitz von Elsass-Lothringen gekommen, dessen Verlust 1871 die französischen Revanchegelüste einleitete, die 1919 befriedigt wurden. Doch in Versailles verhandelten nicht mehr Staaten, sondern die Reinen verurteilten die Schurken. Das Reich und seine Verbündeten mussten zu allen Gebietsverlusten und Reparationen die alleinige Kriegsschuld auf sich nehmen, die deutschen Delegierten durften an den Verhandlungen nicht teilnehmen und wurden schriftlich über deren Resultate informiert, ihre Staatsordnung wurde als rückständig und aggressiv denunziert. In Deutschland erkannte von politisch rechts bis links niemand dieses Schulddiktat an.


Das geschah erst nach dem Erscheinen von Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“ anno 1961. Der Historiker lud darin dem Reich „den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung“ am Kriegsausbruch auf. Später spitzte er zu, dass „im Juli 1914 ein Kriegswille einzig und allein auf deutscher Seite bestand“. Fischers Bezichtigungseifer mochte damit zu tun haben, dass er als ehemaliges SA- und NSDAP-Mitglied viel gutzumachen hatte. Er durfte die bis dahin unter Verschluss der Alliierten gehaltenen Akten des Auswärtigen Amtes und der Reichskanzlei auswerten. Den Alliierten konnte dabei nur an der Bestätigung der Alleinkriegsschuldthese gelegen sein; wenn die ins Wanken geriet, wurde Versailles zu einer der Ursachen für den Zweiten Weltkrieg, was wiederum die moralische Rechtfertigung der Nachkriegsordnung nach 1945 ramponiert hätte. Dass die „Encyclopedia of Historians and Historical Writing“ (London 1999) Fischer zum wichtigsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts erhob, dürfte eine späte Danksagung der Alliierten an ihren deutschen Helfer sein.

Fortan reklamierten immer mehr deutsche Wissenschaftler und Intellektuelle wenigstens die Hauptschuld am Kriegsausbruch für ihre Vorfahren. Kanzlerin Angela Merkel nahm am 11. November 2009 in Paris an den Feiern zum Jahrestag des Kriegsendes teil (ihre Amtsvorgänger hatten es noch als taktlos empfunden, des Sieges über das eigene Land zu gedenken) und sagte dort: „Wir werden nie vergessen, wie sehr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Franzosen durch Deutsche zu leiden hatten.“ Damit war die deutsche Schuld auch am Ersten Weltkrieg regierungsoffiziell.

Gewissermaßen gegen seine Intentionen hat Fritz Fischer dargelegt, dass das Reich erst nach Beginn des Krieges anfing, Kriegsziele zu formulieren. Diese Ziele wurden immer kühner und grotesker, je deutlicher sich abzeichnete, dass er für Deutschland nicht zu gewinnen war; Sebastian Haffner verglich diese Rasereien auf der Landkarte mit „Schlemmerphantasien eines Hungernden“.
Tatsächlich dürfte Deutschland Frankreich angegriffen haben, um sich aus der russisch-französischen Umklammerung zu befreien. Bis heute staunen Geschichtsschüler darüber, dass ein russischösterreichischer Interessenskonflikt auf dem Balkan mit einem deutschen Großangriff auf Frankreich beantwortet wurde, aber die Tektonik der Bündnisse liefert die Erklärung. Deutschlands Umzingelungsphobien besaßen handfeste Ursachen. Die russischen und französischen Armeen erreichten 1913/14 eine Gesamtstärke von 2.170.000 Mann, Deutsche und Österreicher nur 1.242.000 Mann, bilanziert der britische Historiker Niall Ferguson. Im Kriegsfall verfügten die Mittelmächte über ungefähr 3,45 Millionen Mann, Russland, Frankreich, Serbien und Belgien über 5,6 Millionen.

Das russisch-französische Abkommen von 1891/92, „das aggressivste Bündnis auf dem europäischen Kontinent“ (Clark), richtete sich seit der Jahrhundertwende ausschließlich gegen das Kaiserreich. Henry Kissinger bezeichnete es als „die Wasserscheide auf Europas Weg in den Krieg“.

Englands Entschluss wiederum, in den Krieg einzutreten, richtete sich Fritz Fischer zufolge „gegen die Macht, die das europäische Gleichgewicht zerstören wollte“. Gewiss, aber wie funktionierte dieses Gleichgewicht? Es bedeutete, dass auf dem Kontinent keine Führungsmacht existierte, sondern ein den Engländern genehmes Patt waltete, während außerhalb Europas England herrschte. Bismarck hatte das akzeptiert, und das Kaiserreich hätte gut daran getan, es ebenfalls zu schlucken. England betrachtete den wirtschaftlichen Riesen im Zentrum Europas als unliebsame Konkurrenz, und gemeinsam mit Frankreich haben die Briten zudem ihren überseeischen Kolonialraub gegen einen potenziellen neuen Räuber verteidigt; ihr Raub gewinnt dadurch nicht an Ehrwürdigkeit.

Das alles ist Vergangenheit, spaltet aber den Kontinent bis heute. Die anderen halten es einstweilen für angezeigt, das eigene Land eher zu verteidigen als anzuschwärzen, nur bei den geschichtspolitischen Strebern hierzulande gilt absonderlicherweise das Gegenteil. Jedenfalls gibt es in der EU keine gemeinsame historische Erinnerung.

1992 nannte „Le Figaro“ den Maastricht-Vertrag „Versailles ohne Krieg“, und dieses „Versailles“ wurde noch überboten durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM. Wenn sich die Schuld an La Grande Guerre nachträglich in Europa gerechter verteilte, nähme die moralische Erpressbarkeit Deutschlands ab und die Möglichkeit rationaler Interessenspolitik zu. Das wäre doch eine gute Nachricht. Michael Klonovsky am 13. 1. 2014

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