Stationen

Mittwoch, 16. März 2016

Freier Fall

16. März 2016

Gestern Abend befragte im Münchner Gasteig der einstige Oberbürgermeister Christian Ude den AfD-Mitgründer Konrad Adam zu den Wahlen im Allgemeinen und zu dessen Partei im Speziellen. Der Saal war voll, das Publikum zu ungefähr 70 Prozent neutral, 25 Prozent contra und 5 Prozent pro Adam. Der schlug sich achtbar, wenngleich er bei Fragen zu den Programmentwürfen seiner Partei ungefähr in die Situation eines Winzers geriet, der noch im Stadium der Hauptgärung detaillierte Auskünfte über Beschaffenheit, Geschmack und Lagerfähigkeit des aktuellen Jahrgangs erteilen soll. Ude als Frager stach schlau in Adams ungeschützte Stellen, erteilte aber zugleich eine Lektion in Libertas Bavariae, indem er auf jede Denunziation verzichtete. Dass er Adam bescheinigte, weit über dem Niveau seiner eigenen Partei zu argumentieren, war insofern geschenkt, als der Münchner verglichen mit Genossen wie Stegner oder Maas wie ein Muster an Freisinn und Gesprächskultur wirkte. Ein Hoch auf den Ruhestand!

Nachdem Adam die "Leitkultur" ins Gespräch einführte, mit positiver Konnotation (der Begriff stammt interessanterweise vom Schreiber dieser Zeilen, was diesem nicht bewusst war, weil er das Wort für ein gebräuchliches hielt; nachzulesen hier), stellte der Interviewer die in diesem Kontext unvermeidliche Frage, was es denn an Leitkultur mehr brauche als das Grundgesetz mit der unantastbaren Würde des Menschen als Prämisse und den darauf beruhenden Freiheitsrechten. Wir wissen heute, dass dieser unendlich edle Artikel 1 samt Artikel 16a 1 der Republik gewisse existentielle Probleme zu bereiten vermag, wenn man nicht in Rechnung stellt, dass eine Verfassung oder ein Grundgesetz nur innerhalb fester Grenzen gelten kann, doch das will ich diesmal nicht thematisieren. Vielmehr soll hier die Menschenwürde in einen Zusammenhang gebracht werden mit dem vielfach kritisierten und als sozusagen typisch Orban abgestempelten Programmentwurfspunkt der AfD, man wolle die deutsche Kultur besonders fördern. Konkret formuliert etwa die sachsen-anhaltinische AfD, die Bühnen "sollen stets auch klassische deutsche Stücke spielen und sie so inszenieren, dass sie zur Identifikation mit unserem Land anregen". Als Forderung ist dergleichen ein grotesker Eingriff in die Kunstfreiheit, was Adam auch prompt anmerkte, doch im Sinne der Udeschen Leitkultur Menschenwürde sei festgestellt, dass gerade auf deutschen Bühnen, vom Dschungelcamp und ähnlichen Prekariatsbelustigungen zu schweigen, unter den Kaspereien des sogenannten Regiethaters der würdige Mensch einen schweren Stand hat. Der Philosoph und Medientheoretiker Boris Groys, gewiss kein Rechtskonservativer, hat vor inzwischen zehn Jahren die eher noch aktueller gewordene Diagnose gestellt, man könne „die gesamte künstlerische Avantgarde ohne Weiteres als eine ständige Verunstaltung und Beschmutzung des würdigen Menschenbildes interpretieren“. Und in der kommerziellen Massenkultur sei der „programmatische, kalkulierte Verlust der menschlichen Würde“ längst zum „Hauptverfahren“ geworden. Die Wahl lautet also: Pest oder Cholera? Präziser: die Pest der Kunstfreiheitseinschränkung oder die Cholera subventierter Würdelosigkeit? Ich würde sagen, das vorletzte Wort weist einen Ausweg.

PS: Die finale Frage aus dem Publikum verschaffte Adam den perfekten Abgang. Eine junge Frau warf ihm vor, seine Partei argumentiere nicht, sondern verbreite und bewirtschafte nur Stimmungen. In der Tat, replizierte der AfDler, neben solchen differenzierten politischen Aussagen wie "Wir schaffen das" und "Unsere Politik ist alternativlos" werde sein Verein immer intellektuell blass bleiben.




Abendlicher 15. März 2016

Allen Ernstes ziehen die politischen Führer dieses Landes neuerlich einen EU-Beitritt der Türkei in Betracht, nachdem dieser Spuk exorziert schien. Die Bundesregierung boykottiert Putin und verhandelt mit Erdogan, das ist doppelmoralischer als Beck und Edathy mal siebenundsiebzig, außerdem nicht im deutschen Interesse, wenngleich man selbstredend nur dem Druck der Vereinigten Staaten willfährt, die Türkei als Nato-Vorposten gegen Russland und Drehkreuz in den Orient bei Laune zu halten (während die Europäer brav boykottieren, haben die Amerikaner pikanterweise ihren Handel mit Russland ausgebaut). Momentan stehen zwar nur Visa-Erleichterungen in Rede, doch dahinter reckt die alte Forderung nach Eintritt in den Klub ihr Haupt. Was sich die Türken wirtschaftlich davon versprechen, stehe dahin; politisch strotzt das Land vor jenem soliden Selbstbewusstsein, welches ihm eine prosperierende Bevölkerung gegenüber den demografisch erschlafften Restabendländern oder Abendlandresten verleiht. Erdogan will auf diesem Wege seine politischen Brückenköpfe im Westen weiter ausbauen und eine immer mehr wachsende türkische Pressure-Group im Westen etablieren. Für Deutschland bedeutete dies außerdem, dass sich der laut Beschluss des Bundesverfassungsgerichts längst balkanweit geltende Anspruch auf deutsche Sozialhilfe auf Anatolien ausweitete, womöglich mit der Folge, dass viele gebildete und gut ausgebildete deutsche Türken (oder türkische Deutsche) in ihre alte Heimat zurückkehren – ein Trend, der ja bereits zu beobachten ist –, und zwar vielleicht künftig deswegen, weil ihnen Deutschland zu muslimisch wird.

Das alles wird in die Wege geleitet, damit Erdogan als kleinasiatischer Kerberos die Flüchtlinge verbellt, wobei keineswegs sicher ist, dass er es tatsächlich tun wird. Man möchte beinahe hoffen, dass Donald Trump die US-Wahlen gewinnt und der Druck der USA in dieser Frage nachlässt (was ebenfalls nicht sicher wäre), denn Hillary Clinton hält sich bekanntlich für eine Außenpolitikerin und wird die bewährte Linie der parallelen Schwächung von Vasall, äh, Freund und Feind fortführen. In Wirklichkeit brauchen wir die Türkei in der Flüchtlings- bzw. Einwanderungskrise überhaupt nicht; wir haben ja das Mittelmeer als Grenze, es gibt Satelliten, die jede schwimmende Apfeltonne sehen können, was fehlt, ist eine vereinigte europäische Flotte, die das Meer abriegelt und jedes Boot dorthin zurückexpediert, wo es herkam. Zugleich müsste die UNO an der lybischen Küste eine Art Mandatsgebiet erlauben, welches von der EU errichtet, kontrolliert und finanziert wird und wo Afrikaner sowohl einen Antrag auf Asyl stellen als auch in halbwegs komfortablen Flüchtlingslagern unter dem Schutz europäischer Truppen längere Zeit leben könnten. Die Versorgung solcher Lager wäre immer noch um vieles billiger als die momentane Praxis, vom freundlicheren Klima ganz abgesehen. Ins Große gedacht könnten die Europäer dort sogar Städte gründen – Peter Gauweiler hat diesen Vorschlag vor kurzem in einer vielmissachteten Rede unterbreitet, gewissermaßen die Idee des Imperium Romanum als humanitäre wiederbelebend. Jedenfalls ist es Irrsinn, die Probleme Afrikas in Gestalt seiner unerschöpflichen Menschenmassen zu importieren.

PS: Leser *** weist darauf hin, dass die hier grob umrissene Behandlung des Flüchtlingsproblems erstmals von dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt vorgeschlagen worden sei. "Lange wurde sie verschwiegen, irgendwann von Otto Schily (ohne Nennung des Ideengebers) benutzt, wieder lange beschwiegen und nun hervorgekramt, abermals ohne den Denker zu nennen, der diesen Einfall hatte. Sie finden diese Ausführungen in dem Buch 'Wider die Mißtrauensgesellschaft' von 1995. Ich halte es für unehrlich und, um das mindeste zu sagen, wenig rühmlich, Ideen anderer Leute als die eigenen auszugeben, wie diese Politiker es tun. Das ärgert mich schon lange. Sie nun haben die Öffentlichkeit und das entsprechende Publikum, deshalb möchte ich Sie um eine Ergänzung oder Richtigstellung bitten. Ich kann diese Breitenwirkung nicht herstellen.
Professor Eibl-Eibesfeldt ist ein stiller und bescheidener Mann, der sich nie aus eigenem Antrieb in dieser Sache Gehör verschaffen würde. Deshalb bitte ich für ihn.
Er hat es verdient, so wie er den Nobelpreis für seine Grundlagenforschung verdient hätte
– eine Schande, daß er niemals auch nur dafür vorgeschlagen wurde. Die politische Korrektheit...
Er lebt noch und er ist alt.
Diese kleine Wiederherstellung seiner Ehre nur."

Dies sei hiermit im Rahmen meiner Möglichkeiten getan.

Dass die Idee von Eibl-Eibesfeldt stammt, war mir nicht bewusst. Ich habe den bedeutenden Mann und intimen Kenner unseres tierischen Erbteils vor fast 20 Jahren interviewt, und in diesem Gespräch deutete er eine solche Lösung immerhin an. Das seinerseits geradezu seherische Interwiew ist nachzulesen hier.   MK am 16. 3. 2016

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