Stationen

Freitag, 10. Juni 2016

Britisch Man's Burden

Wer sich als britischer Historiker dieser Tage politisch äussert, scheint gar nicht vorsichtig genug sein zu können: Einen Reporter von Le Devoir aus Montreal hat David Abulafia am Morgen empfangen, am Tag zuvor jemanden von der deutschen ARD, doch einer Zeitung, deren Namen er nicht nennen mag, hat er dann doch lieber abgesagt: «Ich spürte, dass diese Leute mir etwas in den Mund legen wollten.»
Abulafia, 66, denkt wie viele seiner Landsleute, doch wie nur wenige seiner Fachkollegen: Der Europäischen Union steht der Cambridge-Professor skeptisch gegenüber. Wie er selbst sich am 23. Juni entscheiden wird, wenn die Briten darüber abstimmen, ob ihr Land EU-Mitglied bleiben soll oder nicht, will er nicht sagen: «Mir geht es darum, eine Debatte anzustossen, ich möchte niemanden indoktrinieren.»

An diesem Nachmittag hat Abulafia nur wenig Zeit zu verlieren. In der Bibliothek seines Colleges, Gonville and Caius, betreten wir einen schmucklosen Nebenraum. Den Kleiderbügel, an dem ich meinen Mantel aufhänge, habe auch der Herzog von Edinburgh schon benutzt. An diesem Tisch habe er sich jeweils auf seine Reden vorbereitet, die er während seiner Amtszeit als Kanzler der Universität gehalten habe. Prinz Philip, der Ehemann der Königin? «Ja, ja, eben der», murmelt Abulafia. «Und in diesem Spiegel hat er sich vor seinen Auftritten jeweils noch einmal betrachtet.» Jetzt aber zum Thema!, scheint der Professor sagen zu wollen.
David Abulafia, dem in Deutschland oder auch in Frankreich manche wohl das Etikett eines Anti-Europäers anhängen würden, ist ein hervorragender Kenner Europas: Seine monumentale Geschichte des Mittelmeerraums gilt längst als Standardwerk, gefeiert von der Kritik auf beiden Seiten des Kanals.
Was, so frage ich ihn, macht Grossbritannien zum Sonderfall? «Ich könnte mit einer ganz einfachen Beobachtung beginnen», antwortet Abulafia: «Wenn Sie in London Picadilly entlanglaufen, werden Sie nur eine einzige europäische Flagge sehen. Und die hängt an der maltesischen Botschaft.»
Keiner britischen Institution käme es dagegen in den Sinn, etwas anderes als den Union Jack aufzuhängen. Anders auf dem Kontinent. Eben erst sei er in Venedig gewesen, wo am Dogenpalast neben der italienischen Trikolore ganz selbstverständlich auch der Sternenkranz der EU hänge.
Dem Dogen wären wohl beide Konzepte gleichermassen fremd gewesen, das eines italienischen Nationalstaats und jenes einer Europäischen Union, wende ich ein. Doch Abulafia will auf etwas anderes hinaus: Auf dem Kontinent identifizierten sich sowohl die Eliten als auch die Bevölkerung mit dem europäischen Projekt. «Das war hierzulande nie so. Auch viele von denen, die nun gegen den Brexit stimmen, sind eigentlich zutiefst euroskeptisch.»

Das gelte auch für David Cameron und George Osborne, den Premierminister und seinen Schatzkanzler, die derzeit vehement für einen Verbleib in der EU streiten. «Cameron und Osborne würden nie so hart kämpfen, wenn er nicht einen Deal ausgehandelt hätte, der uns – falls er denn funktionieren sollte – von weiterer politischer Integration ausnimmt», glaubt Abulafia.
Jedes Land in Europa, so lautet ein oft wiederholtes Bonmot, sei ja auf seine Weise ein Sonderfall. Das mag auch David Abulafia nicht bestreiten, doch Grossbritannien ist für ihn eben ein «spezieller Spezialfall». Das politische System des Königreichs habe sich über viele Jahrhunderte evolutionär entwickelt, erklärt er: «Wir haben eine ungebrochene politische Tradition, die zurückgeht bis zu den Parlamenten des Mittelalters, auch wenn es sich dabei natürlich nicht um demokratische Parlamente im heutigen Sinn handelte.»
Auf die Souveränität ihres Parlaments legten die Briten bis heute grossen Wert. «Wir wollen nicht, dass diese von anderen europäischen Gremien unterminiert wird.» Natürlich habe es auch auf der Insel Brüche und Konflikte gegeben, etwa die Rosenkriege des 15. Jahrhunderts, als die Adelshäuser York und Lancaster um die Macht kämpften, oder den Bürgerkrieg zwischen König und Parlament im 17. Jahrhundert, der damit endete, dass Karl I. geköpft wurde. Doch von da an sei England, anders als etwa Frankreich, von massiven Umwälzungen und Revolten verschont geblieben.
Dem Konzept einer europäischen Identität kann Abulafia wenig abgewinnen. Es werde viel von einem gemeinsamen Erbe geredet, doch worin dieses bestehen solle, könne ihm keiner überzeugend erklären: «Das mit den Römern funktioniert schon einmal nicht.» Diese hätten zwar weite Teile Europas erobert, doch eben nie den gesamten Kontinent: «Es gab keine römischen Kastelle im heutigen Polen, in Irland oder Skandinavien.»
Auch das Christentum dränge sich als verbindendes Element nicht unbedingt auf: «In religiöser Hinsicht ist Europa gespalten: Es gibt hier Protestanten, Katholiken und Orthodoxe. Abgesehen davon leben wir heute in einer post-christlichen Ära. Zudem gibt es auch Europäer, die keine Christen sind, sondern Juden oder Muslime.»
Die Anglosphäre als ideelle Heimat hat für David Abulafia offensichtlich weit mehr Sinn: «Die britische Kultur ist eine weltweite.» Am ähnlichsten seien den Briten wohl die Neuseeländer, die in einer Art altmodischem Grossbritannien lebten. «Das Empire war bis in die Fünfzigerjahre hinein für das britische Bewusstsein sehr wichtig.» Manche fühlten noch immer eine spezielle Verbindung zu Nationen des Commonwealth wie Kanada oder Australien.

Nicht einmal eine Meile liegt zwischen David Abulafias Büro und jenem von Renaud Morieux im Jesus-College, doch sind es Welten, welche die beiden Historiker trennen: Morieux ist Franzose, gut zwanzig Jahre jünger als Abulafia und geprägt vom akademischen Jargon seiner Heimat: «Britisch», sagt er, sei ein Wort, das dekonstruiert werden müsse: «Eine Idee, die gerade einmal 300 Jahre alt ist und vielleicht, wenn Schottland eigene Wege geht, bald irrelevant sein wird.»
Noch im 18. Jahrhundert, der Epoche, auf die sich Morieux spezialisiert hat, seien lokale Identitäten entscheidend gewesen. Ein Fischer aus Harwich habe sich zunächst einmal als Fischer gesehen, zweitens als einer aus Harwich, und dann erst, wenn überhaupt, auch noch als Engländer.

Immerhin, so ganz mag auch Morieux den Briten ihre Sonderrolle nicht absprechen: Die Rechte des Individuums seien hier schon stärker ausgeprägt gewesen als etwa in Frankreich. Die Habeas-Corpus-Akte von 1679 habe die Briten vor willkürlichen Verhaftungen geschützt und dem König sei ein relativ mächtiges Parlament gegenübergestanden. Doch noch im 18. Jahrhundert habe der Monarch ganz allein über Krieg und Frieden entschieden, genau wie überall sonst in Europa.
Sonderfall oder doch Normalfall? Wer die Schweizer Geschichtsdebatten der letzten Jahrzehnte verfolgt hat, erlebt ein Déjà-vu: Die Rolle, die für Schweizer Historiker Napoleon spielt, die des Herrschers von aussen, der dem Land einen Modernisierungsschub wider Willen verordnete, spielt für Morieux Wilhelm von Oranien. Erst dieser, der Statthalter der Niederlande, der 1689 englischer König wurde, habe einen Ausgleich zwischen Thron und Parlament herbeigeführt. «Dass dafür eine Invasion von aussen notwendig war, wird von den Engländern gerne vergessen.»
Geschichte ist die Politik von gestern. Die Frage, wer die Deutungshoheit über sie hat, kann unter Umständen zur Machtfrage werden. Manchmal wird der Historiker gar zum Souffleur der Mächtigen.

Wolfgang Schäuble, der deutsche Finanzminister, sei ein regelrechter Fan des irischen Historikers Brendan Simms, heisst es unter Historikerkollegen. Schäubles Mantra, wonach Europa durch jede Krise weiter zusammenwachse, sei nicht zuletzt auch in Simms‘ Studierstube erdacht worden.

Dort, im Peterhouse-College, erklärt Simms mir seine Sicht der Dinge. Die EU, sagt er, sei ein Projekt, um die Probleme des Kontinents zu lösen, nicht diejenigen Grossbritanniens. «Grossbritannien ist eine funktionierende politische Einheit.» Was der Kontinent brauche, sei die volle politische Integration. Anders sei Herausforderungen wie der Euro-Krise nicht zu begegnen.
Was Grossbritanniens Rolle in Europa betrifft, unterscheidet sich Brendan Simms nicht einmal so sehr von britischen EU-Skeptikern: Längerfristig kann auch er sich das Land ausserhalb der EU vorstellen. Das Vereinigte Königreich, so glaubt er, werde einem europäischen Bundesstaat, wie er ihn wolle, niemals beitreten. «Die Euro-Zone müsste die EU verlassen und zu einem einzigen Staat verschmelzen. Das nenne ich Euro-Exit», sagt Simms. Erst wenn ein solcher Staat entstanden sei, könne Grossbritannien guten Gewissens aus der EU austreten.
Gehe das Königreich hingegen bereits vorher eigene Wege, würde dies Europa als Ganzes destabilisieren. «Derzeit ist die Entstehung einer vollen politischen Union nicht abzusehen. Also ist es für Grossbritannien im Moment auch gar nicht notwendig, zu gehen. Das Referendum kommt daher zum völlig falschen Zeitpunkt.»
Nun würden die Briten über Europa befragt, obwohl gar nicht klar sei, wohin sich dieses entwickle. «Wenn es am 23. Juni ein Ja zur EU gäbe und der Prozess der europäischen Integration weiterginge, würde unweigerlich die Forderung nach einem neuen Referendum auftauchen», glaubt Simms.
Warum aber wäre der Brexit so schlimm für ein Europa, wie Simms es sich vorstellt? Würde mit Grossbritannien nicht ein Bremsklotz auf dem Weg zur immer engeren Union verschwinden? Wahrscheinlicher sei, dass der Brexit zumindest kurz- und mittelfristig einen katastrophalen politischen und psychologischen Effekt auf die EU hätte. «Wenn Griechenland ginge oder gehen müsste, dann wäre dies ein Urteil über Griechenland. Wenn aber Grossbritannien gehen würde, wäre es ein Urteil über die EU und würde auch als solches verstanden werden.»

Für Brendan Simms ist die EU eine Antwort auf Probleme, die Grossbritannien nie hatte. Im 20. Jahrhundert sei das Königreich der einzige grössere Staat in Europa gewesen, der alle totalitären Stürme überstanden habe. Auf dem Kontinent dagegen sei jedes Land vor 1945 entweder Aggressor oder Opfer gewesen. Die EU sei als Reaktion darauf entstanden.
In seinem neuesten Buch, «Britain’s Europe», erzählt Brendan Simms die Geschichte von tausend Jahren Konflikt und Kooperation zwischen der Insel und dem Kontinent. Heute, so schreibt er im Schlusskapitel, befinde sich Europa in Not und brauche Grossbritanniens Hilfe. Ein stabiles Europa ohne Grossbritannien ist für Simms nicht möglich: «Die europäische Ordnung war immer eine britische», sagt er. «Es ist ein Fehler, zu glauben, man könne eine stabile europäische Ordnung haben, die allein dem Willen der Kontinentaleuropäer selbst entspringt.»
Die Geschichte habe gezeigt, dass die Europäer zwar die Ambition hätten, eine solche zu verwirklichen, aber nicht die Kapazität. Das gesamte europäische Projekt sei ja nicht umsonst immer von aussen unterstützt worden, nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst von Winston Churchill, vor allem aber von den Amerikanern. «Anstatt die EU als Feind zu begreifen, sollte Grossbritannien sie als Raum ansehen, den es zu ordnen gilt. Die Welt, in der wir heute leben, ist schliesslich eine Kreation der angelsächsischen Demokratien.»
Europas Rettung als Grossbritanniens Bürde: Wenn das Königreich der EU helfen muss, damit auf dem Kontinent nicht das Chaos ausbricht, ist das Land dann nicht eine Geisel Europas? «Alle europäischen Staaten sind Geiseln Europas, die einen mehr, die anderen weniger», sagt Simms. Die Zukunft jedes Landes sei gebunden an die des gesamten Kontinents. Grossbritannien aber sei wohl der Staat, der noch am wenigsten von der EU abhängig sei.
Blickt man derzeit auf Europa, so scheint sich alles in eine Richtung zu entwickeln, welche die Verwirklichung von Simms‘ Traum von den Vereinigten Staaten von Europa ferner und ferner erscheinen lässt: Ob Euro- oder Flüchtlingskrise, die Mitgliedstaaten der EU driften immer weiter auseinander: Uneinigkeit, wohin man schaut; EU-Gegner oder -Skeptiker befinden sich in vielen Ländern im Aufwind.
Für Simms kein Grund zu zweifeln: «Wenn Sie nun sagen, vielleicht zerbricht die EU auch, dann denke ich nicht, dass die Völker Europas dafür stimmen würden», sagt er. «Denn damit würden sie zum Status quo ante zurückkehren, also zu eben der Unordnung, die durch die EU beendet werden sollte. Die EU versagt zwar noch immer, aber sie versagt besser.» Selbst im wirtschaftlich gebeutelten Griechenland würde sich eine Mehrheit für die Mitgliedschaft entscheiden, wenn man das Volk denn befragen würde, glaubt Simms.
Eine Frage, die wichtigste, bleibt: Wie geht es aus am 23. Juni? «Wenn morgen abgestimmt würde, gäbe es sicher eine Mehrheit für die EU», sagt Simms. Aber es könne noch so viel passieren: «Wir hängen an der Gnade der Ereignisse.» Ein Terroranschlag oder eine Zuspitzung der Flüchtlingskrise könnten alles ändern. Abulafia und Morieux mögen sich nicht festlegen.
Das Geschäft der Historiker ist und bleibt die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Und das selbst dann, wenn eine Nation vor einer historischen Entscheidung steht.  Hansjörg Müller

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