Stationen

Sonntag, 19. Juni 2016

Die Karten werden gemischt

Auf der Homepage feiert die Europäische Kommission Winston Churchill, weil er schon 1946 von den „Vereinigten Staaten von Europa“ sprach. Seltsam und typisch für die schöngefärbte Kommunikationspolitik der Kommission: Daß er gleichzeitig eine Mitgliedschaft Großbritanniens ausschloß, findet man dort nicht!
Natürlich achteten auch alle Nachfolger Churchills immer auf die Souveränität ihres Landes. Die Frage, warum jetzt die akute Gefahr besteht, daß Großbritannien die EU verlassen könnte, ist einfach zu beantworten: „Weil Paris und Brüssel, Berlin vorneweg, die Souveränität Londons durch das Mantra ‘Mehr Europa!’ zunehmend in Frage stellten, sah sich Cameron gezwungen, sein Volk dazu zu befragen.“

Um es klar zu sagen: Ich bin gegen den „Brexit“. Während Deutschland dringend „auf die Couch“ muß, würde mit dem Auszug der Briten das letzte Land mit gesundem Menschenverstand die EU verlassen. Aber egal wie das Referendum ausgeht, die Deutschen können daraus jetzt schon einiges lernen.

Erstens zeigt das Referendum den Nutzen plebiszitärer Elemente. Man stelle sich vor, wir hätten über den Euro oder die Flüchtlingspolitik abstimmen können!
Zweitens wird klar, daß weniger Großbritannien als Deutschland der Leidtragende wäre. Zwar behauptete Volker Kauder im Bundestag einmal, „Europa spricht jetzt deutsch“, die Realität in Brüssel zeigt,  daß es immer dann französisch handelt, wenn es darauf ankommt: EU-Präsident Juncker läßt den Franzosen alles durchgehen, „weil es Frankreich ist“! Nach einem „Brexit“ wären wir nicht nur mit staatsgläubigen und reformunfähigen Franzosen in der EU allein gelassen; wir dürften auch für den größten Teil des EU-Beitrags Großbritanniens, trotz des von Margaret Thatcher ausgehandelten „Briten-Rabatts“ immerhin der zweitgrößte Nettozahler, aufkommen.
Drittens führt uns die Debatte um den „Brexit“ vor Augen, daß der Binnenmarkt der entscheidende Vorteil der EU ist und nicht der Einheitseuro, eine gemeinsame Sozialpolitik oder eine europäische Armee. Den Binnenmarkt, die Quelle besonders des deutschen Wohlstandes, gilt es auszubauen; wir brauchen keine europäische Bildungs-, Familien- und Verteidigungspolitik! Für letzteres steht schon lange die Nato!
Viertens, obwohl die Briten ihr Pfund Sterling behalten konnten,  stellt sich jetzt heraus, daß der Euro eine der Hauptursachen für die wachsende Europaskepsis auf der Insel ist. 2010 erzielte die europakritische Ukip bei den Unterhauswahlen nur 3,1 Prozent der Stimmen. 2014, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und nach drei Jahren scheinbar ununterbrochener Eurorettungsorgien, waren es schon über 27 Prozent.
Auf der Insel kippte die Stimmung, weil die Berichte vom Kontinent über die zahlreichen Rettungsaktionen und Krisengipfel einen verheerenden Eindruck auf die Briten machten. Um den Euro zu retten, verschrieben Merkel, Schäuble, Juncker & Co. jedesmal noch „mehr Europa“. Fassungslos wurden die Briten Zeugen immer neuer Vorschläge, die sich weder mit dem Abkommen von Lissabon noch mit ihrer eigenen Vorstellung von Souveränität vertrugen. Kein Wunder, daß David Cameron, den heißen Atem von Ukip-Führer Nigel Farage und der Euroskeptiker in den eigenen Reihen im Nacken, die Flucht nach vorn ergriff und das Referendum anberaumte.
Fünftens gab die Merkelsche Flüchtlingspolitik den „Brexiteers“ enormen Auftrieb. Für die Anhänger eines Verbleibens in der EU, die „Remainers“, kann das der entscheidende Sargnagel gewesen sein. Als ARD und ZDF noch ebenso stolz wie einseitig über die neue moralische Supermacht Deutschland und die „Refugees welcome“-Schilder berichteten, standen bei der BBC längst die Bilder über die endlosen Flüchtlingsströme in Richtung Deutschland im Vordergrund, zusammen mit Analysen darüber, was diese wohl für ihr eigenes Land bedeuten könnten.


Sollten die Briten den „Brexit“ ablehnen, was ich immer noch hoffe, dürfen wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) setzt sich in Brüssel energisch für einen Kurswechsel in der Europapolitik ein. Den „Vereinigten Staaten von Europa“ stellen wir um so entschlossener das „Europa souveräner Staaten“ entgegen. In Brüssel erleben wir täglich, wie wenig Belgien mit seinen zweieinhalb Sprachen (Flämisch, Französisch und etwas Deutsch) zurechtkommt. Wie soll dann erst ein zentralistischer Superstaat mit 24 Sprachen funktionieren?
Neue Umfragen zeigen: Es kann auch anders kommen. Britische Kollegen berichten in diesen Tagen, daß Deutschlands Flüchtlingspolitik das Referendum noch einmal richtig spannend gemacht hat: „Die besten Verbündeten der Brexiteers sind Schäuble und Merkel!“ Mir erscheint es der Gipfel der Scheinheiligkeit zu sein, wenn in diesen Tagen und Wochen ausgerechnet Angela Merkel und Wolfgang Schäuble die Folgen eines „Brexit“ beklagen, die sie selbst verursacht haben!
Sollten die Briten tatsächlich gehen, müssen wir ihnen folgen. Wenn „Brexit“, dann „Dexit“! Mit den Briten und anderen Gleichgesinnten gilt es dann, die Europäische Union auf das zurückzuführen, was sie einmal sein sollte: Charles de Gaulles „Europa der Vaterländer“! Daran müssen wir die Franzosen wieder erinnern. Nur so wird aus dieser Krise Europas eine neue Chance.
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Prof. Dr. Hans-Olaf Henkel ist ehemaliger BDI-Präsident und sitzt für die Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA) als Abgeordneter im EU-Parlament. ALFA ist Mitglied der EKR-Fraktion.

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