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Mittwoch, 22. Juni 2016

Lob auf Juli Zeh


 Rezension aus Sezession 72 / Juni 2016
Ach ja, Juli Zeh. Die einundvierzigjährige Autorin gilt seit langem als »engagiert«, äußert sich gern politisch (im Grunde sozialdemokratisch, fallweise pro »Piraten«, zuletzt zugunsten der merkelschen Flüchtlingspolitik) und ist promovierte Juristin. Ein Portfolio, das nicht eben typisch ist für eine deutsche Erfolgsschriftstellerin. Dies ist ein Profil elitären Mittelmaßes, mit gerundeten Kanten: gegen Ausspähpraxis, für »humane Werte«, so in etwa. Wie schlägt sich das literarisch nieder? Erwartbar? Nein: gar nicht.

Juli Zehs Anspruch, mit Unterleuten einen »großen Gesellschaftsroman« vorzulegen – er dürfte eingelöst worden sein. So können literarisches und »gesellschaftliches« Ich einander fremdgehen! Unterleuten (graphisch auf dem Buchumschlag: Unter Leuten) ist ein Kaff im Brandenburgischen. Alte DDR-Opfer leben hier Zaun an Zaun mit damaligen Nutznießern, hinzu kommen ein paar zugezogene Städter.
Auch die Bonnerin Zeh ist in der brandenburgischen Provinz heimisch geworden. Große Publikumsverlage verlautbaren seit langem, daß ein Großteil der »unverlangt eingesandten Manuskripte« dem Romanmuster »Landei gerät in den Großstadtdschungel« folgen. Könnte sein, daß die umgekehrte Migrationsrichtung ein höheres, weil abgeklärteres Reflexionsniveau beinhaltet. Hier jedenfalls trifft die Vermutung zu.

Zeh kennt ihre Pappenheimer, durchschaut nicht bloß Landlust und -frust, sondern hebt die (neo-)ländliche Szenerie auf die Stufe eines fein ziselierten, hervorragend beobachteten gesamtgesellschaftlichen Panoptikums. Das heißt, nein, etwas fehlt: Es gibt in Unterleuten keine Migranten. Eine andere Art Ansiedlung steht bedrohlich (wir schreiben 2010) ins Haus: Ein gigantischer Windpark soll entstehen, Befehl von oben, Regierung, EU.
Im Kern ist die Parallele zur oktroyierten Menschenmassenansiedlung, wenn auch sicher nicht intendiert, so doch bestechend: Fast keiner will sie, es gibt reichlich Gründe, sie abzulehnen. Aber weil klar ist, daß sie kommen, möchte doch der eine oder andere seinen Profit schlagen aus dem Unabwendbaren.
Juli Zeh liefert mit ihren messerscharf profilierten Prototypen keine Klischeebilder, sondern ausdifferenzierte Individualporträts. Etwa von Gerhard Fließ, dem nervösen Vogelwart, der zugunsten seiner viel jüngeren Frau die Unikarriere an den Nagel gehängt hat und nun in Unterleuten als gutmenschlicher Besserwisser durchstartet, im fatalen Irrtum, mit eloquenten schriftlichen Eingaben gäbe es ein Durchkommen vor Ort.

Pantoffelhelden höchst unterschiedlicher Couleur sind reichlich gesät in diesem Roman, doch scheint Zeh hier keiner feministischen Agenda, sondern erworbener Lebensklugheit zu folgen. Vor allem den Jargon ihrer eigenen Leute kennt und beherrscht sie vortrefflich; den der stillenden Sorgenmutter, des abgehalfterten Intellektuellen, der selbstgemachten, sich daueroptimierenden Powerfrau, des effizienten Karrieristen und der lässigen Start-up-Leute.
Wolfi, mäßig erfolgreicher Theaterschriftsteller, hängt am Finanztropf seiner Frau Kathrin, einer Medizinerin; der ungeliebte dörfliche Hauptarbeitgeber Gombrowski mit seiner Hundsvisage versorgt gleich zwei Frauen; Erzkommunist Kron und das Prolo-Tier Schaller hängen abgöttisch an ihren Töchtern; und dann wäre da noch Frederik, der elastisch-urbane Nichtsnutz und Computerspielentwickler, der seiner pferdenärrischen Linda aufs Land gefolgt ist.
Linda Franzen nun ist eine besonders interessante Figur. Sie hat es besonders faustdick hinter den Ohren, sie folgt den Weisungen des Persönlichkeitstrainers Manfred Gortz (toller Trick von Zeh, unbedingt googlen!). Linda, als Jungunternehmerin und erfolgreiche Pferdeflüsterin, hat verstanden, was es heißt, die eigene Persönlichkeit fortlaufend zu optimieren – ganz ohne Rücksicht auf Verluste. Sie ist der weibliche Phänotyp der Stunde.
Juli Zeh hat eine feine psychologische Ader und ein sicheres Gefühl für die Zeitläufte. Zum Smartie Pilz, dem angereisten Windkraft-Lobbyisten, schreibt Zeh:
Einem wie Pilz ging es nicht mehr ums gute Leben, es ging nicht einmal um Geld. Was diese Generation antrieb, war der unbedingte Wunsch alles richtig zu machen. Keine Fehler zu begehen und dadurch unangreifbar zu werden. Das kapitalistische System pflanzte einen Angstkern in die Seelen seiner Kinder, die sich im Laufe ihres Lebens mit immer neuen Schichten aus Leistungsbereitschaft panzerten. Heraus kamen Arbeitszombies, die keine Angst davor hatten, von einem Dorfmob aufgemischt zu werden.
Denn fast alle Dorfbewohner sind natürlich gegen Landschaftsverschandelung, kreisende Rotorblätter und Vogelsterben. Aber die Front der Gegner bröckelt, alte Rechnungen werden hervorgezerrt.
Heraus kommt in sechs Teilen, je vielfach untergliedert in Sichtweisen (»Fließ«, »Gombrowski«) ein so multiperspektivisches Psychogramm, ein solch lebenskluges Gesellschaftsbild, daß man sich am Ende ziemlich betrübt fragt: Woher die mediokren Aussagen einer Juli Zeh in Talkshows und ähnlichen Formaten? Sie wird es schon wissen.  Ellen Kositza

Juli Zeh: Unterleuten. Roman, München: Luchterhand 2016. 640 S., 24.99 € – hier bestellen. (Zu einer Auswahl der in Sezession 72 besprochenen Literatur geht es hier entlang.)

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