Stationen

Samstag, 18. Juni 2016

Schwärmerei




13. Juni 2016 – Sind gestern versehentlich in eine Messe mit Erstkommunion geraten. Eventüblich viel Neues Geistliches Lied, Getrommel, Geschunkel. Best: Ein kleiner Frauenchor namens Happiness für Go(o)d (oder ähnlich) singt schräg vielstimmig Helleluja, sse lort iss wiss as.

Ich selbst predige den Kindern ja stets, auch gedanklich gut mit gutmeinenden Menschen umzugehen: Die wissen es halt nicht besser! Wie ich aber nun das Gesicht meiner temperamentvollsten Tochter sehe, es rosa geflammt, dann hell – dann dunkelrot anlaufen sehe, Gesicht wird faustförmig, weiß ich: Es ist echt – meine Tochter.
Nachts dann: Manchmal habe ich Musikträume, meist unschöne, dann wache ich von einem allzulauten, häßlichen Ohrwurm („Geiles Leben“ oder so) auf. Heute, dumpf rhythmisch pumpend um halb sechs früh: „Ich bin okay, wenn du okay bist, okay ist alles vor Gott, okay? Ooo…kay!“
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15. Juni 2016 – Lese auf dem Twitter-Konto von Dieter Stein, daß er (Stein) irgendeinen Netzartikel „genial“ findet, in dem es über den „pathetischen, gequirlten Quark“ gehe, den „Höcke am Kyffhäuser absonderte“. Gut. Lese ich halt das „geniale“ Stück über das Treffen des AfD-Flügels von Anfang Juni. Der erste Satz:
Der kurzgeschorene rechtsintellektuelle Götz Kubitschek, Herr über Rittergut Schnellroda, erscheint im akkurat gebügelten Schwarzhemd. Sicher vorbildlich von Hand mit einem kohlebeheizten Plätteisen glattgeprügelt, der Mann schwört schließlich auf Traditionen.
Da rauft sich die Hausfrau die Haare: Die lügen mir ja sogar in meinen Haushalt hinein! Die Wahrheit ist, daß es im Rittergut weder ein vorsintflutliches noch ein topmodernes Bügeleisen gibt. Die Wahrheit ist, daß auf jeder Veranstaltung mich ein Herr/eine Dame freundlich-gönnerhaft zur Seite nimmt: Dann geht es entweder um die Bügel- oder die Krawattenfrage. Machen wir nicht, besitzen wir nicht. Übrigens nicht mal sogenannte knitterfreie Hemden.
Ich schiebe den falschen Eindruck nicht auf den Autoren und sein akkurat gebügeltes Weltbild, sondern auf die ordentlichen Muskeln meines Mannes, die offenkundig auch ein knittriges Hemd straffen. Glattgebügelt wird hier schon mal gar nichts.
Ach, und noch was aus dem Artikel, den Dieter Stein so „genial“ findet: Darin kriegen auch intellektuelle Größen wie Karlheinz Weißmann und Alain de Benoist ihr Fett weg. Komisch, beide sind Hauptschreiber von Dieter. Genial.
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16. Juni 2016 – Während meine größeren Kinder in weiter entfernt Orten ihre Ringen-, Handball- oder Musizierstunden wahrnehmen, pilgere ich meistens mit der Jüngsten durch Kleingartenanlagen. Hab ich schon öfter geschrieben, warum ich die „Anlagen“ so liebe. Ich halte auch im Ausland an diesen Gartenkollektiven.
Man sieht in Gartenanlagen den Charakter des Eigentümers in nuce, davon bin ich überzeugt. Spießergärten (vor allem kurzer Rasen, eine traurige Plasterutsche), Wildgärten, Saubergärten (unkrautfrei), Prachtgärten usw.: das ganze Volk, zumindest das nicht-urbane; hinreißend! Schon die Art des Zauns ist so vielsagend! Jägerzaun? Stakete? Grünes Metall? Draht? Buchs? Buche?

Heute tolles Gespräch über’n schönen Zaun. Erst ging es um Kohlrabi-Lob und Bewunderung der retrofarbenen Rosen. Dann darum, was die Vögel so an Saat wegpicken. Ich gebe wieder:
- Bei uns in Schnellroda hat ja jedes Jahr seine eigenen Schädlinge. Mal die Schnecken, mal die Mäuse, mal die Läuse. Dieses Jahr die Krähen und die Elstern. Die sind widerlich. Ab halb fünf morgens geht das vielstimmige Gekrächze los. Nichts ist vor denen sicher. Nicht die Kaninchenbabies, nicht die Katzenkinder, und die kleinen Enten auch nicht. Aber man kann ja nicht überall Maschendraht spannen!
- Ja, hier auch. Zu DDR-Zeiten kannten wir das fast gar nicht. Und wenn, gab´s die Flinte. Da käme man heute ja glatt in den Knast für. Die Biester haben ihre festen Versammlungsplätze, und von da schwärmen sie aus. Die machen sich alles untertan. Es ist abartig. Sind Totenvögel.
- Und traurig ist nebenbei, daß man gar keine Singvögel mehr hört. Die haben anscheinend aufgegeben oder, haha, die trauen sich nicht mehr raus..
- (toller Gedankensprung) „Jaja, raustrauen. Was da abgeht. Gestern der sechste Vorfall, Nancy [Blick zur Tochter], oder? Der fünfte? Ich sag der Enkelin: Nee, nach Merseburg fährst du nicht mit der Bahn. Da fahr ich dich. Traut sich doch keiner mehr raus! Ich will’s nicht sagen, aber ich sag‘s noch mal, in der DDR hatten wir solche Probleme nicht. Da sind wir noch um Mitternacht auf die Straße gegangen, wenn wir Lust dazu hatten.
Welche Vorfälle eigentlich?
- Na, lesen Sie keine Zeitung? Oder mal anders gefragt, waren sie mal in Merseburg in letzter Zeit? Also, ich fühle mich da nicht mehr heimisch. Aber soll man ja besser nicht sagen.
Zu Hause erzähle ich von den ominösen Vorfällen. Die Kinder sind längst im Bilde. Über Männer mit ausländischem Aussehen, die Kinder (auch gegen Bezahlung) in ihr Auto locken wollen. Die Kinder sagen, zur Zeit würden alle anderen Grundschüler von ihren Eltern morgens zur Bushaltestelle gebracht.
(„Ach, und das erzählt ihr uns nicht?“- „Komm, Mama! Wenn acht Eltern an der Bushaltestelle stehen, hält bestimmt kein Auto mit Leuten, die uns heranlocken wollen!“)
Jene „Vorfälle“ seien jedenfalls ein großes Thema. Für uns bleiben sie rätselhaft, auch wenn alle befragten Nachbarn Bescheid wissen. Sogar Kindergartenkinder sind mit Mobiltelephonen ausgestattet worden.
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17. Juni – Sohn: „Guck, den Zettel haben wir heute bekommen. Wegen der Vorfälle.“ Der „Zettel“ ist ein kompliziert und ungeschickt formulierter Essay der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt-Süd. Überschrift: „Verhaltenshinweise an Eltern“. Eine konkrete Problemlage wird nicht benannt. Der Zettel kommt „einfach so“. Darin, im Rahmen einer Aneinanderreihung, dies:
Zeigen Sie Ihrem Kind, wo es im Notfall Hilfe holen kann.“ „Ihr Kind sollte immer in einer Gruppe von 2-4 Kindern unterwegs sein. So kann im Notfall jemand Hilfe holen.
Dann wird es ein bißchen krude:
Machen Sie Ihr Kind stark in Bezug auf „Nein“ sagen gegenüber allen Personen und Handlungen, wenn es etwas nicht mag. Das gilt auch gegenüber Ihnen. Kinder sollten lernen, nicht aus Höflichkeit etwas zu tun, was Ihnen [sic!] Unbehagen bereitet.
Klar, wenn nichts mehr hilft, dann zieht antiautoritäre Erziehung. Logisch.
Unbehaglich wird mir durchaus.   Ellen Kositza

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