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Samstag, 18. Juni 2016

Vernunft ist kein Vorurteil

„Sprich nicht mit Fremden“ bringen wir unseren Kindern bei. Steig nicht zu Fremden ins Auto, nimm nichts von Fremden. Der Fremde hatte noch nie einen guten Ruf. Wir warnen unsere Kinder vor ihm, wir begegnen ihm mit Vorsicht, wir vertrauen ihm selbst als Erwachsene nicht. Ist das im wahrsten Sinne des Wortes fremdenfeindlich?

Ziehen wir als Eltern gar fremdenfeindlichen Nachwuchs groß mit dieser Methode, oder ist es nicht doch vernünftig, Fremde erst mal nicht in die Arme zu schließen?

Warum halten wir auf Bahnhöfen „Welcome“-Schilder für Fremde in die Höhe, warnen aber gleichzeitig unsere Kinder vor denselben? Naiv könnte die Antwort lauten: Weil es sich im Laufe der Menschheitsgeschichte bewährt hat und die schlechten Erfahrungen mit Fremden von Generation zu Generation weitergereicht werden.
Vererbte Vorurteile sozusagen als Überlebensschutz. Das gesunde Mißtrauen gegenüber Menschen, die wir nicht kennen, spiegelt sich in jeder abgeschlossenen Haustüre und in jeder Grenzlinie wider. Sie sind Schutz und Verteidigung – ja, gegen Fremde. Oder haben Sie Ihre Haustüre nachts offen?

Der Fremde kann bei Kindern übrigens auch einfach der sehr deutsche Nachbar sein, wir müssen gar nicht weit reisen, um ihm zu begegnen. „Fremdeln“ ist ein normaler Entwicklungsschritt bei Kleinkindern. Sie vertrauen in dieser Phase in der Regel nur engsten Familienmitgliedern, heulen beim Anblick von Besuch. Denn jeder, der nicht zur Familie gehört, ist dann fremd. Es dauert, bis ein Kind einem anderen Menschen dann endlich vertraut.
Vertrauen als Gegenteil von Mißtrauen muß man sich in den Augen von Kindern also erst einmal verdienen. Bei Erwachsenen war das früher auch so, es ist derweil in Deutschland aber komplizierter geworden. Ein neues Postulat unserer Gesellschaft fordert jetzt ein, daß man Fremden nicht mehr mißtrauen soll, ja nicht mehr mißtrauen darf. Wer sich nicht schuldig machen will, Fremdenfeind zu sein, äußert sein Mißtrauen, seine Vorsicht oder gar seine schlechte Erfahrung besser nicht mehr frei.

Wo aber für gesundes Mißtrauen kein Platz mehr ist, weil eine verordnete Willkommenskultur unbedingten Gehorsam einfordert, äußert sich Mißtrauen dann in anderen Formen als verbal. Pfefferspray ist ausverkauft. Selbstverteidigungskurse sind ausgebucht. Eltern fahren ihre Kinder wieder zu Schulen, Sporttraining und in die Disco. Gelebtes Mißtrauen ist dabei angewandte Vermeidungsstrategie. Vorauseilender Gehorsam. Manche sagen: Freiwillige Unterwerfung. Sind wir denn alle neuerdings paranoid geworden? Schließlich ist ja den wenigsten tatsächlich bereits etwas passiert wegen den neuen Fremden.
Das sagt übrigens auch die Politik. Immer wieder ist zu hören, es gäbe keinen Anstieg der Kriminalität. Also doch alle nur im fremdenfeindlichen Verfolgungswahn? Fremdenfeindlich-mißtrauisch und das völlig ohne Anlaß? Oder passiert möglicherweise deswegen nicht so viel, weil wir die Vermeidungsstrategien stillschweigend seit Monaten schon längst praktizieren? Weil wir die Kinder nicht mehr alleine ins Schwimmbad lassen, die Mädchen in die Disco fahren und als Frau das Taxi nehmen.

Spreche ich mit anderen Frauen, hat jede mindestens eine unangenehme Erfahrung aus der jüngsten Vergangenheit zu berichten, auch in den Städten, in denen die Kriminalität angeblich nicht gestiegen ist. Teilweise passierte das am hellichten Tag. Vieles sind Dinge im juristisch zwielichtigen Bereich. Unangenehm, bedrohlich. Angst ist nicht objektiv, sondern immer persönlich. Frage ich danach, ob sie es angezeigt haben, wird unisono verneint. Denn es war ja noch nichts passiert.
Sie hatten Angst, sie fühlten sich bedroht, es war noch mal gutgegangen. Was bleibt, ist das unbestimmte Gefühl, daß es jederzeit wieder geschehen kann. Erklären Sie einem Kind rational, daß unter dem Bett kein Monster sitzt. Sie können unter das Bett leuchten, aber wenn das Licht ausgeht, kommt die Angst zurück.
Das wirft die Frage auf: Darf ich erst dann berechtigt Angst vor Fremden haben, nachdem mir tatsächlich etwas passiert ist? Wieso gilt es neuerdings als Vorurteil, vorausschauend zu handeln? Während wir in allen möglichen Bereichen immer auf Prävention bauen, ist ausgerechnet beim Thema Zuwanderung und Sicherheit Prävention plötzlich mit dem Makel der Fremdenfeindlichkeit behaftet.
Der Schulleiter, der seine Schülerinnen zu sittsamer Kleidung aufrief, um die Flüchtlinge in der Turnhalle nicht zu irritieren, der Bürgermeister, der Hausregeln für seinen Ort aufstellte – sie wurden medial als fremdenfeindlich und vorurteilsbeladen gebrandmarkt. Vernunft ist kein Vorurteil. Darf ich mir Sorgen machen, was in diesem Land los sein wird, wenn die Freibad-Bikini-Bauchfrei-Spaghettiträger-Saison erst einmal angebrochen ist, wenn doch selbst in kalten Silvesternächten dicke Mäntel kein Hindernis für Übergriffe auf Frauen darstellen?
Darf ich mir Sorgen um meine Teenager-Tochter machen, wenn sie am Wochenende zum Musikfestival fährt? Ist es irrational, ein Taxi zu nehmen wegen der Unterführung, durch die man sich in manchen Gegenden nicht durchtraut? Darf ich Panik verspüren angesichts einer Gruppe dunkelhäutiger Männer, die mir auf dem Bürgersteig entgegenkommen?
Ja ich darf, denn es ist nicht fremdenfeindlich, sondern rational. Mißtrauen und Vorsicht gegenüber allem Fremden sind nicht per se Fremdenfeindlichkeit, sondern schlicht Überlebensstrategie. Und deswegen müssen wir über Ängste reden und unser Mißtrauen benennen dürfen. Denn Vertrauen in Fremde kann man nicht staatlich verordnen.
Man kann aber Strategien entwickeln, um Vertrauen aufzubauen. In gewisser Weise sind wir immer noch wie Kinder geprägt: Wir wollen uns ja anfreunden, wir trauen uns nur manchmal nicht. Noch nie hat es aber bei meinen eigenen Kindern gegen das Fremdeln geholfen, wenn ich sie gezwungen habe, ihre Ängste zu ignorieren.   Birgit Kelle

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