Stationen

Samstag, 23. Juli 2016

Konformitätsdruck

Neon ist gewissermaßen die Jugendausgabe der Politillustrierten Stern. Kernzielgruppe: überdurchschnittlich verdienende Jungakademiker. Die Mai-Nummer wartete mit Porträts überdurchschnittlich gutaussehender pornoschauender Studenten auf und mit einem Extra zum Thema Miete (»Was ist eine Mietkaution eigentlich?«). Normale Fragen normaler Postadoleszenten!


Mittendrin aber unternimmt der Journalist Marco Maurer ein unerhörtes Wagnis: Er besucht mit seinem leicht-nach-rechts-tickenden Vater eine AfD-Veranstaltung. Aus jeder Zeile dieser Langreportage sind bohrende Skrupel, gepaart mit dem Gefühl, ein konventionenbrechender Draufgänger (man geht zu den wirklich Krassen!) zu sein, herauszulesen:
Viele meiner Freunde sagen, sie können sich diesen innerfamiliären Konflikt nicht vorstellen. Konservatismus kennen sie nur aus den Artikeln des FAZ-Journalisten Jasper von Altenbockum. Wir leben alle in einer Filterblase, die Freunde und Twitter haben ähnliche Meinungen, die Familie meist auch.
Problem (Filterblase, Meinungstrichter, Sagbarkeitsenge) erkannt – Problem gebannt? Mitnichten. Herr Maurers Blick verbleibt in seiner betonierten Fokussierung, deshalb sieht er bei seiner Expedition vor allem dicke Bäuche und häßliche Nasen (ausgerechnet!).
Von meinen halb- und dreiviertelpolitisierten Freundinnen kenne ich diese Gemengelage. Heißt, diesen Meinungskorridor, der so schmal ist, daß sogar Menschen mit stromlinienförmig trainierten Körpern den Bauch einziehen müssen, um ohne anzuecken passieren zu können. Wiebke, so will ich sie hier nennen, präsentiert mir häufig WhatsApp-Nachrichten und Facebook-Meldungen ihrer »Freunde«: »Hier, lies mal. Heute bereits über tausendmal geteilt. Ich sag dazu ja nie was. Es ist mir zu bescheuert.«
Mit Johnny – ihrem Freund – lache sie sich manchen Abend schlapp über die Willkommenshysterien und linkslinken Empörungseinträge ihrer Freunde. Frage: Warum nicht mal einen kessen Gegenstandpunkt setzen? Wiebke:
Ach, hör auf. Im Grunde ticken wenigstens Johnnys Leute doch alle ganz anders. Ich mein, das sind Leute, die im Leben stehen. Was wirklich los ist, spielt in diesen Netzverbindungen aber keine Rolle. Der Micha beispielsweise, Expunk, hatte mal halbironisch auf so ein Bestmenschen-Posting reagiert. Da war die Hölle los. Für nichts! Außer, daß man sich von Micha entfreundet hat. Du mußt dich halt entscheiden. Du kannst mit dem Mainstream gehen und auf all diese Empörungszüge aufspringen, man kann sich ja völlig problemlos reinsteigern in diesen linken Kitsch, oder du kannst einfach die Klappe halten und dir das gepostete Zeug im doppelten Wortsinne durch den Kopf gehen lassen. Oder aber du hältst dagegen, Worst case: Das heißt in der Konsequenz, daß du Adé sagst zu deinem sozialen Umfeld, zu Leuten, die dir aufgrund gemeinsamer Erlebnisse was bedeuten. Das heißt, daß du dich bis zum Gehtnichtmehr rechtfertigen mußt. Und daß die ganze Argumentiererei, egal, welche Fakten du anbringst, zu nichts führt. Du hast deinen Stempel, du bist markiert. Johnny und ich, wir haben unsere Meinung, wir haben aber keine politischen Ambitionen, wir sind auch keine Helden. Also: Klappe halten. Um so schöner, wenn man mal durch Zufall und übrigens immer öfter erfährt, daß es diesem oder jenem, von dem man es nicht gedacht hätte, ähnlich geht.
 
Dies wäre eine Zustandsbeschreibung zum Stichwort »Mainstream« aus dem Nähkästchen. Sowohl Wiebke und Johnny als auch Marco Maurer (zumal die Neon allenfalls in Lifestyle-, nicht aber in politischen Fragen eine leitmediale Stellung innehat) sind Adressaten und im letzteren Fall nur mittelbar Generatoren einer »veröffentlichten Meinung«.
Alles Wesentliche zum Zusammenhang zwischen Meinungstaktgebern und dem individuellen Rezipienten und Meinungsweiterverbreiter – also: zum erzwungenen Wohlfühl- und Mitmachbad unter meinungsklimatischen Bedingungen – hatte die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann bereits vor vier Jahrzehnten in ihrem epochalen Werk über die Schweigespirale herausgearbeitet.
Bereits damals, als Terminus und Phänomen des »Gutmenschen« noch nicht in der Welt waren und beispielsweise die Verortung »rechts« (außerhalb der dezidiert Linken) keineswegs dämonisiert war, konstatierte Noelle-Neumann hohen Konformitätsdruck, Angst vor Isolation aus Gründen einer abweichenden Meinung und die Tatsache, daß im medialen Meinungskampf strittige Themen nicht sachlich, sondern mit eiserner Moralität propagiert würden.
Aus dem großen aktuellen Schneiderbetrieb der Meinungsherstellung hat uns der in Leipzig lehrende Medienwissenschaftler Uwe Krüger (Jahrgang 1978) mittels zweier Publikationen Bericht erstattet. 2013 hatte er seine vielbeachtete Dissertation veröffentlicht. Der Titel gibt den Inhalt bereits reichlich präzise wieder: Meinungsmacht. Der Einfluß von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse.
Krüger stellt zunächst kritische (US-amerikanische) Forschungsansätze vor, mit deren Hilfe die informelle Kommunikation zwischen Journalismus und Machtelite begründet wird. Das wäre zum einen die »Indexing-Hypothese« (verkürzt: Journalisten orientieren sich gemäß einer eher unbewußten Verhaltensregel allein an der Meinungsbandbreite des politischen Establishments), dann das »Propagandamodell« (u.a. vom linken Vordenker Noam Chomsky entwickelt), das von einer symbiotischen und ökonomischen Nähe zwischen Politik und Medien ausgeht. Hier spielt der »Experte«, der sich zu einem strittigen Thema äußern darf, eine wichtige Rolle, zumal es in der Regel »Experten« seien, die einem bestimmten Konzern angehören oder am Tropf einer staatlichen Institution hängen.
Interessant ist ferner das »Konzept der sozialen Kontrolle«, das zugleich das »Protestparadigma« wiedergibt: Über Protestformen, die das System herausfordern, wird einseitig berichtet. Ihr eigentliches Anliegen wird gar verschwiegen. Gezeigt oder zitiert werden Äußerungen »kopfschüttelnder« Außenstehender; zudem greifen »Techniken der Delegitimation, Marginalisierung und Dämonisierung«.

Die Wirkung des jeweiligen nichtstromlinienförmigen Protests wird einerseits heruntergespielt, andererseits die angebliche Gefährlichkeit der Gruppe übertrieben. Oft folge simple »Nichtberichterstattung«. Krüger ergänzt diese Großtechniken des berichterstattenden Gewerbes um kleinformatige Formen der Kommunikation (Hintergrundgespräche, Vier-Augen-Treffen) und geht all diesen Thesen und Vermutungen – bezogen auf die Lage in Deutschland – dann anhand einer empirischen Untersuchung nach:
Welcher Top-Journalist sitzt in welchen Gremien, Vereinen, Räten, sonstigen Netzwerken? Welchem sozialen Milieu entstammen diese Taktgeber (erwartbar: homogen)? Welche Partei (2005: 36 Prozent Grüne) präferieren sie?
Krügers Doktorarbeit war – logisch – einer strikt wissenschaftlichen Vorgehensweise verpflichtet. Weil das Werk dadurch a) jeglichen unbelegbaren »Verschwörungswissens« entbehrte und dennoch b) auch für den Laien gut rezipierbar sich darstellte, wurde diese Dissertation zu einem gewissen Geheimtip.

2016 hat der Autor nun mit Mainstream – warum wir den Medien nicht mehr trauen, publiziert in einem großen Publikumsverlag, nachgelegt und seine Befunde nicht nur leserfreundlich zusammengefaßt, sondern um massenpsychologische Befunde erweitert.
Krüger lehnt die polemische Rede von der »Lügenpresse« ab, zumal es hier und heute weder Zensur noch direkte Lenkung gebe. Und, klar, wer (selbst gewohnheitsmäßig) nur einen Teil des Ganzen abbildet, ist noch kein Lügner, sondern eher ein Ausblender oder Verschweiger. Krüger spricht lieber von »Mainstream«, »hoher Konformität« und einem »Meinungskorridor«. Wie kommt’s? Daß auch subalterne Berichterstatter (die nicht an Elitenklüngeln beteiligt sind) sich an dieser besorgniserregenden »Meinungskonsonanz« beteiligen?

Der Wissenschaftler spricht von einem sozialen Konformitätsdruck, dem eben nicht nur Rezipienten, sondern auch die Seite der Meinungsmacher ausgesetzt sei. Wer schreibend oder sendend auf den etablierten Common sense einschwenke, arbeite als Journalist innerhalb einer »Niedrigkostensituation«: »Er kann offensiv agieren, ihm steht eine breite Palette etablierter Argumente und bekannter Phrasen zur Verfügung.« Standpunkte einer Gegenöffentlichkeit hingegen bewegen sich für den Journalisten in einer »Hochkostensituation«: Argumente müssen besonders sorgsam und defensiv aufgebaut werden, und als Abweichler läuft man dabei Gefahr, sozial sanktioniert zu werden. Die Rolle als »schwarzes Schaf« innerhalb einer Redaktion muß man sich leisten wollen!

Krüger geht davon aus, daß es sich hierbei um selbsttätige Mechanismen handelt, die den wenigsten Medienmenschen überhaupt bewußt seien: »Man kann sich und den Betrieb, in dem man steckt, schwer selbst beobachten.« Daß in den Leitmedien (FAZ, Spiegel, SZ, Die ZEIT, Fernsehtalkshows) »auch mal eine andere Meinung« zu Wort kommt, ist für Krüger übrigens mitnichten ein Beleg für echte Pluralität, sondern ein Beweis dafür, daß die Ausnahme die Regel bestätigt und mithin systemstabilisierend wirke. Solcherart sieht er eine wichtige Funktion der Medien in die Binsen gehen: indem nämlich die Rolle des »Aufpassers« zu der des »Anpassers« wird.

Insgesamt sieht Krüger ein Gestell aus Konformitätsdruck, Erziehungsabsichten und handfester Lobbyarbeit ins Werk gesetzt, die unsere Medienlandschaft zu einer Art Kartell betonierten. Burkhard Müller-Ullrich, jener wortmächtige Achse-des-Guten-Autor, der bereits in den Anfangszeiten des Internets ein fulminantes Buch über Gesinnungstäter im Journalismus vorgelegt hatte, faßt den Dreiklang ein wenig anders; nämlich wahlweise als »Feigheit, Naivität und gute Absicht« oder als »Weltanschauung, Arroganz, Angst«.

Müller-Ullrich weist im übrigen auf ein anderes, nicht zu geringschätzendes Phänomen hin: »Alles Veröffentlichte wird immer dümmer, weil es von immer jüngeren Autoren stammt.« Wie wahr!

Überdeutlich sichtbar ist, daß selbst als aufwendig gepriesene Rechercheartikel etwa in der ZEIT oder dem Spiegel immer häufiger aus der Feder halbflügger Jüngstjournalisten stammen, die der Generation Bildungslücke angehören und sämtliches Halbwissen zusammengegoogelt haben: »Wenn die Fernsehzuschauer eine Ahnung hätten, wieviel Lebenserfahrung den als Stimmen aus dem Off so autoritativ wirkenden Dokumentarfilmern tatsächlich zu Gebote steht [Müller-Ullrich schlägt vor, politische Bewertungen oder »abschätzige Bewertungen« mit dem Lebensalter des Kommentierenden zu kennzeichnen], würde wahrscheinlich eine Revolte ausbrechen.«

Naja. Revolten haben bekanntlich ein besonderes Brutgeheimnis. Man vergleiche bitte im Rahmen der Berichterstattung die Unterschiede in den medialen Reaktionen auf friedlich-empörte »Lügenpresse«-Rufe der PEGIDA mit den gewalttätigen Attacken gegen die »Springer-Presse« von anno 1967ff.

Die viel später, 1978, gegründete taz etwa trat mit dem Anspruch an, »eine linke, auch radikale« Gegenöffentlichkeit zu vertreten – dort waren sogar RAF-Mitglieder mit langjähriger Knasterfahrung an Bord: Wagnisse, die für die Gegenseite undenkbar wären. Heute, so taz-Chronist Jörg Magenau, sei die tazsche »Gegenöffentlichkeit« kein »Dagegen«, sondern ein »selbstbewußtes Mitspielen« innerhalb des Konsenses.

Vielleicht deshalb war jene Ausgabe, die einmalig 2003 redaktionell den »Lieblingsfeinden« wie Kai Diekmann und Hans-Olaf Henkel übergeben wurde (unausgesprochenes Motto: »Alles Spiel!«), die bestverkaufte Einzelausgabe.

Die in manchen Kreisen gängige Rede von der »Lizenzpresse« dürfte übrigens nicht weiterführend sein. Bis Herbst 1949 war die Herausgabe von Druckmedien von einer Genehmigung der jeweiligen Besatzungsmacht abhängig gewesen. Damit sollte verhindert werden, daß überzeugte Nationalsozialisten wieder an die Schalthebel einer »vierten Macht« kämen.
Die neuen, bald (und bis heute) großen Medienmänner jedoch waren keineswegs ausgewiesene NS-Gegner. Augstein etwa war Träger des Eisernen Kreuzes, Nannen hatte für den Völkischen Beobachter Durchhalteparolen verfaßt, Holtzbrinck war Mitglied im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, Bertelsmann gab es seit 1835, und auch Franz Burda gründete sein erstes Blättchen bereits 1927. Selbst Axel Springer wurde erst deutlich später zum ausgewiesenen Philosemiten.
Daß all die genannten Medienfürsten heute – mehr oder minder – mit ihren Blättern grosso modo für eine One-World-Agenda stehen, steht auf einem anderen Blatt, mit den Lizenzen von damals dürfte es wenig zu tun haben.


Der US-amerikanische Politologe Joseph Nye hatte 1990 den Begriff der Soft power als Gegensatz zur Hard power eingeführt. Nye war einst Vorsitzender des National Intelligence Council, später stellvertretender US-Verteidigungsminister, heute ist er Direktor der Aspen Strategy Group. Etabliert hatte Nye den Terminus in seiner 2004 erschienenen, unübersetzten Schrift Soft Power. The Means to Success in World Politics (etwa: »Weiche Macht. Wie man erfolgreich Weltpolitik betreibt«) und späterhin in seinem auch auf Deutsch erschienenen Buch Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein Neues Zeitalter (2011).
Während Hard power militärische, wirtschaftliche und industrielle Macht umfaßt, soll die smarte Soft power sämtliche Globalisierungseffekte attraktiv flankieren. Hier geht es um die komplexen, oft subkutanen Interdependenzen zwischenstaatlicher Beziehungen – letztlich um einen Imagegewinn zugunsten der US-Einflußsphäre. Die Mechanismen der Soft power greifen nicht über Zwang, sondern – ganz im Gegenteil – über Anziehungskraft.

Die Einflußnahme geschieht nicht über Gesetze oder echte Eingriffe, sondern subtil über medial vermittelte Werte wie Freiheit, Individualismus, soziale Mobilität oder die Intergration von Minderheiten. Institutionen wie Google, YouTube und Facebook dienen laut Nye als Katalysatoren in dieser »Geopolitik der Kultur« (Frédéric Martel).

Womöglich jedoch spielen die leitmedialen Kommentatoren, Themensetzer, scheuklappenbehängten Reporter und selbst der Schwarm der Nach-Twitterer und Folgefreunde eine weit geringere Rolle in der Etablierung von Standpunkten, Annahmen und Emotionen, als man mit Blick auf die Politmedien und Tagesmeldungen anzunehmen geneigt ist.
Man sollte nicht vergessen, daß das Interesse an politischen oder metapolitischen Fragen auf eng begrenzte Milieus beschränkt ist. Die weltweit größte Partizipation findet im Rahmen der Konsum- und Unterhaltungsindustrie statt.
Hier wirken die – lässig gestreuten – Inhalte subkutan und umso mächtiger. Daß beispielsweise Pepsi Ende der sechziger Jahre in seiner Reklame die sogenannten People of Colour als Marktsegment entdeckte, daß der rasante Aufstieg der Multiplexkinos mit ihren filmischen Botschaften (jeden Tag[!] wurde in China eines eröffnet, schrieb der Soziologe Frédéric Martel 2010; für Brasilien, Mexiko und Ägypten verzeichnet er eine ähnliche Entwicklung) bis heute unaufhaltsam ist, daß Disney zigmal mehr Kinderherzen erreicht als jede Verlautbarung der Bundeszentrale für politische Bildung oder Zeit Leo oder Dein Spiegel: Die Durchschlagskraft solcher Propagandawirkung liegt auf der Hand.

Eins von zigtausenden Beispielen: Ich bin nicht sicher, wie viele Leser die linken und offenkundig in ideologischer Absicht schreibenden Topkolumnisten auf Spiegel Online erreichen (ein paar Tausend? Gar fünfstellig?). Das neue Video des Singesternchens Rihanna jedenfalls (in der Hauptsache zeigend, wie sich der Sängerinnenpopo am kleidungsbedeckten Glied eines schwarzen Mannes reibt) ist kurz nach Veröffentlichung rund 260 Millionen mal angeschaut worden. Was sind dagegen Worte? Gründe? Argumente? Gegenöffentlichkeiten?  EK

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