Stationen

Sonntag, 24. Juli 2016

Sloterdijks (Sch)wanken


Jede politische Wende fußt auf einem geistigen Paradigmenwechsel. Jede weltanschauliche Richtung, die ein anderes Deutschland als jenes will, das derzeit in den Medien herbeigeschrieben und durch die Regierung in einer Art Staatsstreich gegen das eigene Volk herbeigeführt wird, muß eine Wende-Stimmung erzeugen und ausreichend starke Verbündete unter den Publizisten und Intellektuellen rekrutieren, denen sie die Plazierung der neuen Begriffe und Deutungen zutraut.


Konzentrieren wir uns auf diese Köpfe und unter diesen auf die Kippfiguren in krisenhafter Zeit. Es kippen jene auf die Seite einer Wende, die nicht viel zu verlieren haben und als sogenannte »freischwebende Intelligenz« in prekärer Lage sind. Wo das Lied dessen, der kein Brot mehr geben kann, nicht mehr gesungen werden muß, entstehen neue, freiere Melodien.
Diese aus Perspektivlosigkeit mutigen Leute hoffen auf eine Perspektive im sich formierenden Gegenmilieu, und konkret sind es die AfD (mit ihren Referentenstellen) und verschiedene publizistische Projekte, die da etwas anbieten und dadurch Köpfe an sich binden können.

Anders verhält es sich mit jenen, die gutdotierte Positionen einnehmen und nicht aus materiellen oder rachsüchtigen Gründen den Ton der Wende ausprobieren. Sie kippen, weil sie Witterung aufgenommen haben. Dieses Gespür für den Ton von morgen hat sie meist erst in die Position gebracht, von der aus sie das geistige Klima im Lande prägen können.

Es ist viel über die Daseinsberechtigung und das Selbstbild von Intellektuellen in einer Zeit geschrieben worden, die ihrer nicht zwingend bedarf. Das Technokratische, die gesellschaftliche Verfahrensfrage, die ökonomischen Zwänge haben den nachreichenden oder spekulierenden Deutern »Spielplätze höherer Ordnung« zugewiesen, um wieder einmal Arnold Gehlen zu zitieren.
Kippen bedeutet: etwas ahnen, etwas wittern, zu den ersten gehören wollen, die Schnauze voll haben von der Lügerei und dem Vertuschen, dem miesen Kampf auf der hohl gewordenen, etablierten Seite, und der denkfaulen und phrasigen Lässigkeit, mit dem man den totalen Sieg gegen die Aufbegehrenden abzusichern gedenkt.
Es gibt einen durchaus verbreiteten intellektuellen Ekel vor dem allzu unbemühten Denken, es gibt ein echtes Interesse und gar eine Lust am neuen, mutigen, herausfordernden und selbstbewußten Ton, an der Suche nach einer neuen Begrifflichkeit für die vernebelte Wirklichkeit und am Aufbrechen, Parodieren oder Unterminieren des schlagartig unsauber klingenden Jargons.
Peter Sloterdijk war im Februar eine Kippfigur, und was für eine! Er ist einer der wichtigsten und inspirierendsten Köpfe, die unser Land aufzubieten hat, und er hat stets in unsere Richtung gewirkt. Seine Werke Zorn und Zeit (2006), Du mußt dein Leben ändern (2009), Die schrecklichen Kinder der Neuzeit (2015) oder auch der Sammelband Was geschah im 20. Jahrhundert? (2016) gehören zum Kernbestand unseres Bücherschranks, seine Essays und Interviews werden mit derselben Aufmerksamkeit registriert und bedacht wie die von Botho Strauß, Martin Mosebach, Rüdiger Safranski und anderen.
Im Februar nun gab Sloterdijk dem Magazin Cicero ein Interview zur Lage der Zeit. Die Flüchtlingswelle schwappte als Schock auf breite Teile der Bevölkerung über, die nach einer Deutung der Vorgänge verlangten, oder vielmehr: Nach einem Wort der Versicherung darüber, daß man irgendwo die Sache doch im Griff habe. Sloterdijk wäre nun nicht der Meister der Konsensstörung, wenn er dieses Bedürfnis befriedigt hätte. Er tat das Gegenteil. Ein paar Zitate?
Die Kölner Phänomene sind wahrscheinlich auch darum so kränkend, weil sie mit einem offenen Rückfall in die Wehrlosigkeit einhergehen.
Jetzt entscheidet der Flüchtling über den Ausnahmezustand. Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben. Diese Abdankung geht Tag und Nacht weiter. Bis zum Ende unseres kurzen Gesprächs werden tausend Flüchtlinge mehr die Grenze überschritten haben.
Herr Juncker von der Europäischen Kommission hat es definitiv erklärt. Zitat: „Wenn es ernst wird, musst du lügen.“ Juncker ist kein Zyniker. Er ist ein redlicher Arbeiter in der wahrheitslosen Sphäre, die man Politik nennt. Insofern fast ein Journalist.
Europa ist falsch formatiert. … Je mehr Flüchtlinge zu uns kommen, desto labiler wird Europa zur Freude seiner Rivalen. Darum lobt Obama Frau Merkel. … Eines Tages wird man nachlesen können, wer die Flüchtlingsströme gelenkt hat.
Auf die Dauer setzt der territoriale Imperativ sich durch. Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung.
So schreibt man nicht, wenn man nur wahrnimmt und beschreibt. Sloterdijks Vokabular war nicht das eines Seismographen, sondern das eines frühen Gastes, der vorn, wo man alles sieht und wo man gesehen wird, noch die freie Platzwahl haben will. Kein Gedränge, sondern ab und an sich umdrehen und schauen, wie der Saal sich füllt und wer zu spät kommt.
Aber: Es kamen nicht viele nach, mag sein: noch nicht, und unter denen, die kamen, waren ein paar peinliche Gestalten. Jetzt schreiben wir den Juli, der Protest übersommert, aber das ist nichts für Peter Sloterdijk. Mit einem Beitrag für das Handelsblatt hat er den Saal verlassen, und zwar so ungeschickt und fuchtelnd, daß man Mitleid kriegt. Der Rhythmus seiner Sprache ist gestört, man merkt ihr an, daß sie ihm nicht dienen wollte für diesen peinlichen Anlaß. Ein paar Zitate?
Das Eindringen des Exerimentellen, Unsoliden, ja des Neurotischen in den politischen Raum ist in Europa durchaus nicht beispiellos.
(S. meint nicht die Bundesregierung, sondern patriotische Projekte.)
Experimentelle Demokratie heißt: ungewollte Ergebnisse wie die Resultate einer Vernunftmehrheit hinnehmen müssen.
(S. meint nicht die Asylkatastrophe, sondern den Brexit.)
Mit denen, die definitiv aus der Realität austreten wollen, sind Verhandlungen sinnlos.
(S. meint die AfD im allgemeinen und Marc Jongen im besonderen.)
Aus meiner Verwerfung der AfD habe ich nie ein Geheimnis gemacht.
(Da war einer nie im Saal, oder? Da kommt einer wieder, wetten?)  GK

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