Stationen

Sonntag, 17. Juli 2016

Wir haben diese Koryphäe in Deutschland und sind zu blöd, um von ihm zu lernen


WirtschaftsWoche Online: Als geborener Syrer sprechen Sie vermutlich oft mit arabischstämmigen Flüchtlingen in Deutschland. Sie sind aber auch häufig in arabischen Ländern. Welche Vorstellungen herrschen dort über die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und Europa?
Bassam Tibi: Ich war im März und April als Gastprofessor an der American University in Kairo. Wenn man vom Flughafen in die Stadt fährt, sieht man unglaublich viele Werbeplakate – mehr als in Berlin, Frankfurt oder Düsseldorf. Das gilt nicht nur für Kairo, sondern auch für Algier, Lagos, Jakarta. Diese Werbung auf Plakaten und in den Medien zeigt schöne Häuser, schöne Frauen, schöne Autos. Die Leute dort bekommen also die Vorstellung: Europa ist das Paradies, da liegt das Geld auf der Straße. Ich habe in Kairo mit vielen jungen Menschen, mit Studenten gesprochen. Aber auch mit Bettlern. Es hat sich herumgesprochen – durch Frau Merkel – dass die Türen nach Deutschland auf sind. Und die Leistungen und die Funktionen des deutschen Sozialstaates sind sehr bekannt. Die Leute wissen das alles genau. Aus dieser Mischung: Werbung auf der einen Seite und einer Bundeskanzlerin, die sagt: Willkommen! ergeben sich natürlich Anziehungseffekte.
Aber die Mehrheit der hier Ankommenden will doch arbeiten, oder etwa nicht?
Man muss differenzieren. Die jüngeren Leute hoffen, Arbeit zu finden und Karriere zu machen. Aber ich kenne hier in Göttingen einige Araber und Afrikaner, die ihre Familie dabei haben und so um die 50 Jahre alt sind. Die sagen, sie können nicht arbeiten. Die haben keine berufliche Perspektive. Sie können nicht Deutsch, haben keinen Beruf. Außerdem bekommen sie mit Frau und vier Kindern so viel Unterhalt wie ich als pensionierter Professor.
Der Migrationsforscher Ruud Koopmans sieht im Gegensatz zu vielen anderen den Islam als Integrationshindernis. Ist da was dran?
Ich sehe das auch so. Als mir der frühere Bundespräsident Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz verlieh, sagte ich ihm: Ich breche eine islamische Regel, indem ich Sie als mein Staatsoberhaupt anerkenne. Ein Muslim kann nur unter der Führung eines islamischen Imam leben. Das hat mit Fundamentalismus gar nichts zu tun. Nach dem Scharia-Recht dürfen Muslime eigentlich nicht auf Dauer in einem nicht-islamischen Land leben – nur vorübergehend. Und wenn sie das tun, dürfen sie sich nicht integrieren. 
Wie dominant ist Ihrer Einschätzung nach diese Auffassung bei den jetzt einwandernden Muslimen?
Ich fürchte, die Mehrheit vertritt das. Das ist keine Frage der Bildung. Es gibt eine islamische Sozialisation, die bildungsunabhängig ist. Ich habe in meiner 40-jährigen Laufbahn als Wissenschaftler in 22 islamischen Ländern gelebt und gearbeitet. In Senegal, Kamerun, Nigeria, in fast allen arabischen Ländern, in Pakistan, in Indonesien. Auch Analphabeten sind dort sozialisiert in einem islamischen Wertesystem. Als Muslim weiß man, dass man einen Nichtmuslim als Staatsoberhaupt nicht akzeptiert.
Zu Max Webers Zeiten vor etwa 100 Jahren diskutierte man viel über den Einfluss der Religionen auf die Wirtschaft. Weber unterstellte, dass der Islam die wirtschaftliche Entwicklung bremse – vor allem weil es kein „profanes Recht“ und keine Ethik der Leistung wie im Calvinismus gebe - Stichwort „innerweltliche Askese“.
Die Gegenstimme zu Weber ist einer meiner Lehrer: Maxime Rodinson mit seinem Buch „Islam et Capitalisme“. Er mogelt sich um eine eindeutige Antwort herum. Der Islam ist seiner Ansicht nach eingebettet in die Tatsache, dass es keinen Kapitalismus gibt in der islamischen Welt. 1987 haben deutsche Soziologen gemeinsam mit Rodinson ein Buch über „Max Webers Sicht des Islams“ veröffentlicht. Die waren mehrheitlich der Ansicht, dass Religion für die wirtschaftliche Entwicklung eine wichtige Rolle spielen kann. Das denke ich auch. Ich bin zwar sonst Anhänger von Rodinson, aber in dieser Frage stimme ich nicht mit ihm überein.

Im Protestantismus gibt es eine Ethik der Arbeit. Wie ist das im Islam?
Zur islamischen Ethik gehört auch: Man muss arbeiten. Zum Aufruf zum Gebet „Hayya 'ala s-salat“ gehört auch der Aufruf „Hayya 'ala al – Falah“. „Falah“ bedeutet „schaffen, arbeiten“. Man könnte das also auch als: „An die Arbeit!“ übersetzen. Die islamische Ethik ist gegen Faulheit. Das Problem liegt woanders.
Und zwar?
Nach Max Weber ist Berechenbarkeit eine zentrale Voraussetzung für eine moderne Gesellschaft. Wirtschaftsbeziehungen müssen berechenbar sein. Das gibt es in islamischen Gesellschaften nicht. Da heißt es „In scha'a llah“  - wenn Allah will. Wenn jemand fragt: Werden wir Erfolg haben?, sagt man: „Tawakkal-'Ala-Allah“  - Verlasse dich auf Allah. Das Problem für die wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit ist das Menschenbild des Islam, das sich vom europäischen sehr unterscheidet. Im Islam gehört der Mensch immer zu einem Kollektiv. Ich selbst habe auch erst in Frankfurt gelernt, dass ich ein Individuum bin. Für Immanuel Kant gehört zu diesem Prinzip des Individuums, dass der Mensch autonom ist, also verantwortlich für sein Verhalten. Im Islam ist es umgekehrt: Ich bin ein "Makhluq", ein Geschöpf Gottes. Allah steuert mich. Wenn ich Erfolg habe, ist es der Wille Gottes. Ein Unternehmer ist ein Individuum, das verantwortlich für sein wirtschaftliches Verhalten ist. Das gibt es im Islam nicht.

Ihr Vater war ein erfolgreicher Bau-Unternehmer, ein Self-Made-Man.
Meine Vorfahren sind Aristokraten. Im Islam definiert sich das durch religiösen Status. Die höchsten Ämter sind der Kadi, also der Richter, und der Mufti, der Rechtsgelehrte, der die Fitwas, also Rechtsgutachten erstellt. Vom 13. bis 19. Jahrhundert gehörten alle führenden Kadis und Muftis der Stadt Damaskus zur Familie Tibi. Mein Großvater war Pascha, also General der osmanischen Armee. Er ist 1907 im Jemen im Krieg gefallen. Mein Vater ist im selben Jahr geboren. Die Familie war verarmt. Schon als 14-Jähriger hat mein Vater alte Häuser abgerissen und das Material als Baumaterial verkauft. Er ist Millionär geworden.
Wie wurden Sie erzogen?
Ich hatte eine islamische Erziehung, ging aber auf die französische Schule in Damaskus. Nach dem ersten Abschluss bekam ich ein Fahrrad. Die Schulnoten entschieden darüber, wie viele Runden ich mit dem Fahrrad fahren durfte.  Leistung wurde belohnt. Ich habe in meiner Erziehung im Elternhaus das Leistungsprinzip von meinem Vater verinnerlicht. Ohne Leistung bekam ich nie etwas.
Haben sich die Bedingungen für Unternehmer seither verschlechtert?
Bis die Alawiten, also Assad, an die Macht kamen, beherrschten mein Vater und seine Brüder den ganzen Bau-Sektor von Damaskus. Das Assad-Regime hat unsere Familie kaputt gemacht. Nicht weil wir Unternehmer, sondern weil wir Sunniten waren. Da kommt also wieder die Religion ins Spiel. In Syrien unter Assad hat man als Unternehmer keine Chance, wenn man nicht Alawit ist.
Der Basar, also der Markt, spielt in arabischen und anderen orientalischen Gesellschaften  eine zentrale Rolle. Wieso ist aus dieser Basar-Kultur keine kapitalistische Gesellschaft entstanden? 
Denken Sie an Max Weber und sein Argument der Berechenbarkeit. Wer auf dem Basar einkauft, kann seine Ausgaben nicht im Voraus berechnen, denn er muss immer handeln. Betrug ist das oberste Prinzip des Basars. Deutsche Touristen sind vielleicht glücklich, wenn sie dort etwas für 100 statt 200 Euro kaufen. Aber tatsächlich ist das vermutlich nur 10 Euro wert.

Die Reformation spielte eine zentrale Rolle bei der Entstehung des Kapitalismus in Europa – so zumindest die Ansicht von Max Weber. Wäre eine islamische Reformation auch die Bedingung für einen dynamischeren Kapitalismus in den betreffenden Ländern?
Ich bin dieser Auffassung. Der erste Schritt dazu ist eine Änderung des Menschenbildes: Nicht mehr der von Gott gesteuerte Mensch, sondern ein für sein Handeln verantwortlicher. Es gab dafür schon im frühen Mittelalter Ansätze. Der islamische Mystiker al-Halladsch berichtete von einem Gespräch mit Gott: „Ich habe ihn gefragt: Wer bist Du? – Er sagte: Ich bin Du“. Gott wird also vermenschlicht und der Mensch damit zum Individuum. Al-Halladsch wurde deswegen im Jahr 920 in Bagdad hingerichtet.

Welche Rolle spielt der Westen für die Rückständigkeit der arabischen und anderen islamischen Länder?Heute behaupten viele deutsche Islamwissenschaftler ebenso wie die Islamisten, das Problem sei der Westen, der die Entwicklung in der islamischen Welt behindere. Das ist Unsinn. Das große islamische Imperium mit Bagdad als Hauptstadt ist im 13. Jahrhundert untergegangen. Damals gab es keinen Kolonialismus. Einige Leute sagen dann: Es gab den Vorgänger des Kolonialismus, nämlich die Kreuzzüge, die die Entwicklung der Muslime behindert hätten. Aber die Kreuzritter wollten nach Jerusalem, nicht nach Bagdad. In meinem Buch „Kreuzzug und Djihad“ berichte ich die Geschichte eines damaligen Imams in der Moschee von Damaskus, der mitten im Gebet plötzlich eine Flasche Wein trank. Die Gläubigen fielen über ihn her. Da sagte er: Ihr regt euch über Wein in der Moschee auf, aber nicht über unseren Kalifen in Bagdad, der nichts gegen die Kreuzritter tut. Der Kalif wusste eben, dass die nicht zu ihm nach Bagdad wollten. Nein, die Kreuzzüge waren nicht der Grund der Unterentwicklung. Der Niedergang der islamischen Zivilisation hatte interne Ursachen.
Der Iraker Ali Allawi hat ein Buch über „The Crisis of Islamic Civilization“ geschrieben. Er sagt:  Wir müssen aufhören, immer die Schuld bei anderen zu suchen. 90 Prozent unserer Probleme sind selbstverschuldet. Die westliche Dominanz ist ein Faktor, aber die Hauptfaktoren sind innere. Der größte islamische Denker des 19. Jahrhundert, al-Afghani, forderte schon damals: Wir sollten aufhören, den Kolonialismus als Ursache unseres Elends anzusehen. Für ihn war Kolonialismus die Herrschaft von starken Völkern über schwache Völker. Die Herrschaft von Völkern, die über Wissen verfügen, über unwissende Völker. Ich vertrete auch diese Position.

Kommen wir in die Gegenwart zurück. Unterscheiden sich Sunniten und Shiiten in ihren Ansichten über grundsätzliche ökonomische Fragen?
Nein. Die Unterschiede beziehen sich auf sektiererische Fragen. Zum Beispiel ob die Prophetie mit Mohamed zu Ende ging, oder durch die Imame fortgesetzt wird. Aber sie unterscheiden sich nicht in ihrer theozentrischen, also an Gott orientierten Weltanschauung: Die Menschen sind Schachfiguren, Gott ist der Schachspieler. Die europäische Weltanschauung ist am Menschen orientiert. 
Die modernen islamischen Bewegungen, die Muslimbrüder vor allem, behaupten, einen Ausweg aus dem Elend zu kennen.
Die Hauptparole der Islamisten von der Muslimbrüderschaft lautet: Es gibt eine Krise, es gibt Elend und „Al-islam huwa al-hal“ – Der Islam ist die Lösung. John Waterbury, früher Professor in Princeton und dann Präsident der American University of Beirut, hat die Muslimbrüderschaft in seinem Buch „A Political Economy of the Middle East“ sehr genau untersucht, aber er konnte überhaupt keine ökonomische Strategie entdecken. Also sagt er: Nein, der Islam ist nicht die Lösung.
Als Grund für die Rückkehr des Islams in die Politik wird meist das Trauma der Araber wegen der Niederlage gegen Israel im 6-Tage-Krieg 1967 genannt. Spielten da auch ökonomische Gründe, also das Scheitern der sozialistischen Experimente in Ägypten und Syrien eine Rolle?
Ja. Die Niederlage Ägyptens gegen Israel unter Nasser hatte nicht nur rein militärische, sondern auch wirtschaftliche Ursachen. Das wirtschaftliche Versagen ging dem militärischen schon voraus. Mit dem 6-Tage-Krieg begann der Zusammenbruch der säkularen arabischen Regime. Daraufhin entstand ein Vakuum mit Machtkämpfen zwischen drei Kräften: die alten Regime, der politische Islam und eine neu entstandene arabische Linke. Ich war ein Teil dieser linken Bewegung. Ich wollte damals nicht in Deutschland bleiben, ich schrieb arabisch. Wir, die Linken, haben verloren. In einem Artikel in der Zeit habe ich das beschrieben. Ab 1970 begann dann der Aufstieg des Islamismus.

Wir erleben seit einigen Jahren den Zerfall mehrerer islamischer Staaten. Sie haben das schon vor vielen Jahren vorausgesagt. Was ist die Ursache?
Das Hauptproblem in der Welt des Islam ist doch dieses: Ein geringes Wirtschaftswachstum und ein riesiges Bevölkerungswachstum. Beispiel Ägypten: Ich war in diesem Jahr nach 10 Jahren Unterbrechung dort. In der Zwischenzeit hat die Bevölkerung von rund 80 auf 96 Millionen Menschen zugenommen. Aber die wirtschaftliche Entwicklung war im gleichen Zeitraum gering. Diese Diskrepanz ist auch das Hauptmotiv nach Europa zu kommen. Und die große Schere zwischen demographischer und wirtschaftlicher Entwicklung zerstört die Legitimation des Staates. Zur Ursachenbekämpfung der Migration, über die Angela Merkel immer redet, gehört eine gesunde Proportion von wirtschaftlicher und demographischer Entwicklung. Ich weiß nicht, wie Merkel das machen will.
Wird der Zerfall weitergehen?
Es werden noch weitere Staaten zerbrechen. Ägypten ist stabil, Marokko auch. Aber in den nächsten zwei oder drei Jahren könnte es in Jordanien passieren. Irgendwann wird auch Saudi-Arabien zerfallen und die Staaten am Golf. In Kuweit und den Vereinten arabischen Emiraten sind nur rund 20 Prozent der Bevölkerung Einheimische, die große Mehrheit sind Ausländer aus Asien und Afrika. Wie lange werden die sich noch unterdrücken lassen? Noch halten die Regime mit Geld aus den Öl-Einnahmen die Entwicklung auf. Mein Freund Volkhard Windfuhr, der für den Spiegel aus islamischen Ländern berichtete, prophezeit, dass als nächstes die Türkei zerfallen wird. Erdogan trägt zur Destabilisierung bei.
Sie sind sehr pessimistisch.
Die Meinungsführer in Deutschland wollen über diese Dinge nicht reden. Positiv denken, lautet die Devise. Aber dadurch verschwinden die Fakten nicht. WirtschaftsWoche

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