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Donnerstag, 18. August 2016

„Auf dem Lande“ spottete einst Arnold Stadler



„Aus der Idylle entspringt der Zorn“, umschrieb das „Manager Magazin“ die Situation. In vielen europäischen Ländern ist es in den vergangenen Jahren zu einer regelrechten Landflucht gekommen. Das schlägt sich auch in den Wahlergebnissen nieder.

Deutlich wurde das Phänomen bei der Abstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union. Während die Hauptstadt und Weltmetropole London gegen den Brexit votierte, stimmte die Landbevölkerung mit überwältigender Mehrheit dafür. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusam­menarbeit und Entwicklung (OECD) ist dieser Trend eine indirekte Folge der Globalisierung: „In den Großstädten, den Knotenpunkten der Weltwirtschaft, ist die Produktivität viel höher; die Einwohner Londons beispielsweise produzieren pro Kopf fast das Fünffache des britischen Durchschnitts“, heißt es in einer Analyse. Das Wirtschaftswachstum konzentriere sich zunehmend auf die Metropolen, der ländliche Raum liefe Gefahr, „abgehängt“ zu werden.
In Frankreich sieht die Situation ganz ähnlich aus. Mehr als die Hälfte des Anstiegs des Bruttoinlandproduktes entfällt demnach auf den Speckgürtel rund um die Hauptstadt Paris. Das ländliche Frankreich – im Volksmund „la france profonde“ genannt, kommt auf wesentlich niedrigere Zahlen.
Es ist dabei eine irrige Annahme zu glauben, dass die Menschen auf dem Land zwangsläufig unzufriedener seien. Gerade in nach wie vor landwirtschaftlich geprägten Gebieten gibt es ein Gefühl der Idylle, eine Mentalität nach dem Motto: „Hier ist die Welt noch in Ordnung.“ Andererseits gibt es in Frankreich und in England traditionell industriell geprägte Regionen mit erheblichen strukturellen Problemen. Alte Bergbauregionen im Norden Frankreichs haben mit dem Strukturwandel ebenso zu kämpfen wie brachliegende, einstige Stahlhochburgen in Großbritannien.
Diese Gemengelage spiegelt sich in Wahlergebnissen. Die EU-kritische Unabhängigkeitspartei Ukip ist sowohl dort stark, wo Frustration herrscht, als auch dort, wo Verlustängste herrschen. In London, einem Hauptschauplatz internationaler Finanztransaktionen, tut sich die Partei traditionell schwer. In Frankreich punktet Marine Le Pen mit ihrem Front National (FN) gleichermaßen in idyllischen Landregionen und Orten mit strukturellen Problemen. Die Hauptstadt Paris, im zentralistischen Frankreich der Dreh- und Angelpunkt, bleibt dagegen für den FN terra incognita.
In Österreich erzielte Norbert Hofer von den Freiheitlichen bei der Bundespräsidentenwahl herausragende Ergebnisse in der Provinz. In der Hauptstadt Wien hatte der Gegenkandidat Alexander van der Bellen die Nase vorne. In Italien punktete die Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo zunächst gleichermaßen in den armen Regionen des Südens und den klassischen Landwirtschaftsgebieten im Zentrum. Bei den kürzlich stattgefundenen Kommunalwahlen eroberte die Protestpartei dann aber den Bürgermeistersessel in der Hauptstadt Rom. Seitdem rätseln Experten, ob es sich um einen Zufall oder ein neues Phänomen handelt. 

Die Löhne sind in den europäischen Hauptstädten deutlich höher als auf dem Land. Entsprechend wohlhabender seien die Städter im Durchschnitt, schreibt die OECD. Höher gebildet und zufriedener mit ihrem Leben seien sie auch. Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass die Situation in Deutschland noch vergleichsweise gut sei. Doch auch im Osten der Bundesrepublik ist seit Jahren von der Landflucht die Rede. Dort schneidet die Alternative für Deutschland überdurchschnittlich gut ab, dort hat auch die NPD, die im Westen keine Rolle spielt, ihre Hochburgen. Seit dem Fall der Mauer hätten über 1,5 Millionen Menschen ihre alte Heimat in den neuen Bundesländern verlassen – rund zehn Prozent der Bevölkerung zum Ende der DDR-Ära, erklärt das Berlin-Institut. Gegangen seien vor allem junge, qualifizierte und weibliche Personen. Es herrsche Männerüberschuss. Dies sei der Hauptgrund für Frustration und Protest.
Prognosen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) kommen au­ßerdem zu dem Schluss, dass weite Teile Deutschlands in den kommenden zwei Jahrzehnten zu ziemlich menschenarmen Landschaften zu verkommen drohen. Bislang seien die Differenzen bei den verfügbaren Einkommen noch relativ gering, deutlich kleiner etwa als in Großbritannien, Frankreich oder Polen. Dass ein stärkerer Zuzug von Ausländern dieses Problem beheben könnte, glauben die Forscher jedoch nicht. Auch diese ziehe es eher dorthin, wo es Arbeit und Aufstiegschancen gebe – in die Ballungsgebiete.    Peter Entinger

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