Stationen

Mittwoch, 17. August 2016

Du

Kommende Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – und wenn es nicht mehr ist als das Wörtchen Du, mit dem man sich im 375.000-Mitarbeiter-Reich der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) seit wenigen Wochen untereinander anreden darf, nein: soll. Gruppenchef Gehrig ist jetzt der Klaus, Lidl-Chef Seidel der Sven und Kaufland-Chef Kaudewitz der Patrick.
Das distanzierte Sie nach alter deutscher Sitte fällt unter den Tisch; höchstens nach der Kündigung wird es wieder hervorgeholt. Und das Ganze ist mehr als eine Fußnote. Wenn so ein beinharter Laden wie die Neckarsulmer Discounter-Gruppe (weiter weg vom Prenzlberg geht nicht) sich derartigen Flausen öffnet, denken die sich was dabei.

Wie Olof Palme, der Ende Oktober 1969, einen Tag nach der Ernennung zum schwedischen Ministerpräsidenten, im Fernsehen sinngemäß sagte: Ihr könnt jetzt alle Du zu mir sagen. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch gut an den distinguierten älteren Herren aus Stockholm, der am Morgen drauf in seiner angestammten Bäckerei nicht das gewohnte „Herr Graf wünschen?“, sondern „Was kann ich Dir verkaufen?“ zu hören bekam. Keine Frage, daß er die Haltung wahrte. Aber zu schlucken hatte er doch.
Wenn Bäcker und Discounter sich in existentiellen gesellschaftlichen Fragen – und die Frage der gegenseitigen Anrede ist gesellschaftlich existentiell – outen und die Seite wechseln, ist der Zug abgefahren.

Klaus, Sven und Patrick mögen sich dessen nicht bewußt sein, aber ihre Entscheidung ist der letzte Strich am Sieg der Achtundsechziger, am Sieg über die deutsche bürgerliche Gesellschaft, die von ihren aristokratischen Vorgängern neben der politischen Macht auch mit allen Nickeligkeiten der Rang- und Standesunterschiede belehnt worden war.
Daß ausgerechnet die Nachfahren der Handlungsgehilfen, denen vor hundert Jahren bestenfalls eine Hochstapler-Karriere à la Felix Krull offenstand, dem bürgerlichen Herkommen jetzt das Licht ausknipsen, sticht ins Herz. Oder ist es nur die Quittung dafür, daß diese abtretende Gesellschaftsschicht einer ehemaligen sozialistischen Parteisekretärin erlaubte, ihre angestammte politische Plattform, CDU genannt, ohne Federlesens zu kapern und in die Bedeutungslosigkeit zu führen?

Das Undenkbare wird wahr: Wir werden Du zueinander sagen. Ikea tut das heute schon, und die Verkäuferin im feinen Möbelladen an der Französischen Straße in Berlin auch. Spätestens in fünf oder zehn Jahren wird der neue Brauch flächendeckend Usus sein. Nach dem Erzen verschwindet bald das Siezen im Schlund der Vergangenheit. Die Anrede in der dritten Person bleibt allenfalls königlichen Hoheiten oder weißhaarigen Professoren und Professorinnen vorbehalten. Wetten? Unsere Kinder werden schon gar nicht mehr verstehen, warum es je anders war.
Gleichzeitig mit dem Sie verschwindet ein weiteres Attribut des Bürgertums: die Krawatte. An erste Anzeichen erinnern wir uns zu Zeiten des Yuppie-Phänomens in den USA. In den frühen Neunzigern strahlte der aufstrebende Bertelsmann-Vorstand und spätere Pleitier Thomas Middelhoff bei Geschäftsmeetings mit offenem Hemdkragen in die Objektive. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2000 verdunstete dann der Übermut, die Knopfleisten verschwanden wieder unter gemusterter Seide.
Seither dreht sich die Stimmung jedoch. Auf ein begrenztes Maß an Verunsicherung reagiert der Mensch mit Festhalten am Überkommenen und Gewohnten. Werden Krise und Bedrohungsgefühle hingegen übermächtig, reift plötzlich die Bereitschaft zu radikalem Wechsel, zum Neubeginn. Noch ist der Krawattenverzicht ein Elitenprojekt, angeführt von Kreativen und Lichtgestalten wie dem Daimler-Chef Dieter Zetsche. Was signalisiert er mit seinem offenen Hemdkragen bei der Bilanzpressekonferenz: In Gefahr und höchster Not, bringt der Mittelweg den Tod?
Die Berater im Vorstadt-Möbelhaus präsentieren sich weiterhin geschniegelt und gestriegelt im dunklen Anzug – die Bedienung im edlen Berliner Kaufhaus des Westens kommt im trendy schwarzen Outfit schon ohne Krawatte zur Arbeit. Das ist beim Schwenk zum Du anders, der beginnt in der Mitte der Gesellschaft, bei den Bäckern und Discountern. Angela Merkel duzt angeblich nur fünf ihrer Minister, Finanzminister Schäuble keinen einzigen Kollegen.
Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wo der Wind der Veränderung weht, kann man Mauern bauen oder Windmühlen. Je nach Veranlagung werden wir das eine oder das andere tun. Daß Veränderungen in der Luft liegen, schwerwiegende, endgültige, werden die Wenigsten bezweifeln. Wenn die Folgen sich auf den Verlust des Sie und der Krawatte beschränken, kommen wir noch gut dabei weg.  Thomas Fasbender

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