Stationen

Donnerstag, 15. September 2016

Anders-Sein



Von Peter Sloterdijk stammt das Bild von einem Flußdelta, in das die Geschichte (und mit ihr das Denken, das Dasein und jedweder Gegenentwurf) eingemündet sei. Ein Delta nun ist geprägt und gekennzeichnet von einem Nebeneinander aus Fluß und stehendem Gewässer:

Es ist eine Fläche, gebildet aus kaum überschaubaren Rinnsalen, Aufschüttungs- und Ablagerungsvorgängen. Es gibt im Delta durchaus Abläufe, Vorgänge, Betrieb (in dem man sich verlieren, in dem man aufgehen kann), von oben gesehen aber doch nur die sanft an ihr Ende kommende, einmündenden Bewegung.

Das Bild vom Delta veranschaulicht das sogenannte Post-Histoire, das Ende der Geschichte, und damit verbunden das Ende des Engagements auf allen Feldern, die das Kollektiv als sinnstiftende und in den Dienst stellende Größe über dem individuellen Ansatz betreffen. Die Energie, die Schaffenskraft, der Altruismus ganzer Generationen werden in Ich-Projekte umgeleitet: Konjunktur haben die Ego-Ausstatter, die den Individualismus und die Abgrenzung unterschiedlicher Konsumnischen fördern und innerhalb dieser Milieus Gesamtpakete anbieten, aus Stil, Verhalten, Meinung, community – entworfene Typen!

Das ist der »Konformismus des Anders-Seins«, der Begriff hinter der irren Tatsache, daß in bestimmten Großstadtkeisen plötzlich eine Vollbart-community entsteht, ein bestimmter Typ Mann also einem style – ja – verfällt, zum Vollbart ganz bestimmte und bestimmbare Klamotten trägt, sich das Kopfhaar nach hinten gelt und Hornbrillen mit null Dioptrin aufsetzt, weil zu Bart und Gelhaar die Brille gehört und die Klone hinter diesem Typ sich ärgern, daß sie keine Sehschwäche haben.
In Kamerun, ich sah das mit eigenen Augen, war es Mitte der 90er Jahre schick, zwischen den beiden oberen Schneidezähnen eine Lücke zu tragen. Wer von der Natur damit nicht beschenkt worden war, feilte zwei Abende von fein bis grob, das Werkzeug wurde reihum gereicht. Wer Pech hatte, lebte gleich mit dem Schmerz zweier bis an den Nerv abgeschmirgelten Zähne, wer Glück hatte, konnte noch ein paar Monate lang kauen ohne zu stöhnen.
Nun läßt sich natürlich kein Berliner Bart-Gel-Träger solange auf die Augen hauen, bis die Brille unvermeidlich ist! Denn es geht auch ohne Schmerzen, und in drei Jahren kommt das Fensterglasgestell in den Sack – individuell ist dann längst der nächste, ganz andere Entwurf.

Der »Konformismus des Anders-Seins«? Im Delta hat der seine Endgestalt angenommen, und daraus ist ein finales Engagement abzuleiten, in dessen Dienst sich tatsächlich sehr viele Menschen stellen lassen: Anders-Sein ist heute nur erlaubt als ein gewähltes, nicht exklusives, nicht schicksalhaftes, sondern konstruiertes und konstruierbares Anders-Sein, das also jederzeit abgelegt, ersetzt oder angenommen werden können soll wie eine Brille, ein Bart, eine wohlfeile Meinung. Jedes ausweglose Anders-Sein hingegen muß dekonstruiert, aufgebrochen oder wenigstens in seinem Ernst relativiert werden, und diese ausmerzende Arbeit der Angleichung, Gleichmacherei und Super-Fairneß ist vielleicht das finale Engagement des Weltinnenraums.

Diejenigen, die am Eintritt in ein Post-Histoire nichts einzuwenden haben, begrüßen die gänzliche Verlagerung der Sinnstiftung in den individuellen Lebensvollzug hinein, in die Beschäftigung mit dem Ich und seiner Spanne bis zum Tod – wobei es zu diesen Egos gehört, den Tod auszuklammern und hinauszuschieben, das heißt: Quantität zu gewinnen, weil es etwas, das über diese Ich-Spanne hinausreichte, wesentlich nicht gebe.
Der Sinn wird ganz aus dem Ich geschöpft, mit sich selbst kann und soll man sich beschäftigen bis zur Erschöpfung, und unbedingt notwendig ist dabei, als dieses Ich wenigstens vor sich selbst relevant zu sein. Das Sinnvolle nämlich ist an das Notwendige geknüpft, und wer von der Geschichte, ihrem Fluß nicht mehr mitgerissen und (im guten wie im dramatischen Sinne) verbraucht wird, muß sich selbst erregen und sich selbst notwendig werden.

Die individualisierte Indienstnahme von allem hat zu einem Verlust der Verbindlichkeit geführt. Die Postmoderne ist fälschlich als das Nicht-Linke begrüßt worden: Das Linke hatte immerhin noch ein Ziel und einen sinnvollen, notwendigen, ergreifenden Einsatz für das Kollektiv formuliert, hatte verbindlich festgelegt, wie der Weg der Befreiung über das revolutionäre Kollektiv zu verlaufen habe.
Postmodern ist: alles zu relativieren, nichts ganz ernstzunehmen oder es ernstzunehmen nur als vernutzbaren Bestand. Jedenfalls: nichts Verbindliches mehr vorzuhaben, sich nicht in den Dienst stellen zu lassen, sondern mit allem zu spielen und im pseudoindividualisierten Angebot-Nachfrage-Raum zu funktionieren. Alles ist nichts mehr wert, sobald es mich langweilt, alles ist ersetzbar, denn es ist nicht verbindlich, zumindest nicht für mich, alles paßt zusammen, denn ich entwerfe das Puzzle ständig neu.

Der »Große Austausch«, das Verschieben von Menschenmassen durch halbe Kontinente, folgt dieser Logik der Ersetzbarkeit und Konstruierbarkeit von allem. Das Wesentliche (Herkunft, Gestimmtheit, Schicksal, Kollektiv, Lage) soll nur scheinbar wesentlich sein, soll aber eigentlich mittels Willensbekundung und sprachlicher Entscheidung angenommen werden können, und zwar ununterscheidbar von jenen, die schon immer da waren.

Das Dazugehören: ein täglicher Plebiszit; das Weiterziehen: eine tägliche Möglichkeit; am So-und-nicht-anders-sein-müssen leiden? Etwas für Idioten von vorgestern. Das mit allem spielende, alles ausprobierende Ich mündet in das Delta, speist das Delta, lebt im Delta.

Die Grundfrage lautet: Werden wir noch gebraucht? Können wir unser Dasein als vom Sein »gebraucht«, in den notwendigen Dienst genommen beschreiben? Können wir uns doch noch einmal, entgegen aller Entlastungsleistungen der Moderne, »wiederbelasten«?
Meine These: Die Besseren unter den welcome-Klatschern verspürten den befreienden Impuls, einen Sinn tatsächlich von außen her gestiftet zu bekommen. Jedoch verhalten sie sich seither wiederum so, wie sie schon immer waren: ein bißchen Sinn, ein bißchen stylisches Engagement ist schon recht, aber jederzeit muß man aussteigen dürfen, muß man die Indienstnahme, die Wiederbelastung ablehnen und die Konsequenzen wieder sozialisieren dürfen, das heißt nichts anderes als: das Experiment der Allgemeinheit, diesem anonymen Reparaturbetrieb, zum Ausbaden zu überlassen.

Über die tages- und realpolitische Aufgabe hinaus gedacht, scheint mir das der Grund unserer Arbeit zu sein: den Ernst im Umgang mit dem, woraus und worin wir als Deutsche und Abendländer leben dürfen, überall zu stärken. Ich will so recht eigentlich nur noch mit solchen zu tun haben, die nicht nur spielend die Spanne bis zum Tode gehen, sondern sich »gebraucht« sehen wollen, die sich an einem Nur-Ich langweilen, am Fehlen des Verbindlichen leiden und die grundsätzliche Ratlosigkeit in den Antwortversuchen auf die Frage: »Wie weiter?« für das eigentliche Versagen unserer Eliten halten.

Ich will mit denen gehen, die den Versuch unternehmen, die individuelle Existenz in eine historische, über das Ich hinausragende Notwendigkeit einzubringen und einzuordnen und der »Not der Notlosigkeit« zu entkommen.
Ich bin also – denn diese Zeilen sind ein Dank! – froh, von Leuten umgeben zu sein, die noch immer kämpfen wollen und die durch das Delta waten, weil sie es rauschen hören. Irgendwo muß ein Fluß sein: Rein!  GK

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