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Montag, 14. November 2016

Die unaufhaltsame Apperzeption des Faktischen

13. November 2016


Die Sonntage immer den Künsten!

Das famose Buchhaus „Taschen“, dessen prachtvolle Bildbände von Vermeer und Velàzquez ich an dieser Stelle bereits dringend zum Erwerb empfohlen habe, hat ein weiteres Must-have produziert: Alison Castle, „Das Stanley Kubrick Archiv“, 850 Seiten Fotos, Gespräche, Interviews, Notizen und Artikel „aus dem Archiv eines besessenen Filmemachers“ (hier, gibt es auch als Kleinformat für 15 Euro).

Man sieht die bekannten Darsteller und Kulissen aus den berühmten Filmen, nur diesmal eben als Kulissen. Man kommt dem Apperzeptions-Genie Kubrick nicht wirklich auf die Schliche, aber näher, man erfährt viel über seine Arbeitsweise und den kolossalen Aufwand, den er auf der Suche nach der perfekten Szene immer und immer wieder trieb. Anderthalb Jahre etwa dauerte die Herstellung der Kostüme für „Barry Lyndon“; vor dem Beginn der Dreharbeiten von „Shining“ fuhr der Filmarchitekt und Bühnenbildner ein Jahr quer durch die USA und fotografierte Hotels. Auf die Frage eines Interviewers „Wie viel planen Sie, bevor Sie eine Szene zu drehen beginnen?“, versetzte Kubrick: „So viel, wie der Tag Stunden hat und die Woche Tage.“ An anderer Stelle gesteht er, dass ihm am Set mit den Schauspielern sofort die Unzulänglichkeiten seines Scripts auffielen, weshalb er beim Drehen ständig das Drehbuch umschreibe. Die Schauspieler, auch wenn er sie verschlissen hat und oft nur für einen Film besetzte, haben ihn verehrt, weil sie bei ihm mehr lernen konnten als bei jedem anderen, so wie die Orchester den Maestro Carlos Kleiber verehrt haben, der ähnlich wie Kubrick ein detailversessener Perfektionist und Wiederholungsfanatiker war.

Zu den Glanzlichtern des Buches gehört die Mitschrift einer Unterhaltung Kubricks mit dem Schriftsteller Joseph Heller, die man in Kubricks Nachlass fand, wobei Termin, Ort und Umstände des Gesprächs unbekannt sind. Da es sich vor allem um den Film „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ dreht, lässt es sich halbwegs datieren. Kubrick statuiert dort, die satirische Überspitzung bis hin ins Absurde sei dem platten Realismus überlegen: „Die Leute bekommen dadurch viel besser ein Gefühl für die Wahrheit.“ Heller stimmt zu: „Dass die Realität, wenn man sie verzerrt – und das habe ich in ‚Catch 22’ versucht –, nicht wirklich verzerrt, sondern nur ihre Oberfläche verändert wird, um sie deutlicher hervortreten zu lassen, das erzeugt diese Art von nervösem Lachen.“

Was mit dem Begriff „Antikriegsfilm“ gemeint sein möge, fragt Kubrick und verblüfft vielleicht den Leser, keineswegs aber seinen Gesprächspartner mit der Überlegung: „Für viele Leute ist der Krieg gar keine Hölle. Viele Leute haben Spaß daran. Es ist aufregend.“ Heller, der Bombenpilot des Zweiten Weltkriegs, setzt noch einen drauf: „Die Gefühle, die ich in ‚Catch 22’ zum Ausdruck gebracht habe, waren nicht meine Gefühle, als ich Bomben abgeworfen habe, denn die meiste Zeit hatte ich einen Riesenspaß dabei. (...) Ich bin Einsätze geflogen, und wenn es keine Flak gab, war ich enttäuscht. Je gefährlicher es wurde, desto besser gefiel es mir. Ich war ein richtiger fieser 19jähriger Bursche. Aber bevor meine Zeit als Soldat zu Ende ging, bekam ich höllische Angst. Ich flog 60 Einsätze, und ich glaube, beim 40. begann langsam die Angst.“

Am Interessantesten sind die ästhetischen Betrachtungen Kubricks. „Ich habe sehr bewusst der fast unwiderstehlichen Versuchung, der viele Satiren erliegen, widerstanden, zumindest an einem Punkt dem Publikum reinen Wein einzuschenken und ihm zu sagen, was ich wirklich denke“, erklärte er zu „Dr. Seltsam“. Dieser Verzicht auf Kommentare und letzte Erklärungen, das durchaus intendierte Verharren im Vagen, Unheimlichen, Mysteriösen durchzieht sein gesamtes Werk, insbesondere seine Menschheitsgeschichte „Odyssee im Weltraum“, über deren letzte fünfzehn Minuten ein Dutzend philosophische Promotionen geschrieben werden könnten (oder bereits vorliegen), aber auch „Shining“, der Horrorfilm aller Horrorfilme, lässt den Zuschauer mit einem zutiefst unbehaglichen Gefühl außer Kraft gesetzter Kausalität zurück.

Ganz goethisch – „Bedenke das Was, aber noch mehr bedenke Wie“ – führt der Regisseur aus: „In ‚Aspects of the Novel’ spricht E.M. Forster davon, wie bedauerlich es sei, dass man auf Handlung nicht verzichten könne (...) Aber man zahlt einen ungeheuer großen Preis für eine gute Handlung, denn wenn jeder da sitzt und sich fragt, was als nächstes passiert, dann bleibt nicht viel Zeit darüber nachzudenken, wie es passiert oder warum es passiert.“

Oder: „Ich suche nicht wirklich nach Filmstoffen. Ich lese eine Menge Bücher, und an einem Punkt packt mich plötzlich das Verlangen, etwas zu verfilmen. Eine solche Entscheidung ähnelt der Frage, warum man seine Frau geheiratet hat. Es finden sich eine Menge Gründe, aber keine Erklärung.

Bemerkenswert ist der Brief, den der Regisseur 1972 an die New York Times schrieb, deren Filmkritiker Fred M. Hechinger in „Clockwork Orange“ die "Stimme des Faschismus“ gehört zu haben vorgab. Die damalige Auseinandersetzung um Kubricks wahrscheinlich bedeutendstes Meisterwerk demonstriert eine erstaunliche und deprimierende Konstanz der linken, liberalen, linksliberalen, politisch korrekten oder wie auch immer zu rubrizierenden Vorurteile gegenüber der Freiheit der Kunst und das Beharren dieser restlos Aufgeklärten darauf, alle Künstler gewissermaßen erkennungsdienstlich behandeln zu dürfen, ob sie mit ihren Werken hinreichend dem sogenannten gesellschaftlichen Fortschritt auf die Sprünge helfen.

In mehr als 40 Jahren hat sich nichts geändert, dieselben Vorwürfe werden im selben reflexhaften Tonfall mit denselben Begründungen auch heute noch vorgetragen. Kubrick konstatiert, dass der Kritiker bei seiner Distanzierung von der angeblich hinter „Clockwork Orange“ stehenden Ideologie „nicht eine einzige Dialogstelle zitiert, auf keine einzige konkrete Szene Bezug nimmt, sich mit keinem einzigen Thema des Films auseinandersetzt – sondern ihn einfach gleichsetzt mit einem ‚Trend’, den er in mehreren aktuellen Filmen erkannt zu haben meint (‚ein tief antiliberaler totalitärer Nihilismus’).“

Es sei wahr, fährt er fort, „dass das Bild des Menschen in meinem Film weniger schmeichelhaft ist als jenes, das Rousseau in einer ähnlich allegorisch konzipierten Erzählung zeichnete. Aber muss man denn, um den Faschismus zu verhindern, den Menschen als einen edlen Wilden sehen, darf man nicht den unedlen, gemeinen Burschen zeigen?“ Der Kritiker habe ja durchaus das Recht, die menschliche Natur optimistisch zu sehen, aber das verleihe ihm keineswegs auch noch das Recht, Pessimisten mit Faschismus-Vorwürfen zu verunglimpfen. Kubrick fragt: „Liegt es an den hysterischen Anschuldigungen selbsternannter ‚wachsamer Liberaler’ wie Fred M. Hechinger, dass der Liberalismus heute so geschwächt dasteht?“ Wie gesagt, wir befinden uns im Jahr 1972.

„Der Tonfall des Artikels“, schließt Kubrick, wirke auf ihn „wie der eines konditionieren Menschen, der das wiedergibt, was er zu finden erwartet und was ihm zuvor gesagt wurde oder was er gelesen hat, hingegen legt er nicht dar, was er in ‚Uhrwerk Orange’ wirklich gesehen hat. Vielleicht sollte er sein Bündel konditionierter Reflexe in der Garderobe abgeben und sich den Film noch einmal anschauen. Und dieses Mal ein wenig wählerischer sein.“

Wahrscheinlich waren diese Worte, wie fast immer, in den Wind gesprochen.

Allein für das Intro von „Clockwork Orange“, zwei Minuten reinster Wagnerianismus, würde ich fast alle Filme der Welt drangeben. So müsste man schreiben können!

Schließen wir mit dem amüsantesten Zitat des Buches: „Das Filmemachen widerspricht der alten Weisheit, dass ein ideales, von Genies entworfenes System von Idioten genutzt werden könne. Beim Film war es immer umgekehrt.“


PS und apropos: In einem Acta-diurna-Eintrag vor drei Jahren habe ich die Frage aufgeworfen, als wessen Zeitgenosse ich einmal mein Dasein verbracht haben werde und sie, ergänzt um den präzisierenden Zusatz, wessen Zeitgenossenschaft mich mit Stolz erfülle, mit den Namen Stanley Kubrick und Carlos Kleiber beantwortet.

Bei mir über dem Schreibtisch hängt dieses Bild von Carlos Kleiber, das mehr über den einzigartigen Dirigenten aussagt als alle Worte.




Immer wenn ich es sehe, muss ich an den Beginn von Paul Verlaines „Ariettes oubliées“ (etwa: Vergessene Weisen) in der Übersetzung von Stefan George denken:

„Dies ist die müde verzückung
Dies ist der liebe bedrückung
Dies ist aller wälder gesang“

Heute nahm ich einmal das Original zur Hand:

„C’est l’extase langoureuse,
C’est la fatigue amoureuse,
C’est tous les frissons des bois“

Wenn man berücksichtigt, dass langoureuse „schmachtend, sehnsüchtig“ meint, frissons Kälteschauer sind und fatigue amoureuse auch die "Strapazen" oder "Beschwernisse" der Liebe beschreiben kann, sind wir im Original noch näher bei dem entrückten und verzückten Vollendungssucher Carlos Kleiber – und letztlich gilt es ebenso für den göttlichen Stanley Kubrick –: Dies sind Ekstasen des Sehnens, dies sind Strapazen des Liebens, dies ist das Erschauern der Wälder...   MK am 13. 11. 2016


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