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Samstag, 17. Dezember 2016

Keine rechtzeitige Auslese

Die Debatte über geschönte Abiturnoten ist nicht so schnell in sich zusammengefallen, wie man hätte denken können. Tatsächlich hat Josef Kraus, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, mit seinem Hinweis auf die absurde Vermehrung von Einsen vor dem Komma einen wunden Punkt getroffen.

Sogar aus der Lehrergewerkschaft GEW, normalerweise ein sicherer Garant progressiver Gesinnung und zügiger Gleichmacherei, kam verhaltene Zustimmung. Bis in die Lokalblätter wurde das Thema aufgegriffen, das die Bild Anfang der Woche gesetzt hat.
Es geht hier aber nicht nur um eine mehr oder weniger sensationelle Stellungnahme zu einem offenkundigen Skandal. Eine Rolle für das breitere Interesse dürfte auch die wachsende Irritation der Bevölkerung spielen, die mit immer neuen Schreckensmeldungen über das Bildungswesen konfrontiert wird: zuletzt die deprimierenden Resultate der TIMSS-Studie im Hinblick auf den Erwerb von Kernfertigkeiten bei Grundschülern, zuvor die Feststellung einer Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung, daß 75 Prozent der deutschen Abiturienten nicht studierfähig sind und die weiterhin deprimierend hohe Zahl der Abbrecher an den Universitäten, im Durchschnitt jeder Dritte, in den „schweren“ Fächern deutlich mehr (für das Fach Mathematik kursierten schon Angaben von 80 Prozent eines Jahrgangs).

Es handelt sich allerdings nicht um neue oder unbekannte Probleme. Auch die Inflation von Bestnoten – und der Wegfall von Unternoten – ist seit langem bekannt und wurde immer wieder angesprochen. Nur gab es bisher den unbegründeten Optimismus, daß sich die Auswirkungen in Grenzen halten würden. Die „Bildungsrepublik“ (Merkel dixit), so behauptete man – und der einfache Mann hörte es gern –, benötige für den Ausbau der „Wissensgesellschaft“ eine immer weiter wachsende Zahl von Abiturienten. Wenn dann noch die OECD drohend auf den angeblichen Nachholbedarf Deutschlands gegenüber Ländern wie Frankreich (Abiturientenquote: 90 Prozent) hinwies, machte sich bald, wahrscheinlich von der Bertelsmann-Stiftung beraten, eine Allparteienkoalition daran, die noch bestehenden Widerstände gegen die flächendeckende „Modernisierung“ des Schulwesens zu schleifen.
Das hieß Ganztagsunterricht und Förderung aller offenen oder verdeckten Formen der Gesamtschule, Aufhebung des inhaltlichen Bezugs der Fächer (seit den fünfziger Jahren ist dann die Rede von der „Entrümpelung“ des Lehrplans) und Reduzierung der wissenschaftlichen Ausbildung von Lehrern (auch für die weiterbestehenden Gymnasien), Freigabe des Elternwillens bei der Schulformwahl und Beseitigung oder Erschwerung des „Sitzenbleibens“ beziehungsweise des zwangsweisen Übertritts von der höheren zur niedrigeren Schulform, Einführung von Pseudofächern und systematische Reduzierung der Prüfungsanforderungen, politischer Druck auf opponierende Kommunalpolitiker, Schulleitungen und Lehrer.

Mittlerweile sind die negativen Folgen mit Händen zu greifen. Da steht an erster Stelle die Ungerechtigkeit eines Systems, in dem Heranwachsende keine Rückmeldung über ihre Leistungsfähigkeit erhalten, es keine Prämie auf Intelligenz, Fleiß und Wissen, aber auf Beschränktheit, Faulheit und Ahnungslosigkeit gibt, und die fehlende Vergleichbarkeit zwischen den Abschlußnoten in den lange Zeit links regierten Ländern und den noch halbwegs intakten zu erheblichen Verwerfungen bei der Konkurrenz um begehrte Studienplätze führt. An zweiter Stelle steht die Tatsache, daß die so oft beklagte Benachteiligung von Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien weiter zunimmt, da die elterliche Fähigkeit, die Defizite des Unterrichts auszugleichen, oft die einzige Möglichkeit darstellt, den Heranwachsenden mitzugeben, was ihnen mitgegeben werden sollte.

Eher verdeckt sind dagegen die Konsequenzen, die aus dem Vertagen der notwendigen Siebung entstehen. Früher galt die Faustformel: Wer in der Schule durchgelobt wird, wird es an der Universität schwer haben. Weil sich dort mittlerweile dieselben Unsitten ausbreiten wie an den Schulen, schiebt man die Auslese weiter auf, und dann in Bereiche, in denen die Wahrscheinlichkeit, daß sachliche Aspekte den Ausschlag geben, immer geringer wird. Jürgen Kaube hat in einem Kommentar der FAZ von „Ersatzwährungen“ gesprochen: „Vitamin B, Praktika als Teststrecke, Assessment-Center, Zertifikate aus stärker selektiven Einrichtungen“.

Kaube weist auch darauf hin, daß uns Amerika auf diesem Gebiet weit voraus ist. Tatsächlich existiert in den USA gar nichts mehr, was man ein Bildungssystem nennen könnte. Die Ursache dafür sind die Reformen, die in der Nachkriegszeit eingeleitet wurden und mit dem Kanon auch den organischen Aufbau der Schulen nach europäischem Vorbild zerstörten. Die Argumente, die dafür ins Feld geführt wurden, sind seitdem immer wieder recycelt worden: „Chancengleichheit“, „Soziale Gerechtigkeit“, „Demokratisierung“. Dabei handelt es sich selbstverständlich nur um die Verschleierung eines einzigen Ziels: Egalität, Beseitigung der Unterschiede, vor allem der Leistungsunterschiede.

Der Verfasser erinnert sich lebhaft seiner eigenen Zeit an der Universität, Anfang der achtziger Jahre, als er amerikanische Studenten unterrichtete, die zum Schluß des Kurses immer eine Prüfung abzulegen hatten, die sie für ihre Zertifikate brauchten. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zeigte sich dabei dreierlei: guter Wille, Ahnungslosigkeit und die tiefe Überzeugung, daß es ein Menschenrecht auf das „Double-A“ gäbe, zu Deutsch: „15 Punkte“, „1 +“.   Karlheinz Weißmann

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