Stationen

Samstag, 31. Dezember 2016

Kettenreaktion

Das Gutachten ist für Angela Merkel ein Donnerschlag. Der Verfassungsrechtler Udo di Fabio kommt nach juristischer Prüfung der aktuellen Migrationskrise zu einem erschütternden Befund: Die Bundesregierung bricht mit ihrer Weigerung, die Landesgrenzen umfassend zu kontrollieren, eindeutig Verfassungsrecht. In dem Gutachten heißt es: „Der Bund ist aus verfassungsrechtlichen Gründen (…) verpflichtet, wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder aufzunehmen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist“.

Ausgerechnet der Freistaat Bayern (also die CSU-Regierung) hat das brisante Gutachten beauftragt um zu klären, ob Merkels Regierung noch auf dem Boden des Rechts stehe, ob das Agieren der Berliner Regierung vom fehlenden Grenzschutz bis zum Alleinlassen der Bundesländer nicht eigentlich verbrecherisch sei. Allein dieser Vorgang ist ein Eklat. Denn damit weist eine Regierungspartei der Kanzlerin nach, dass ihr Verhalten nicht mehr vom Grundgesetz gedeckt ist.

Die CSU inszeniert gewissermaßen ein informelles Tribunal für eine Kanzlerin, die aus bayerischer Sicht Verfassungsbrecherin geworden ist, weil sie stur auf radikaler Grenzöffnung besteht, obwohl das Land inzwischen leidet – und das Recht gleich dazu. Damit liegt nun ein Hauch von Staatskrise in der Luft. Bayern steht offenbar kurz davor, mit bayerischen Polizisten Grenzübergänge selber zu kontrollieren, wenn der Bund das nicht tut.
Es war tatsächlich eine einsame, historische Entscheidung Angela Merkels, als sie Anfang September das Grenzregime der Europäischen Union außer Kraft setzte und in Ungarn fest sitzende Flüchtlinge nach Deutschland holte. Die damalige Aussetzung des sogenannten Dublin-Verfahrens der EU im Umgang mit Migranten war für die einen ein großartiger Akt der Humanität. Für andere war es ein dramatischer Fehler mit weitreichenden Folgen. Die Merkel-Kritiker, von osteuropäischen Regierungen bis zur CSU in Bayern, kritisieren die damalige Grenzöffnung gar als „Jahrhundertfehler". Fakt ist, dass seither mehr als 700.000 illegale Migranten nach Deutschland geströmt sind. Seit Wochen wird darüber gestritten, ob der historische Massenansturm hunderttausender Muslime dadurch final ausgelöst, befördert oder bloß vereinfacht wurde, doch nun ist für Merkel die Bewertung ihres Ungarn-Entscheids in ganz anderer Dimension problematisch.

Mit dem Gutachten di Fabios wirkt Merkels Politik als fortdauernder Rechtsbruch. Die Kritik dürfte nun lauter werden an der Kanzlerin, die per Handstreich das geltende EU-Recht außer Kraft gesetzt und ihre eigenen Regeln der Moralität proklamiert hat. Insbesondere im europäischen Ausland, wo man sich über Merkels Sonderweg zusehends empört. Es werden nun diejenigen bestärkt, die Merkel vorwerfen, sie habe damit eine Krise der Rechtsstaatlichkeit ausgelöst, womöglich eine Kettenreaktion von Gesetzesbrüchen angestoßen, die schließlich in den Übergriffen von Köln kulminierten.
Das Gutachten rührt so unmittelbar an die Integrität der Kanzlerin, und die nun folgende Debatte dürfte für Merkel unangenehm werden. Die Stimmung in Deutschland ist ohnedies gekippt, die Konflikte häufen sich, die Mehrheit der Bevölkerung will eine Kehrtwende in der Offentor-Politik, es droht ein Rechtsruck bei den anstehenden Wahlen, Europa ist wegen Merkels Sonderweg mittlerweile in einer veritablen Krise. Ihr einziger Halt in dieser Krise ist eine hohe moralische Legitimation. Ein konstatierter Verfassungsbruch aber schlüge ihr just diese Maske vom Gesicht.

Nun ist Udo di Fabio ein besonders behutsamer und respektierter Jurist, so etwas wie der Bundespräsident unter den Verfassungsrichtern. Er galt bislang als ein Staatsrechtler, dem sogar eine gewisse Nähe zu Angela Merkel nachgesagt wurde. Auch weil di Fabio selber einer Gastarbeiterfamilie entstammt, gilt er in der Migrationsfrage zudem als völlig unbefangen und liberal. Umso schwerer wiegt das Gutachten, zumal er auch die expansive Interpretation des Asylrechts in der derzeitigen Lage anprangert: „Das Grundgesetz garantiert nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis. Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich noch völkerrechtlich.“
Di Fabio warnte bereits seit Wochen vor einer Zersetzung des Rechts in der Migrationsfrage. Gegenüber dem Deutschlandradio sagt er: „Was wir heute teilweise erleben in der Migrationskrise, ist, dass Recht nicht mehr angewandt wird. Dafür kann es gute praktische Gründe geben, aber das muss jemanden, der an den Rechtsstaat denkt, mit Sorge erfüllen.“ Und in einem Beitrag für Cicero schreibt er: „Die Staatsgrenzen sind die tragenden Wände der Demokratien. Wer sie einreißt, sollte wissen, was er tut. Es mag schwer sein, Grenzen in einer wirksamen und zugleich humanen Weise zu schützen, aber diese Aufgabe kann keine Regierung entgehen.“
Das Gutachten bestärkt insbesondere Horst Seehofer, der bereits vor einem wachsenden Vertrauensverlust in die Staatsräson warnt; dass geltende Bundes- und Europagesetze außer Kraft gesetzt sind, ist für Seehofer ein unhaltbarer Zustand: „Der Bund vollzieht derzeit weder das Schengen-Abkommen, noch das Dublin-Verfahren. Flüchtlinge, die aus einem sicheren Drittstaat wie Österreich nach Deutschland kommen, sind zurückzuweisen. Das steht so im Gesetz!
Das Urteil des Richters über die Kanzlerin ist damit auch ein Urteil der CSU über die Kanzlerschaft. An diesem Vorgang zeigt sich, dass die CSU Angela Merkel im kommenden Jahr nicht mehr zu ihrer Kanzlerkandidatin machen wird, wenn sie nicht bald umkehrt. Aus dem Tribunal der Rechtseinschätzung wird ein Tribunal der Macht.   Wolfram Weimer



Zwei Stunden nach dem Anschlag in Berlin wusste Katrin Göring-Eckardt schon, was die angemessene Reaktion ist: "Trauer und Mitgefühl. Nichts sonst jetzt!", schrieb die Fraktionsvorsitzende der Grünen auf Twitter. Dass uns Politiker mitteilen, wie wir reden sollen, das kennen wir. Dass man uns sagt, was wir zu denken haben: Auch das kommt gelegentlich vor. Aber dass einem vorgeschrieben wird, was man fühlen soll, das ist neu.

Auch Angst gehört zu den Gefühlen, die man nicht mehr haben soll. "Angst!" stand am Morgen nach dem Anschlag auf der ersten Seite der "Bild"-Zeitung, was sofort die Medienkritik auf den Plan rief, um der "Bild"-Chefredakteurin Tanit Koch "Angstmache" vorzuwerfen. Sogar Kollegen, die eben noch die Furcht vor amerikanischem Hühnerfleisch fest im Griff hielt, erklären nun, wie wenig sie der Terror beeindrucke. Jeder Berliner, der sich aus dem Haus traut, und sei es nur, um beim "Späti" die Biervorräte aufzufüllen, gilt als Beweis für die Kaltblütigkeit des Hauptstadtbewohners. Wenn das so weitergeht, werden demnächst wieder Tapferkeitsmedaillen wegen Unerschrockenheit vor dem Feinde ausgegeben.
Ich weiß, das ist jetzt nicht besonders christlich gedacht: Aber aus meiner Sicht sind Wut und Empörung als Reaktion auf den Anschlag mindestens so naheliegend wie Trauer und Mitgefühl. Ich hätte zum Beispiel nichts dagegen, wenn Leute, die ihre Ausweispapiere wegwerfen, damit man sie nicht ausweisen kann, solange bei Brot und Wasser einsitzen, bis ihnen wieder einfällt, wo sie herkommen. Ich fände es auch nicht schlimm, wenn man jemanden, der sich die Zeit bis zu seiner Abschiebung mit Drogenhandel und Schlägereien vertreibt, in Gewahrsam nehmen würde. Deshalb heißt diese Kolumne ja auch der "Schwarze Kanal" und nicht "Im Zweifel links".

Ich sehe ein, dass man nicht mit Wut im Bauch Politik machen sollte. Mir gefällt an Angela Merkel, dass sie noch in den schwierigsten Situationen einen kühlen Kopf behält. Immer wenn sie sich von Gefühlen leiten ließ, ging es schief. Das war so, als sie die Atomwende ausrief, ohne sich darüber Gedanken zu machen, woher ein Land wie Deutschland stattdessen seinen Strom bekommt. Auch bei der Entscheidung, die Kontrollen an den Grenzen zu suspendieren, hat sie nicht richtig nachgedacht. Aber darf man sich deshalb als Bürger nicht, ganz emotionslos, vom Staat ein bisschen mehr Härte als Antwort wünschen?

Überall kann man jetzt lesen, dass die beste Weise, mit dem Terror fertig zu werden, darin bestehe, so weiterzumachen wie bisher. Wenn wir unser Leben ändern, heißt es, haben die anderen gewonnen. Wer wie Horst Seehofer die Sicherheitsgesetze neu justieren will, spielt dieser Logik zufolge dem Terrorismus in die Hände. Beziehungsweise instrumentalisiert den Terror zu politischen Zwecken, was auf das Gleiche hinausläuft. In jedem Fall macht er sich zum Helfershelfer des Bösen.
Ich dachte, dass es die Aufgabe von Politik sei, aus Fehlern zu lernen. Wenn ich lese, dass jemand als Asylbewerber frei herumlaufen kann, der erst ein Aufnahmelager in Brand steckt, dann bei einem V-Mann der Polizei versucht, an Sprengstoff und Waffen zu kommen, und auch ansonsten jeden Anlass gibt, ihn umgehend hinter Gitter zu setzen, dann wäre die Verteidigung des Status quo nicht das Erste, was mir einfallen würde.

Tatsächlich hat die Polizei bei der Verhinderung des Terroranschlags nicht versagt, weil sie den Attentäter Anis Amri für ungefährlich hielt - die Polizei ist gescheitert, weil es keine Handhabe gab, ihn festzusetzen. Als ihn Ende Juli eine Streife mit gefälschten Papieren aufgriff, kam er auf Anweisung eines Richters für ein Wochenende in Haft. Alle Versuche, ihn länger festzuhalten, scheiterten, weil der Tunesier außer dem gefälschten Pass keine weiteren Papiere bei sich trug.

Eine sogenannte Sicherungshaft ist nur möglich, wenn die Aussicht besteht, dass das Heimatland eines abgelehnten Asylbewerbers binnen drei Monaten ein gültiges Ausweisdokument ausstellt. Ist das, wie im Fall Tunesiens, nicht zu erwarten, kommt der Verdächtige wieder auf freien Fuß. Das ist die Lage, von der es jetzt in Reaktion auf den Vorstoß aus Bayern heißt, dass sie keiner "Neujustierung" bedürfe.
48 Stunden, nachdem Anis Amri zwölf Menschen mit einem Laster zu Tode gebracht hatte, demonstrierten am Breitscheidplatz ein paar Hundert Berliner gegen "die rechte Instrumentalisierung und rassistische Hetze in unmittelbarer Nähe des Tatorts", so berichteten es die "Tagesthemen". "Wir wollen ein Zeichen setzen, wir wollen zeigen, dass wir Berlin, den Hardenbergplatz, den Breitscheidplatz und unser Land nicht den Nazis überlassen", rief der grüne Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu ins Mikrofon.
Wenn es gegen die Instrumentalisierung durch die falsche Seite geht, müssen Trauer und Mitgefühl für einen Augenblick zurücktreten. Dann dürfen sich auch einmal kurz Wut und Empörung Gehör verschaffen.   Jan Fleischhauer

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