Stationen

Freitag, 30. Dezember 2016

Schiller und Karl May

Gestern dirigierte ein Bekannter in der Philharmonie Beethovens Neunte, und ich hörte seit langem das wunderliche Opus wieder einmal live. Ich sage wunderlich, weil es mich jedes Mal in Erstaunen versetzt, wie auf die drei ersten sinfonischen Sätze – das so rätselhaft demiurgisch anhebende Allegro ma non troppo, un poco maestoso, das geniale Scherzo (man muss es gewissermaßen mit Gefäßchirurgenfingern dirigieren) und das ergreifende Adagio (speziell wenn Furtwängler es schmerzlich zerdehnt als gewaltige Klage in einer Zeit vorträgt, in der die Feldpost die Todesnachrichten säckeweise bringt) –, wie auf diese grandiosen Sätze also der absonderliche Radau des Finales mit Solisten und Chor folgt. Bei dem man unter anderem merkt, dass Beethoven alles konnte, nur nicht für die menschliche Stimme komponieren (ich kenne Sopranistinnen, die sagen, sie sängen lieber dreimal die Isolde als einmal die Leonore).

Und während dieses Finalsatzes schoss es mir denn durch den Kopf, dass ich gewissermaßen dem Gründungsdokument der aktuellen "Willkommenskultur" lauschte. Die deutsche Weltveredelungs-Hybris, der deutsche Marsch ins Ideal – tatsächlich: in den Untergang –, hier wurde es erstmals Ereignis als ein orgiastisches Kulturfest für die Masse. Schillers Hymnus ist ja sehr edel, hochherzig und mitreißend, bis ins Hysterische ambitioniert, aber eben auch ohne jedes Maß, vollkommen weltfremd und provinziell, was selbst diese Hochsprache nicht kaschieren kann, mit einem Wort: sehr deutsch. "Dass alle Menschen Brüder werden sollen, ist ein Traum von Einzelkindern", spottete dagegen der weltgewandte Johannes Gross, und der philosophische Grübler Frank Lisson sekundiert: "Schiller konnte sein ‚Seid umschlungen, Millionen’ nur ausrufen, weil sie Jena und Weimar noch nicht belagerten."

Beethoven hat Schillers Bacchanal des Humanismus immerhin in eine Tonsprache gesetzt, die, bei allem forschen D-Dur-Verbrüderungsgetöse, durchaus barbarisch und für den Kulturmenschen befremdlich ist. "Diesen Kuß der ganzen Welt!" – das kommt nicht aus der "Welt", sondern aus der Welt des Winkelrieds. Wer die Welt kennt, will sie nicht küssen. Und das "Ihr stürzt nieder, Millionen?/Ahnest du den Schöpfer, Welt?" schmeckt heute nach dem Blut unzähliger durchgeschnittener Kehlen. Wofür der göttliche Schiller nichts konnte, gewiss. Er schreib die Ode 1786. Kurz darauf begann in Paris und anderen französischen Städten die jakobinische Blutkirmes, jenes Großmassaker der Brüderlichkeit, das in seiner entfesselten, mit bestem Gewissen vor aller Augen zelebrierten Mordlust so sehr an die Halsabschneider des Islamischen Staates erinnert und das die Demokratien des Westens bizarrerweise bis heute als ihren Gründungsmythos zelebrieren. Immerhin, Monsieur Schiller, der Ehrenbürger des revolutionären Frankreichs, hat sich angeekelt davon abgewendet. Wahrscheinlich hätte er seine Ode an die Freude fünf Jahre später schon nicht mehr gedichtet. In diesem Zusammenhang nicht unwesentlich ist, dass Beethoven in seiner einzigen Oper "Fidelio" die Realität durchaus im Sinne des heutigen Zeitgeistes fakte und umschrieb; die reale Leonore, die ihren Mann aus dem Gefängnis befreite, das Vorbild der Hauptfigur der "Befreiungsoper", war eine Royalistin, ihr Mann ein Aristokrat, nur der Kerker gehörte der Revolution.

Für unsereinen aber – man verzeihe meine Abschweifung – beginnt 1793 der große reaktionäre Traum, die öffentliche Hinrichtung der revolutionären Mörder... Zu diesem Fest mag man meinethalben Beethovens Chorfinale spielen.  MK am 30. 12, 2016

Derselbe Schmarrn wird uns gerade auch von RTL wiedereingetrichtert: an der neuen, realistischen, „authentischen“ Variante von Winnetou (der obwohl Apache von einem echten Sioux Lakota anthropologisch gestylt wurde) ist am unrealistischsten und gleichzeitig karlmayauthentischsten das wiederaufgegossene deutsche Sendungsbewusstsein der sturheilen Verbrüderung zwischen Kulturen, die, „wenn sie sich nur erstmal kennengelernt haben, die Angst voreinander verlieren“, wie Wotan Wilke Möhring in der Dokumentation zur Herstellung des Films sich nicht entblödet willkommenszeitgemäß mit im doppelten Sinn grenzenlos gutgläubiger Einfalt zu monieren. Und zur Person Karl Mays erwähnt Thomas Kramer, wie der alternde, gerade von einer Lungenentzündung Genesene Anfang 1912 in Wien in den Sophiensälen einen zweistündigen Vortrag hält zum Thema „Empor ins Reich der Edelmenschen“.

„Je besser sich die Völker kennen, desto mehr hassen sie sich“, sagte Ennio Flaiano

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