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Montag, 23. Januar 2017

Die Türkei

Beim Anschlag auf die Diskothek „Reina“ in Istanbul offenbarte die türkische Regierung nicht nur eklatante Sicherheitslücken, sondern auch ihre geistige Komplizenschaft mit dem Täter. In der Türkei wird ein regelrechter Kreuzzug gegen vermeintlich „unislamische“ Feste und Traditionen geführt. 

Die Terroropfer von Silvester im Nachtklub „Reina“ in Istanbul gelten, anders als bei sonstigen Terroranschlägen in der Türkei, nicht als Märtyrer. Nach der amtlichen Sprachregelung heißt es zu der Gräueltat: „Beim Terrorangriff auf das ‚Reina‘ ist ein Polizist, der an der Tür Wache stand, als Märtyrer gefallen; 38 weitere Menschen kamen ums Leben.“ Für die Regierung stehen die Opfer der Silvesterfeier in der Diskothek demnach nicht auf derselben Stufe wie andere Terroropfer. Bisher wurden auch zivile Terroropfer als „Märtyrer“ bezeichnet, was Folgen für die etwaige staatliche Unterstützung für Hinterbliebene hat. Grund für die Änderung ist, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierung von Ministerpräsident Binali Yildirim schon vor dem Terroranschlag gegen die Silvesterfeiern als „unislamisches“ Fest gehetzt hatten. Es gab also aus Sicht der Regierung gar keinen Grund zum Feiern in der Diskothek.

Nicht nur den Terroristen des IS ist die westliche Feierkultur mit Tanz, Musik und „unislamisch“ gekleideten Frauen ein Dorn im Auge, auch für die fundamentalislamische Ideologie der türkischen Regierungspartei AKP bedeutet das Feiern von Weihnachten und Silvester schon seit Langem einen Rück­fall in nichtislamische Sitten. Dementsprechend werden diese Feiern und Gebräuche seit Jahren mehr und mehr bekämpft. Viele türkische Zeitungen führten auf Geheiß der Regierung im Dezember einen regelrechten Propaganda-Krieg gegen das Neujahrsfeiern und gegen den türkischen „Papa Noël“, der an diesem Tag vielen Kindern in der Türkei die Geschenke bringt.
In früheren Jahren hatte man diese seit den 1950er Jahren aufgekommene Tradition noch geduldet, aber in letzter Zeit wird der Angriff der AKP auf die angeblich unislamischen Gewohnheiten in der türkisch-säkularen Gesellschaft immer stärker. In einer systematischen Stimmungsmache gegen die allzu abendländische gute Laune wird schon seit Jahren von Stadtverwaltungen, die von der Regierungspartei AKP getragen werden, darauf hingewiesen, dass dies christlich-europäische und nicht türkische Traditionen seien.
Silvester erfreut sich jedoch bei säkularen Türken, bei Kindern und in der Geschäftswelt großer Beliebtheit, man macht sich Geschenke, es gibt bereits türkische „Papa Noël“-Lieder und man feiert ausgelassen. Deshalb haben vor allem die Schulbehörden in den letzten Jahren die Schulen angewiesen, jegliche Weih­nachts- oder Silvesterfeiern zu untersagen. Auch das Präsidium des Amtes für Religionsangelegenheiten, Ditib, das für sämtliche Moscheen des Landes sowie auch für die Ditib-Imame im Ausland – darunter knapp 1000 in Deutschland – die Freitagspredigten vorformuliert, macht immer mehr gegen die angebliche Verchristlichung des türkischen Islam mobil und biegt sich den Koran zu diesem Zweck so zurecht, wie man ihn haben will.

Der Kreuzzug gegen die „unislamischen“ Feste geht in den sozialen Netzwerken der Erdogan-Adepten noch weiter. Dort machte vor den Tagen des Attentats eine gestellte „Hinrichtung des Weihnachtsmannes“ die Runde. Für viele war das ein Omen für das, was im „Reina Club“ dann tatsächlich passierte. Die anfangs kursierende Behauptung, der 38-fache Todesschütze sei als Weihnachtsmann verkleidet gewesen, passte so gesehen in die Antiweihnachtshetze in der Türkei. In Istanbuls Innenstadt und am Bosporus-Ufer waren die Folgen dieser Hetze an Silvester bereits spürbar. Die beliebte Fußgängermeile Istiklal mit ihren vielen Bars und Musikschuppen und der Taksim-Platz waren nicht viel voller als an anderen Tagen. Dennoch war die Polizei hier viel präsenter als im „Reina“, dem größten Nachtclub des Landes mit fast 1000 Besuchern, der nur von einem Polizisten bewacht wurde. Warum die Schutzmaßnahmen hier so lasch waren, liegt auf der Hand.
Aber nicht nur in der Türkei hat das Silvester-Massaker eines vermutlich aus Zentralasien stammenden Terroristen eine seltsame Reaktion hervorgerufen. Die meisten Opfer des Attentats stammten neben der Türkei aus Saudi-Arabien. In den Medien der Halbinsel wurden die fünf saudischen Toten geflissentlich übergangen, nicht nur, weil auch in der Lehre des staatlich verordneten Wahhabismus Silvester und alle anderen westlichen Feste ein Unding sind. Übergangen wurde auch die Tatsache, dass erstmals bei einem fundamentalislamischen Attentat unter den Opfern Araber und eine Israelin waren. Das durfte nach saudischer Lesart überhaupt nicht sein. Juden und Israelis haben kein Einreiserecht in Saudi-Arabien und dürfen noch nicht einmal Kontakte nach dort haben.
Ganz anders ist der Libanon, der letzte laizistische Staat des Nahen Ostens, mit seinen drei Opfern umgegangen. Sie wurden in den libanesischen Medien als wahre Nationalhelden hervorgehoben und ins Gedächtnis der Menschen gerufen. Dabei handelte es sich um zwei christliche und ein muslimisches Opfer.    Bodo Bost

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