Stationen

Montag, 27. Februar 2017

Die Lieblinge der Götter

Alles gaben Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.

Goethe selber hat diesen schönen Versen offenbar wenig Bedeutung beigemessen. Er notierte sie 1777 in einem Brief an die Gräfin zu Stolberg, eine etwas jüngere Dame, die er nie gesehen hat, die aber zu seinen Korrespondenzpartnerinen gehörte.

In eine Buchausgabe seiner Lyrik hat er das kurze Gedicht nie aufnehmen lassen. Trotzdem wurde es bald veröffentlicht: Der Bruder der Empfängerin, Graf Friedrich Leopold zu Stolberg zitierte es  in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Deutsches Museum“.
Aber der erste Vers lautet dort: „Alles geben die Götter, die unendlichen ...“ So wurde das Gedicht auch über hundert Jahre lang in allen Goethe-Ausgaben gedruckt.

Doch in dem Brief an die Gräfin zu Stolberg begann das Gedicht anders: „Alles gaben Götter, die unendlichen...“ Also wie nun: „geben“ oder „gaben“, „Götter“ oder „die Götter“?

Hat Stolberg Goethes Verse umgeändert? Zu den Lesern des „Deutschen Museum“ gehörte auch Goethe, er muss also zumindest eingewilligt haben. Änderte Goethe es selber für diese Veröffentlichung ab? Schlug Stolberg die Änderung vor? Wir wissen es nicht.

Der Unterschied zwischen den beiden Fassungen ist nicht geringfügig. Die Hinzufügung des Artikels „die“ verleiht auch dem ersten Vers den gleichmäßigen Rhythmus der drei übrigen Verse. Und mit dem Verb in der Vergangenheit wird eine geschichtliche Feststellung ohne Aktualität ausgedrückt, etwas, das vorbei ist.

Heißt es aber „geben“, dann ist mit dem Gedicht ein gegenwärtiger Sachverhalt gemeint und womöglich eine persönliche Erfahrung.
Interessanterweise schreibt Goethe in dem Brief an die Gräfin zu Stolberg von der „Unruhe des Lebens“ (er meint: seines Lebens), lässt darauf die vier Verse folgen und fügt sogleich hinzu: „So sang ich neulich, als ich tief in einer herrlichen Mondnacht aus dem Flusse stieg der vor meinem Garten fließt; und das bewahrheitet sich täglich an mir.“

Mit anderen Worten: die Stolbergsche Version liegt eigentlich nahe und es ist plausibel, dass Goethe mit den Versen zwar eine Remineszenz ausdrückte, ein Nachsinnen über Vergangenes, das er aber sehr wohl nachempfand und durch die Niederschrift im Brief seinen Gemütszustand wie ein Echo der Antike anklingen ließ, nur ohne sich direkt als einen der Götterlieblinge hinzuzählen zu wollen, zumindest nicht in dem Brief an die junge Dame. Aber er wird Stolberg sicherlich zugestimmt haben, als (bzw. falls) dieser ihn auf Präsens, Aktualität und Goethes eigenes Leben verwies und vorschlug, aus Anspielung und Analogie explizite Feststellung zu identischem Erleben zu machen.

Von der Gleichzeitigkeit der außerordentlichen Freuden und der außerordentlichen Schmerzen in seinem Dasein hatte Goethe sich etwas früher in einem Brief an seine Mutter geäußert: dass ihm nämlich der Tod der Schwester Cornelia (sie war am 8. Juni 1777 gestorben) „nur desto schmerzlicher sei“, als er ihn „in so glücklichen Zeiten“ überrasche.

Goethe wusste aus persönlichem Erleben, wovon er sprach, aber er war auch ein Meister der edlen Verallgemeinerung. Er sprach nicht von sich selbst, wenn er von seiner Erfahrung kein allgemeingültiges Prinzip ableiten konnte, dass der Menschheit im allgemeinen dienlich sein kann.

Er weiß sehr wohl, dass er zu den Lieblingen der Götter gehört, er sagt es auch gegen Ende jener späten „Elegie“, die wir die Marienbader nennen.

Doch er weiß, dass seine Erfahrung sich im Mythos widerspiegelt und somit zeitlos ist, dass sie also sowohl der Vergangenheit wie der Gegenwart angehört und der Zukunft, und sicher nicht nur ihm, sondern all jenen eignet, die wie er zu den Lieblingen der Götter gehören. Vielleicht auch wie Kaiser Franz Joseph? Der von sich sagte, es bliebe ihm nichts erspart... Oder wie der sizilianische Serval, der Gattopardo, der dem Lauf der Welt zusehen musste, ohne ihn ändern zu können! Oder wie Kaiser Wilhelm II, der, als er von der Reichskristallnacht hörte, sagte, zum ersten Mal in seinem Leben, schäme er sich, ein Deutscher zu sein.

Anders als der Oberlehrer Reich-Ranicki glaube ich nicht, dass zu diesen Lieblingen der Götter nur Künstler und Dichter zu zählen sind. Und schon gar nicht die, die heutzutage als Künstler und Dichter gelten; jedenfalls nicht die meisten von ihnen; ausgerechnet dieses abscheuliche Opportunistenpack, nein wirklich nicht. Künstler wie Goethe - der eigentlich als Minister arbeitete, oder Michelangelo - der auch als Festungsarchitekt während einer Invasion des Kaisers tätig war, oder der Ingenieur Leonardo da Vinci - der mit seinem Freund Machiavelli plante, den Arno umzuleiten, um die Pisaner in Wassernot zu versetzen, oder wie Tilmann Riemenschneider - der Bürgermeister von Würzburg war, gibt es ja nicht mehr.

Ein Chansonnier wie Enzo Jannaci - der nebenbei als Kardiologe in Barnards Equipe in Kapstadt arbeitete - ist heutzutage die engstmögliche Bindung eines Künstlers an eine solide Tätigkeit und sie ist offenbar nur in Italien möglich. Paolo Conte ist ja eigentlich auch Rechtsanwalt, Edoardo Bennato ist eigentlich Architekt. Die Italiener haben nicht nur immer noch die besseren Künstler, es sind auch Künstler, die keine übergeschnappten Wichtigtuer sind, wie Ai Wei Wei oder Joseph Beuys, sondern Menschen mit einem Handwerk und mit einer kulturgeschichtlichen Identität, die sie mit ihren Vorfahren in einen Kontinuitätszusammenhang stellt, der in Deutschland völlig tot zu sein scheint. Oder ist er nur bewusstlos?

Neben den Menschen, deren Gewahrsein sie zu heldenhafter Tragik prädestiniert hat, gehören Künstler wie Janacci und vielleicht auch ein paar Leute wie Carl Djerassi zu diesen Lieblingen der Götter. Einer, der nicht nur das Brennen und Morden der Nazis überlebte, sondern sogar eine wundervolle Karriere erlebte, der aber auch die eigene Tochter überlebte. Was für ein Schmerz muss es sein, wenn die eigenen Kinder vor einem gehen.


Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.

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