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Freitag, 24. Februar 2017

Thymos



θυμός = Lebenskraft, Wille, Gemüt, Geist, Seele


In einem bundesweit bislang einzigartigen Verfahren versuchen Staatsanwälte in Brandenburg, den Verbleib von tausenden Asylbewerbern aufzuklären, die bei ihrer Ankunft in Deutschland nur mangelhaft erfasst wurden. Die bisherigen Ermittlungen haben alarmierende Resultate ans Licht befördert.

Insgesamt hat Brandenburg im Jahr 2015 rund 47000 Asylbewerber aufgenommen. Davon sind rund 18000 Personen auf dem Höhepunkt der Massenzuwanderungskrise nur unzureichend erfasst worden. Vor allem über Ungarn und Österreich sind von September bis Dezember 2015 tausende Menschen in die Mark gelangt, ohne dass sie beim Grenzübertritt in Bayern vollständig identifiziert worden waren. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) hat bislang 1000 dieser Fälle überprüft. 

Dabei wurde festgestellt, dass 15 bis 20 Prozent der Asylsucher „überhaupt nicht bekannt, also offensichtlich abgetaucht sind“, so Oberstaatsanwalt Ulrich Scherding gegenüber dem Sender RBB. Rechnet man das Ergebnis auf die gesamte Gruppe der im Herbst 2015 eingereisten Asylsucher hoch, dann könnten allein im Land Brandenburg bis zu 3600 Personen völlig vom Radar der Behörden verschwunden sein. Über deren Verbleib kann bislang nur spekuliert werden. „Wir gehen … davon aus, dass sich ein verhältnismäßig großer Prozentsatz nicht mehr im Land aufhält“, so die Einschätzung von Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg.
Rautenberg bemüht sich schon seit längerer Zeit um die Aufklärung der Frage, wer genau im Herbst 2015 nach Brandenburg eingereist ist. Im Zuge der Aufklärungsbemühungen war im Herbst 2016 ein Konflikt mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) so weit eskaliert, dass  Rautenberg bei der Behörde dort gelagerte Datensätze sogar beschlagnahmen lassen wollte. Das BAMF verweigerte die Herausgabe der Daten mit der Begründung, es fehle die Verhältnismäßigkeit für eine Rasterfahndung. Das Landgericht Frankfurt (Oder) hat sich dieser Sichtweise angeschlossen.

Vor diesem Hintergrund blieb der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) nur übrig, in einem zeitaufwendigen Verfahren die Identität und den Verbleib der Eingereisten ohne die Daten des BAMF zu klären. Als juristische Grundlage dient dabei der Anfangsverdacht einer illegalen Einreise. Scharfe Kritik am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kam in der Vergangenheit auch aus Bayern und Mecklenburg-Vorpommern: Der Behörde wurde unter anderem vorgeworfen, sie habe Passfälschungen nicht erkannt.

Laut Medienberichten ist das Bundesamt aber auch auf tausende Manipulationen an Dokumenten gestoßen. Über längere Zeit soll aber eine Weiterleitung der Erkenntnisse an die Ermittlungsbehörden unterblieben sein. Hinzu kommen gravierende technische Probleme.
Das BAMF behandelt erst seit Herbst 2016 alle Asylbewerber erkennungsdienstlich und gleicht die Fingerabdrücke mit den Sicherheitsbehörden ab. Laut einem Bericht der „Welt“ sollen allerdings mehr als 90 Prozent der kommunalen Ausländerbehörden bislang gar nicht im Besitz von Geräten sein, mit denen sich Fingerabdrücke von Asylbewerbern nehmen und mit dem Ausländerzentralregister des BAMF vergleichen lassen.
Der Kontrollverlust auf kommunaler Ebene hat gravierende Folgen: Bundesweit werden immer wieder Betrugsfälle bekannt, bei denen Asylbewerber mit Mehrfachidentitäten Sozialleistungen erschleichen. Allein in Niedersachsen geht man derzeit von mindestens 300 Fällen von Sozialbetrug und Millionenschäden durch Verwendung verschiedener Identitäten aus.
Angesichts solcher Dimensionen überrascht es, dass die brandenburgischen Landesregierung erklärt hat, ihr lägen keine statistischen Daten zu Sozialbetrug durch Mehrfachidentitäten vor. So lautet zumindest die Antwort, die Thomas Jung, der innenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Landtag, auf eine parlamentarische Anfrage erhalten hat. Bemerkenswert fiel auch die Antwort auf eine Anfrage zum Umgang Brandenburgs mit tschetschenischen Asylbewerbern aus.
Allein von Januar bis November 2016 sind fast 2300 Personen aus der Russischen Föderation, meist Tschetschenen, nach Brandenburg gekommen. Die Anerkennungsquote als Asylberechtigte liegt bei dieser Gruppe bei weniger als fünf Prozent. Fast alle Tschetschenen reisen zudem über Polen nach Brandenburg ein und müss­ten nach EU-Recht eigentlich dort einen Asylantrag stellen.
Laut der Antwort der Landesregierung sind im Jahr 2016 allerdings nur 22 Familien mit 99 Personen nach Polen zurückgeschickt worden. Ganz offen erklärt die Landesregierung zudem in ihrer Antwort auf die parlamentarische Anfrage des AfD-Innenpolitikers, dass sie sich − „bei grundsätzlichem Festhalten am Dublin-System“ − gegenüber dem Bund im Fall von Asylbewerbern aus der Russischen Föderation für einen „Selbsteintritt in ein nationales Asylverfahren“ einsetzt. Im Klartext bedeutet dies nichts anderes, als dass entgegen EU-Recht die Asylverfahren für Tschetschenen nicht Polen überlassen, sondern in Deutschland bearbeitet werden sollen.     Norman Hanert

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