Stationen

Montag, 15. Mai 2017

Contraria sunt complementa

95 Prozent der Zuschriften indes sind erfreulich, etwa jene von Leser ***, der meine Worte zitiert

"Als ein den Geistesdingen Wohlgesonnener und Homme de lettres pflege ich eine gewisse Distanz gegenüber den fürs Technische und Bezifferbare Empfänglichen"

und dazu schreibt:

"Ich empfehle Ihnen Distanzlosigkeit.

Wo wären wir heute, wenn die fürs 'Bezifferbare Empfänglichen' die Welt ausschließlich den Geistes'wissenschaftlern' überlassen hätten?

Die Erde wäre noch immer eine Scheibe. Sie würden sich darauf bestenfalls auf einem Pferd schneller fortbewegen, oder wären mit hoher Wahrscheinlichkeit schon Pest, Cholera oder einer anderen Infektionskrankheit erlegen. Eine Blinddarmentzündung hätte auch gereicht.

Im Besitz ihrer absoluten geistigen Wahrheit hätten Heilsbringer die Welt bereits erfolgreich zerstört. Leider begreifen sie es einfach nicht und versuchen es immer wieder.

Vermutlich ist die Überheblichkeit der Geisteswissenschaftler indirekt proportional zu deren Fähigkeit zu falsifizierbarem und exaktem naturwissenschaftlichen Denken.

Mit freundlichen Grüßen

***
Dipl.-Ing."


Gewiss doch, alles richtig. Dass der momentane Zustand der Geisteswissenschaften beklagenswert ist, sei unbestritten. Nur "Geistes"wissenschaftler_innen konnten sich ausdenken, dass Geschlecht ein "Konstrukt" sei und Gender-Mainstreaming eine Lösung für Probleme, von denen außer ein paar Okkultisten niemand etwas wusste, oder dass es keine Menschenrassen gebe, aber weiße Männer am Elend des Planeten schuld seien, oder dass ausgerechnet die alte BRD, im konkreten Fall mit Blick auf den Starnberger See, eine "Risikogesellschaft" gewesen sei. Die Abiturienten- und Habitiliertenschwemme ist ein Problem der Geisteswissenschaften, wo man auch als Plattkopf mit einer gewissen trendkonformen Flexibilität und der richtigen Gesinnung bzw. Anprangerung der falschen durchkommt, während ein Trottel in den Naturwissenschaften sofort auffiele. Aber wie armselig wäre eine Bibliothek ohne die großen Philosophen oder ohne Autoren wie Jacob Burckhardt, Dilthey, Max Weber, Friedell, Mommsen, Luhmann, um nur ein paar deutsche Namen zu nennen? Und wie sähe die Welt aus, wenn man sie allein den Praktikern und Berechnern überließe? Was bliebe im Technikerparadies von den überflüssigen Schönheiten dieses Planeten, den natürlichen wie den geschaffenen, übrig? Merke Gómez Dávila: "Der Teufel hat heute eine geometrische Form."  

Wie ich an dieser Stelle bereits ausführte, lösen sich der Widerspruch auf, wenn man sich entschließt, die Dinge goethisch zu sehen, sich sowohl für die Naturwissenschaften als auch für die Geistesdinge – und die Künste! – interessiert, sie als etwas Zusammengehörendes begreift, in ihnen lebt und webt, und zwar ohne Scheu vor dem unausweichlichen Dilettantismus, in den sich in unserer überkomplexen Welt jeder begibt, der über sein kleines Fachgebiet hinaus geistige Interessen pflegt und sich möglichst viel "Welt" aneignen will.   MK am 15. 5. 2017

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