Die Ereignisse überschlagen sich. „Es“ ist passiert, in Berlin laufen
sie voller Schrecken durcheinander. „Spiegel“-Schreiber Jakob Augstein
fasst die hechelnde Panik in Worte: „Nazis im Bundestag“! Wer hat das
getan? Wer hat die gewählt? Der frühere „Focus“-Chef Helmut Markwort
verriet schon vor der Wahl, er kenne persönlich niemanden, der AfD wähle
und auch niemanden, der einen kenne, der die Blauen ankreuzen wolle.
Helmut
Markwort ist ein besonnener Mann, typischer FDP-Anhänger, also nicht so
leicht aus der Ruhe zu bringen. Daher dürfte ihn das Ereignis vom 24.
September längst nicht dermaßen aus der Fassung bringen wie die
Augsteins der Republik. Allerdings gibt Markworts Zitat Auskunft
darüber, wie weit sich die sogenannte „Informationselite“ der Republik
von einem nicht gerade kleinen Teil des Volks entfernt hat − kennt nicht
mal einen, der einen kennt, als wohnten sie auf verschiedenen
Kontinenten.
Was den „Spiegel“-Autor zutiefst irritieren muss, ist
die absehbare Erfahrung, dass er seine scheppernde Attacke ins Leere
reitet. Es ist nicht lange her, da hätte er mit dem Schwingen der
Nazikeule unter AfD-Anhängern Angst und Schrecken verbreitet.
Jahrzehntelang zuckten die Deutschen zusammen, wenn sie einer in die
Nähe der Hitlerei rückte.
Ephraim Kishon hat dieses deutsche Spiel
schon vor Jahrzehnten entlarvt: Wer unter Deutschen eine Debatte
„gewinnen“ wolle, der müsse nur zum rechten Zeitpunkt mit möglichst
empört tuendem Augenaufschlag „Hitler!“ rufen, und schon sei der
Gegendiskutant erledigt.
Dieses deutsche Spiel hat so prächtig
funktioniert, dass immer mehr Leute mitspielen wollten. Zum Schluss
„hitlerte“ es bei jeder noch so banalen Gelegenheit: Das Nennen gewisser
Zahlen aus der Kriminalitätsstatistik, das Zitieren einer unfriedlichen
Koran-Sure, der Hinweis auf gesetzliche Regelungen zur Grenzkontrolle
oder Ähnliches reichte schon, damit einem die braune Trumpfkarte vor die
Nase geknallt wurde.
Der AfD hatte man die Karte jahrelang um die
Ohren gehauen. Alle spielten mit: die etablierten Parteien und die
Staats- und Konzernmedien, die Kirchen und Gewerkschaften, Scharen von
„Promis“ und wer nicht alles. Eigentlich hätten die alternativen
Unruhestifter längst mausetot sein müssen. Sind sie aber nicht, im
Gegenteil, wie wir seit Sonntag schwarz auf weiß haben. Die Nazikeule
hat so oft zugeschlagen, dass sie ihre Wirkung verlor. Sie schreckt
nicht mehr, sie nervt höchstens noch.
So wie Anfang der Woche. Da hat
AfD-Spitzenkandidat Gauland die spitze Frage gestellt, was der Spruch,
Israels Sicherheit und Existenzrecht seien Teil der deutschen
Staatsräson, in der Praxis eigentlich wert sei. Ob die Deutschen sich
überhaupt bereitfänden, in den Krieg zu ziehen, wenn der (latent
gefährdete) Judenstaat Ziel einer militärischen Aggression würde. Er
habe da seine Zweifel. Und die hat er wohl zu Recht.
Doch Volker
Beck, Grüner und Chef der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe im
alten Bundestag, quasselte sofort etwas von „NPD“ und „antisemitisch“.
Dabei hatte Gauland nur wissen wollen, ob die hochtrabende Zusage an
Israel ein ernstes Beistandsversprechen darstellt oder bloßes Geschwätz −
und damit offensichtlich den wunden Punkt der Schwätzer getroffen. Also
holten die Getroffenen ihre Nazikeule heraus, erzielten damit
allerdings keinerlei nennenswerte Wirkung. Schon wieder daneben!
Dieser
Kontrollverlust ist das eigentlich Schockierende. Man hatte sich daran
gewöhnt, die Deutschen mithilfe ihrer Angst und ihres schlechten
Gewissens beliebig durch die Manege treiben zu können. Doch irgendwann
ist es halt allzu durchschaubar geworden. Wenn die Leute den Budenzauber
aber erst einmal durchblickt haben, können die Gaukler einpacken.
Merkels
Kanzleramtsminister Peter Altmaier hatte kurz vor der Wahl ja noch mal
alles gegeben und die AfD-geneigten Bürger aufgefordert, gar nicht erst
zur Wahl zu gehen. Die Botschaft: Wer nicht für uns ist, der ist nicht
bloß gegen uns, der sollte am besten gar nicht mehr dabei sein bei der
Demokratie.
In den Altmaier-Worten paarten sich Verzweiflung und
Arroganz in beispielhafter Weise. Wir bekamen einen tiefen Einblick in
das, was man das „Demokratieverständnis“ der Mächtigen nennen könnte,
welches nach dem Grundsatz zu funktionieren scheint: Demokratie ist,
wenn wir die Macht behalten.
Für einen bestimmten Teil des deutschen
Volkes hört sich das in etwa so an wie: Es muss demokratisch aussehen,
aber wir müssen alles in der Hand haben. Das kennt dieser bestimmte Teil
noch von irgendwoher, was den besonderen Wahlerfolg der Populisten in
dessen Heimatregionen erklärbar macht.
Wie tief das Missverständnis
der Mächtigen der deutschen Republik in Sachen Demokratie schon reicht,
lässt sich auch an den Kommentaren zur Entwicklung in den USA ablesen.
Mit diebischer Freude verfolgen Deutschlands Tonangeber in den Medien,
wie US-Präsident Donald Trump gegen ein rebellisches Parlament anrennen
muss. Wie ihn die Volksvertreter zu Verhandlungen und Kompromissen
nötigen und ihren Präsidenten auch gerne mal komplett auflaufen lassen.
„Trump
im Kongress gescheitert“ jubeln deutsche Redaktionen auf und deuten das
als Schwäche des US-Präsidenten, von der sich die Stärke und der
Rückhalt unserer Kanzlerin so wohltuend abhebe, was doch der Beweis
dafür sei, dass unsere Demokratie derzeit viel besser funktioniere als
die der Amis. Haha!
Die gleiche Begeisterung löst es aus, wenn der
ungeliebte Trump von einem hohen Gericht in die Schranken gewiesen wird.
Seht ihr: Er kann es nicht! Wir dagegen ...
Die US-Amerikaner nennen
das, was sie da treiben, „checks and balances“, zu Deutsch: Überprüfung
und Ausgleich. Wir Deutsche enttarnen das natürlich als Beschönigung,
die lediglich übertünchen soll, wie’s da drüben drunter und drüber geht.
Was
die teutonischen Besserdemokraten leider übersehen, ist, dass es sich
bei dem Treiben in Übersee um nichts anderes handelt als um praktizierte
Gewaltenteilung. Genauso haben es sich die Schöpfer der modernen
Demokratie nämlich gedacht: Dass das Parlament aus gewählten
Volksvertretern die Regierung streng kontrolliert und dass die Gerichte
beide Organe, Regierung wie Volksvertretung, genau im Auge behalten,
damit alles, was sie treiben, im Rahmen der Gesetze bleibt.
Doch wie
funktionierte das im Deutschland der vergangenen Jahre? Das Parlament
„kontrolliert“ die Regierung? Es läuft genau umgekehrt: In der größten
Regierungsfraktion etwa schwang ein getreuer Gefolgsmann der Kanzlerin
namens Volker Kauder die Rute über folgsame Fraktionssoldaten, die in
untertäniger Treue strammstanden vor ihrer Herrin.
So hob die
Kanzlerin mit einem Fingerschnippen die Gesetze zur Grenzkontrolle und
Einreise auf − doch weder im Parlament noch sonstwo regte sich hörbarer
Widerstand, höchstens auf der Straße. Über die Bürger, die dort zu
protestieren wagten, rollte jedoch die „vierte Gewalt“ in Gestalt der
„unabhängigen“ Staatsmedien hinweg, um die Hitler-Karte zu zücken.
Gegen
dieses Gespinst einer alles überspannenden Allmacht kam nichts und
niemand auf. Gewaltenteilung? „Checks and balances“? Nichts dergleichen.
Aus
diesem Machtgefühl scheint die Kanzlerin noch immer ihre Ruhe zu
schöpfen. Wenn man sieht, mit welcher Selbstverständlichkeit sie im Amt
verharrt, kann man den Eindruck bekommen: Im Grunde ihres Herzens
zweifelt Merkel nach zwölf Jahren an der Regierung daran, dass das
sogenannte Volk überhaupt noch das moralische Recht hat, über ihre
Kanzlerschaft abzustimmen. Hans Heckel
Samstag, 30. September 2017
Freitag, 29. September 2017
Bedingt
Stellen Sie sich vor, wir brauchen eine neue Regierung und keiner
macht mit. Davon handelt unser Wochenendtitel: Deutschland - bedingt
regierungsfähig. Sieben Gründe sind es, die das Geschäft mit der Macht
derzeit so kompliziert machen:
Erstens: Mit der SPD sitzt im Bundestag erstmals eine Volkspartei, die aus Prinzip nicht an der Macht beteiligt werden will. Die Schulz-SPD möchte nicht die Welt retten, sondern vor allem sich selbst.
Zweitens: Die AfD ist eine Partei, mit der kein anderer regieren will. Mit den Schmuddelkindern spielt man nicht.
Drittens: Das bedeutet, dass knapp ein Drittel der Abgeordneten die Regierungsbildung passiv bei „Maybrit Illner“ verfolgt. Der Bundestag ist - noch bevor er in neuer Besetzung zusammentritt – zwiegespalten: Die einen schreiben Konzeptpapiere für die nächste Verhandlungsrunde, die anderen versorgen sich mit Dosenbier und Salzstangen.
Viertens: Merkels verbleibende Koalitionspartner - FDP, Grüne und CSU - wollen zwar regieren, aber wenn’s geht nicht miteinander. Sie zu einem vorzeigbaren Ensemble zu formieren, ist ähnlich schwierig wie die musikalische Vereinigung von Bundeswehr-Big-Band, Stefan Mross und Campino. Jeder hat seine Bewunderer, aber es gibt keine gemeinsamen Fans. Campino bekommt wahrscheinlich schon einen Hörsturz, wenn Stefan Mross seine Trompete nur ansetzt.
Fünftens: Die Beteiligten - das kommt strafverschärfend hinzu - haben ihren Wählern fulminante Abschiede versprochen - nur jeder einen anderen. Die CSU will sich von der Willkommenskultur verabschieden, die FDP vom Schlendrian in der Eurozone und notfalls auch von Griechenland. Die Grünen möchten den Verbrennungsmotor verschrotten. Jeder hält den Abschied des anderen für unmenschlich oder zumindest unsinnig.
Sechstens: Früher hätte man gesagt: Macht nichts. Doch die Kunst des politischen Pokerns - Flüchtlinge gegen Dieselmotor, frisches Geld für Griechenland vs. mehr Staatssekretäre für die FDP - stößt an Grenzen. Was früher als Schlitzohrigkeit durchging, gilt heute als obszön.
Siebtens: Alle kleinen Parteien eint das Misstrauen gegen die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende. Denn Merkel weiß, wie man Wahlsieger in Eunuchen verwandelt. Sie setzt das Skalpell so kunstfertig an, dass die Betroffenen erst später merken, dass sie entmannt wurden. Rainer Brüderle und Philipp Röslerwissen, was hier gemeint ist. Horst Seehofer auch. Seine politische Potenz ist nach dem verlorenen Poker um die „Obergrenze“ keine Tatsache mehr, sondern eine bayerische Hochstapelei. Unschön mit anzusehen: Seehofer will, aber er kann nicht.
So diskutieren denn hinter vorgehaltener Hand die ersten Politiker bereits über Neuwahlen. Der Wähler ist schließlich schuld an dem Schlamassel. Dafür muss er büßen. Es gilt das Verursacherprinzip.
Noch wäre es Zeit, den Weg in die vorsätzliche Regierungsunfähigkeit zu stoppen. Vielleicht kann sich die SPD-Bundestagsfraktion doch noch aufraffen, das Landeswohl vor das Parteiwohl zu setzen. Das schafft noch keine neue Regierung, aber das schafft Optionen. Bertolt Brecht weist Andrea Nahles den Weg: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.“ Gabor Steingart
Erstens: Mit der SPD sitzt im Bundestag erstmals eine Volkspartei, die aus Prinzip nicht an der Macht beteiligt werden will. Die Schulz-SPD möchte nicht die Welt retten, sondern vor allem sich selbst.
Zweitens: Die AfD ist eine Partei, mit der kein anderer regieren will. Mit den Schmuddelkindern spielt man nicht.
Drittens: Das bedeutet, dass knapp ein Drittel der Abgeordneten die Regierungsbildung passiv bei „Maybrit Illner“ verfolgt. Der Bundestag ist - noch bevor er in neuer Besetzung zusammentritt – zwiegespalten: Die einen schreiben Konzeptpapiere für die nächste Verhandlungsrunde, die anderen versorgen sich mit Dosenbier und Salzstangen.
Viertens: Merkels verbleibende Koalitionspartner - FDP, Grüne und CSU - wollen zwar regieren, aber wenn’s geht nicht miteinander. Sie zu einem vorzeigbaren Ensemble zu formieren, ist ähnlich schwierig wie die musikalische Vereinigung von Bundeswehr-Big-Band, Stefan Mross und Campino. Jeder hat seine Bewunderer, aber es gibt keine gemeinsamen Fans. Campino bekommt wahrscheinlich schon einen Hörsturz, wenn Stefan Mross seine Trompete nur ansetzt.
Fünftens: Die Beteiligten - das kommt strafverschärfend hinzu - haben ihren Wählern fulminante Abschiede versprochen - nur jeder einen anderen. Die CSU will sich von der Willkommenskultur verabschieden, die FDP vom Schlendrian in der Eurozone und notfalls auch von Griechenland. Die Grünen möchten den Verbrennungsmotor verschrotten. Jeder hält den Abschied des anderen für unmenschlich oder zumindest unsinnig.
Sechstens: Früher hätte man gesagt: Macht nichts. Doch die Kunst des politischen Pokerns - Flüchtlinge gegen Dieselmotor, frisches Geld für Griechenland vs. mehr Staatssekretäre für die FDP - stößt an Grenzen. Was früher als Schlitzohrigkeit durchging, gilt heute als obszön.
Siebtens: Alle kleinen Parteien eint das Misstrauen gegen die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende. Denn Merkel weiß, wie man Wahlsieger in Eunuchen verwandelt. Sie setzt das Skalpell so kunstfertig an, dass die Betroffenen erst später merken, dass sie entmannt wurden. Rainer Brüderle und Philipp Röslerwissen, was hier gemeint ist. Horst Seehofer auch. Seine politische Potenz ist nach dem verlorenen Poker um die „Obergrenze“ keine Tatsache mehr, sondern eine bayerische Hochstapelei. Unschön mit anzusehen: Seehofer will, aber er kann nicht.
So diskutieren denn hinter vorgehaltener Hand die ersten Politiker bereits über Neuwahlen. Der Wähler ist schließlich schuld an dem Schlamassel. Dafür muss er büßen. Es gilt das Verursacherprinzip.
Noch wäre es Zeit, den Weg in die vorsätzliche Regierungsunfähigkeit zu stoppen. Vielleicht kann sich die SPD-Bundestagsfraktion doch noch aufraffen, das Landeswohl vor das Parteiwohl zu setzen. Das schafft noch keine neue Regierung, aber das schafft Optionen. Bertolt Brecht weist Andrea Nahles den Weg: „Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.“ Gabor Steingart
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