Der Osteuropa-Historiker
Gottfried Schramm
hat in seinem Buch über die Wegscheiden der Weltgeschichte die These
aufgestellt, dass revolutionäre und reformatorische Bewegungen in der
Regel nicht von den Zentren der politischen und geopolitischen Macht,
sondern von den Peripherien ausgehen: nur hier sei das intellektuelle
Ferment, der politische Freiraum vorhanden gewesen, damit
Persönlichkeiten, die anderswo als Abenteurer und Spinner abgetan worden
wären, ihre Ideen entwickeln und Anhänger um sich scharen konnten.
Schramm erläutert diese These unter anderem anhand der Ausbreitung
des Christentums und an der Russischen Revolution, die sich in diesem
Jahr zum hundertsten Male jährt. Aber auch die Reformation, deren
fünfhundertsten Jahrestag wir in Kürze feiern werden, ging ursprünglich
von einer Peripherie aus, wenn sie auch, von der Medienrevolution ihrer
Zeit getragen, bald in die ökonomischen Zentren des Reichs vorstieß:
Luthers Wittenberg war zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein
Universitäts-Vorposten in der
Germania slavica, in jenen
historisch jungen Reichsländern, wo die Unterschichten weiter
Landstriche noch „wendisch“, das heißt sorbisch sprachen und das
Christentum weit ältere, gleichwohl noch lebendige naturreligiöse
Vorstellungen überformt hatte.
In den letzten Wochen ist viel darüber diskutiert worden, ob diese
Strukturgeschichte Ostdeutschlands mit den vernichtenden
Stimmen-Einbußen der herrschenden CDU/CSU bei der Bundestagswahl zu tun
haben könnte: Von der Halbzivilisation des Römischen Reiches deutscher
Nation über das ökonomisch-strukturell ostmitteleuropäische Ostelbien
und die sowjetisch-slavische DDR bis zum renitenten sächsischen
AfD-Land? Fest steht, dass die vorgebliche Alternativlosigkeit bei
gleichzeitiger Prinzipienlosigkeit, mit der unsere Kanzlerin seit
einigen Jahren Politik macht, heute inner- und außerparteilich besonders
von Seiten der Peripherie herausgefordert wird, sei es die sächsische
oder die bayerische.
Und das gilt offensichtlich nicht nur für die Migrationspolitik, die
als Sicherheitsproblem während des Wahlkampfes in aller Munde war – das
gilt genauso für ein Thema, das im Wahlkampf fast überhaupt keine Rolle
spielte, nämlich unsere Energiepolitik und Energiesicherheit. Auch hier
sind es vor allem die Bayern, die wie kein anderes Bundesland von
Kernstrom abhängig sind, und die Braunkohle-Länder Sachsen und
Brandenburg, in denen sich vermehrt Zweifel am „Weiter so“ in der
Energiewende breit machen.
Doch ist letztere ein ungleich sperrigeres Thema. Denn während über
Migration, kulturelle Identität und Religion schlechthin jeder glaubt,
aus eigener Erfahrung mitreden zu können, sind Energiewirtschaft und
Stromversorgung ein Gegenstand, für dessen Bewertung das Alltags- und
Überlieferungswissen nicht ausreicht. Während Migration und Integration
landauf, landab als akute Frage behandelt werden, hält man die
Energiepolitik seit dem Atomausstieg für „gegessen“ und wägt sich in
einer Scheinsicherheit.
Und daher ist das Risiko, das momentan von der energiepolitischen
Fehlsteuerung in Deutschland ausgeht, ungleich höher als jenes, das von
der missglückten Einwanderungspolitik ausgeht. Denn während wir im Falle
der Migrationspolitik inzwischen einen breiten gesellschaftlichen
Konsens über die Reformbedürftigkeit des gesamten Prozesses haben, steht
diese Diskussion im Falle der Energieversorgung noch aus. Doch an den
Peripherien ist sie längst im Gange.
Die derzeitige Lage
Die deutsche Energiewende ist eigentlich keine Energie-, sondern eine
Stromwende, denn Deutschland betreibt sie vorwiegend im Stromsektor.
Einer beständig steigenden installierten Leistung im Bereich der
„Erneuerbaren Energien“ steht eine reale Ersetzung nuklear erzeugter
gesicherter Leistung durch gesicherte Leistung aus Kohlekraft gegenüber.
Der Grund dafür ist: regenerative Quellen gewährleisten nur eine sehr
geringe gesicherte Leistung, und die Kernenergienutzung fällt seit 2011
de facto unter ein politisches Verbot, das stufenweise umgesetzt wird.
Unser Land erreicht daher seine CO2-Ausstoß-Ziele nicht, und es
gehört weiter zu den Mega-Produzenten von Luftschadstoffen in der
Energiewirtschaft. Ironischerweise sind es Kohle- und Kernkraftwerke im
In- und Ausland, die während der gar nicht so seltenen Dunkelflauten,
und tagtäglich angesichts volatiler regenerativer Stromproduktion die
deutsche Netzfrequenz retten. Dabei retten sie die Ehre der
Erneuerbaren gleich mit.
Doch in Wirklichkeit wird die Zielarchitektur der Energiewende, bestehend aus
Umweltverträglichkeit und Klimaschutz zum ersten,
Versorgungssicherheit zum zweiten und
Bezahlbarkeit des
gesamten Unterfangens zum dritten, von den Regierenden selbst zerstört.
Technische Experten, aber neuerdings auch die Finanzprüfer des
Bundesrechnungshofes, kommen übereinstimmend zu der Schlussfolgerung,
dass keines der selbstgesteckten drei Ziele mit der deutschen
Energiepolitik in ihrer heutigen Gestalt erreicht werden kann.
Das liegt zum einen an nicht vorausgesehenen Entwicklungen, zum
anderen an erwartbaren Prozessen. Nicht vorhergesagt wurde der
Zusammenbruch des CO2-Zertifikatemarktes. Auch die allmählich zutage
tretenden gewaltigen Umweltlasten der Erneuerbaren, die so gar nicht zu
ihrem medial vermittelten sanften Image passen wollen, treten erst
neuerdings zu Tage, nach wie vor sorgfältig umschifft von den meisten
Politikern und den allermeisten Journalisten. Dasselbe gilt für die
Energiewende als soziale Frage: dieses Unternehmen ist sozial gesehen
eine gigantische Umverteilung von unten nach oben, in der Mieter und
Kleinverdiener über ihre Stromrechnung die Minimal-Risiko-Investments
von Haus- und Grundbesitzern sowie Investorengruppen absichern, und
daneben auch den Lastenausgleich für energieintensive Industriezweige
tragen.
Voraussehbar war aber etwas anderes: Die stark unterschiedliche
Entwicklungsgeschwindigkeit von Basistechnologien der Energiewende.
Denn während wir beispielsweise auf dem Gebiet der offshore-Windkraft in
Bereiche vorstoßen, in der eine neue Systemkomponente nicht nur im
Industriemaßstab funktioniert, sondern auch wirtschaftlich
zufriedenstellend funktioniert, hinken wir im Bereich der Netz- und
Speichertechnologien weit hinterher.
Wir reißen also gerade ein bewährtes System in atemberaubender
Geschwindigkeit ab, ohne das neue System wirklich zum Funktionieren
bringen zu können. Indes wird in fiebriger Hast die nächste
Systemrevolution bereits angegangen: seit dem Diesel-Fukushima sind
Sektorkopplung und die E-Mobilität auf der Tagesordnung, obwohl man
nicht einmal in der herkömmlichen Elektrizitätswirtschaft seine
Hausaufgaben erledigt hat. Da wir keine Speichertechnologie haben, ist
der einzige Ausweg die Vorhaltung einer extrem teuren doppelten
erneuerbar-konventionellen Infrastruktur, die neben der Stromwende in
Zukunft auch die Verkehrs- und Wärmewende tragen soll.
Nicht von ungefähr halten die meisten unserer europäischen Nachbarn
das deutsche Unterfangen angesichts dieser dysfunktionalen Verteilung
von Verboten, Anreizen, Machbarkeiten und Zukunftsplanungen entweder für
den Weltverbesserungs-Spleen einer Luxusgesellschaft, die es „sich
leisten könne“, oder schlicht für verrückt.
Kognitive Dissonanz im Energiewende-Bunker
Gleichwohl ist das Vertrauen der Deutschen in regenerative
Stromerzeugungsquellen nach wie vor unerschütterlich. Denn in den
Umfragen wird die wirklich entscheidende Fragenie gestellt:
„Würden Sie auch Einbußen an Lebensstandard infolge unsicherer Stromversorgung als Preis der Energiewende akzeptieren?“
Auch wissen die wenigsten, wer eigentlich in einem Verbundnetz als
stabilisierende Kraft aktiv ist, und wer die Regelenergie bereitstellt.
Es scheint fast, als sei der Alltagsverstand einer Bevölkerung, die seit
dem Atomausstieg an Energiefragen nur mäßig interessiert ist und in
elektrotechnischen Fragen über nur spärliche Grundkenntnisse verfügt,
mit einer solchen Frage bereits überfordert. So entsteht die fatale
Schlussfolgerung: „Die Windräder drehen sich und der Strom fließt. Die
Energiewende scheint zu funktionieren.“
Dies wiederum ist die Grundlage für den parteienübergreifenden
Konsens, auf den Atomausstieg auch den Kohleausstieg folgen zu lassen –
ein selten deutliches Beispiel kognitiver Dissonanz. Denn unser
Energiesystem ist nicht einfach nur im Umbruch – es läuft gegenwärtig
Gefahr, infolge Versagens oder Nichtverfügbarkeit einiger wesentlicher
Systemkomponenten in einen Zusammenbruch hineinzulaufen, weil elementare
Systemgesetzlichkeiten aus politischen Gründen nicht beachtet werden.
Melden sich doch einmal Zweifel, so werden sie von Energiewende-Promis
wie der Ökonomin
Claudia Kemfert,
Potsdamer Klimaforschern und Berliner Politikern als Obstruktion der Kohle- und Atomlobby abgewehrt.
Gleichzeitig erinnern Zukunftsbilder und normativ-ethischer Anspruch
der Energiewende-Verfechter unter einer technikhistorischen Perspektive
stark an die euphorische Frühzeit der Kernenergie-Prognosen in den
1950er und 1960er Jahren. Diese Euphorie wurde vor allem von Politikern,
Wissenschaftlern und Journalisten getragen, aber keinesfalls von
Ingenieuren und Praktikern der Energiewirtschaft:
Unendlich viel Energie ist auch heute der thermodynamisch interessante Wahlspruch der Umfrage-produzierenden „
Agentur für Erneuerbare Energien“.
Abgeordnete, Minister und politische Beamte, die hinsichtlich ihres
naturwissenschaftlich-technischen intellektuellen Rüstzeugs den
ungefähren Durchschnitt unserer Bevölkerung abbilden, agieren in diesem
Prozess als Verstärker: Sie machen optimistische Prognosen, zumeist
ungeprüft, zur Wissensgrundlage eigener weitreichender politischer
Entscheidungen, während Skeptiker viel zu selten gehört werden.
Was wir momentan beobachten können, ist ein Feedback-Kreis
unhinterfragt und unwidersprochen zirkulierenden Energiewende-Wissens,
häufig auch Pseudo-Wissens. Gemeinsam eingesperrt im Bunker dieses
Feedback-Kreises, hoffen Regierende und Volk gemeinsam auf die
Wunderwaffen der Energiewende, die Stromspeicher. Historische Parallelen
sind an dieser Stelle ironisch, aber beabsichtigt.
Doch man sollte es sich nicht zu einfach machen und die Versäumnisse
allein bei Politik und Wahlvolk suchen. Auch die deutsche
Ingenieurszunft und die Energiewirtschaft haben sich weitgehend an das
von der Politik ausgesprochene Skepsis- und Kritikverbot gehalten. „Die
Energiewende MUSS gelingen“, wurde von oben dekretiert. Und die
Standesvertretungen, Industrieverbände, Beratergremien halten sich
daran, und garnieren ihre Publikationen und Sonntagsreden mit
Gelingens-Floskeln und optimistischer Rhetorik, als ob die DDR noch
lebte. Die Unternehmen taten, was Unternehmen in solchen Situationen
immer tun: sie suchten sich neue Märkte. Und Ingenieure haben die
Angewohnheit, jede Aufgabe als Ingenieursaufgabe zu sehen: ob nun den
Bau eines Kernkraftwerks oder eines offshore-Windparks, ob den Rückbau
oder die Endlagerung. Und so ging die Energiewende ihren Weg, mit
Verlierern und Gewinnern. Doch die Jubelmeldungen über Windkraft- und
Solarindustrieentwicklung kommentierten häufig nur eine Scheinblüte, die
im eisigen Wind der asiatischen Konkurrenz rasch in sich zusammenfiel.
Nun ist mir als Historikerin der Sowjetunion – und auch als
Historikerin der sowjetischen Kernenergiewirtschaft – dieser Stil der
Zielfestsetzung glanzvoller Zukünfte und der Dekretierung von sagbaren
und nicht-sagbaren Dingen durchaus vertraut. Die Frage ist, ob dieser
Stil als Vorbild für die Entwicklung einer der zentralen technischen
Infrastrukturen in einer demokratischen Industriegesellschaft taugt. Es
stellt sich daneben die Frage, warum sich eigentlich fast alle, die dank
ihrer Expertise etwas zu sagen hätten, an das deutsche Tabu halten,
demzufolge über Kernenergie
nie wieder geredet werden dürfe.
Diskursmacht und Dolchstoßlegenden
Technikhistorisch gesprochen ist unsere Energiewirtschaft ein
soziotechnisches System. Solche Systeme bestehen aus Menschen,
Maschinen, Institutionen, Normen, Regelwerken und den Beziehungen
zwischen ihnen. Energietechnologie existiert in einem solchen System
nicht abgekoppelt von der Politik und der Gesellschaft: sie wird nicht
nur von Maschinenbauern produziert und von
Energieversorgungs-Unternehmen betrieben, sondern sie wird auch im
politischen Prozess, in der gesellschaftlichen Kommunikation
hergestellt.
In diesem Prozess ist Diskursmacht auch politische Macht. Wer sie
besitzt, bestimmt, was in einer Gesellschaft sagbar ist, und was nicht
sagbar ist. Und so ist die deutsche Kernenergiewirtschaft im Jahr 2011
auch nicht an konkreten
technischen Mängeln ihrer Anlagen zugrunde gegangen, sondern an
Diskursen:
die kerntechnischen Spezialisten und Unternehmen konnten zu einem
bestimmten historischen Zeitpunkt, vor dem Hintergrund der
Tsunami-induzierten Reaktorunfälle von Fukushima, die Diskurshoheit über
die Sicherheit und Zukunftsfähigkeit ihrer Anlagen nicht mehr
behaupten.
Die deutschen Anlagen in ihrer konkreten Materialität spielten gar
keine Rolle in dem Diskurs, der über ihr Schicksal entschied. In den
deutschen Kernkraftwerken hätte aufgrund der sicherheitstechnischen
Auslegung ihrer Notstrom- und Notspeisesysteme, dank ihrer Ausrüstung
mit Wasserstoff-Rekombinatoren und gefilterter Druckentlastung der
Fukushima-Unfallpfad auch im Falle einer Jahrtausend-Flutkatastrophe,
auch im Falle einer Kernschmelze infolge Totalversagens der
Notstromversorgung nicht stattfinden können.
Trotzdem hat Fukushima etliche technische Ertüchtigungsmaßnahmen zur
Folge gehabt. Doch über die Reaktorsicherheits-Problematik, deren
Bewertung erhebliches Vorwissen voraussetzt, wurde eigentlich gar nicht
diskutiert. Die beherrschende Rolle spielte allein der politische Wille
einer Bundesregierung, die ein kontroverses Thema mit dem Ziel der
Gesellschaftsbefriedung ein für alle Mal abzuräumen gedachte. Dieser
Wille bildete sich wiederum in Unterwerfung unter den seit langem
kernenergiekritischen Diskurs in Deutschland.
Der in Birmingham lehrende Umwelthistoriker
Frank Uekötter sagte
jüngst auf einer Tagung, diese Schilderung sei die „Dolchstoßlegende
der deutschen Atomwirtschaft“; in Wirklichkeit habe der
Ausstiegsbeschluss eine Branche betroffen, die ökonomisch und
technologisch längst vorher abgewirtschaftet hätte.
Ich habe ihm mit drei Argumenten widersprochen: erstens hätte auch
eine glänzend aufgestellte Atomwirtschaft gegen den politischen Willen
einer schwarzgelben Parlamentsmehrheit, die sich gemeinsam mit der
Opposition in einer hoch emotionalisierten tagespolitischen Lage ohne
lange juristisch-technische Folgenkalkulation auf die Seite der
Anti-Atom-Bewegung schlägt, wenig ausrichten können.
Zweitens hatten die Energieversorger nach der Zusage der
Laufzeitverlängerung im Jahr 2010 noch einmal massiv in die
Modernisierung ihrer KKW investiert; Fukushima traf sie so gesehen nicht
in einer Periode der Selbstauflösung, sondern in einer geplanten und
geordneten Entwicklung.
Drittens zeigt das Beispiel anderer Länder, vor allem jenes der
osteuropäischen Kernenergiewirtschaften nach Tschernobyl, dass eine
Kernenergiewirtschaft offensichtlich auch schwerste Krisen überwinden
kann, sofern der Staat als maßgeblicher Akteur in der Geschichte dieser
Polit-Technologie seine Rolle nicht aufgibt, sondern sie behauptet.
Diese Rolle hat hierzulande der deutsche Staat jüngst lediglich in der
Endlagerfrage wieder übernommen, nicht aber in der Frage einer
Kerntechnik der Zukunft, und auch nicht in der Frage der internationalen
Reaktorsicherheit. Im Gegenteil: Deutschland hat sich willentlich aus
diesen Gestaltungsfeldern verabschiedet.
Doch einen Dolchstoßlegenden-Vorwurf zurückzuweisen heißt noch nicht
zu behaupten, die deutschen Kernkraftwerksbetreiber hätten alles richtig
gemacht und seien von Merkel hinterrücks gemeuchelt worden. Fest steht,
dass unsere Atomwirtschaft kaum etwas dafür getan hat, um ihre
Diskursmacht zu behaupten. Sie blieb stets defensiv und hat es nicht
vermocht, die Kernenergie als Antwort auf die Erfordernisse einer
modernen Energiewirtschaft zwischen Umweltschutzbelangen,
Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit plausibel zu machen.
Die Atomwirtschaft hatte das Kommunizieren eingestellt
Sie hat das Kommunizieren in den 1990er Jahren bis auf einige
ungelenke Werbeaktionen („ungeliebte Klimaschützer“) de facto
eingestellt, ihren Mitarbeitern Maulkörbe umgehängt, und sich darauf
verlassen, dass die Politik es schon richten werde. Und was womöglich
ihr gravierendster Fehler war: sie hat sich früh auf einen einzigen
technologischen Pfad, das ausschließlich Strom produzierende nukleare
Großkraftwerk, festgelegt. All dies schwächte ihre Position in der
Krisensituation nach Fukushima erheblich.
Unsere Atomwirtschaft verfügte mit den KWU-Konvoi-Anlagen über
technisch hoch ausgereifte und sicherheitstechnisch weltstandardbildende
Kernkraftwerke – innerhalb der führenden
(Druckwasser-)Reaktorgeneration der 1980er, der sogenannten Generation
III. Doch sie hat nicht in Reaktorkonzepte für die Nachfolge dieser
Anlagen investiert, wie es beispielsweise in Russland oder China
geschieht. Das ehemals deutsch-französische EPR-Reaktorprojekt, das
einmal der nukleare Airbus werden sollte, droht heute an
Überdimensionierung, Kostenexplosionen und Fertigungsmängeln zu
scheitern – womöglich auch, weil die Deutschen sich schon vor langer
Zeit aus dem Projekt verabschiedet haben.
Weiterentwicklung passiver Sicherheitssysteme, transparente
Diskussion des Entsorgungs- und Proliferationsproblems, stadtnahe
Kernreaktoren, die inhärent sicher sind, neben Strom auch Prozess- und
Fernwärme bereitstellen und Radionuklide für Medizin und Industrie
herstellen können? Diese Themen waren allenfalls das Betätigungsgebiet
genialer Köpfe an der Peripherie, wie dem Erfinder des
Thorium-Hochtemperaturreaktors und energiepolitischen Visionärs Rudolf
Schulten, dessen Idee in Hamm-Uentrop nur teilverwirklicht wurde und nun
in China eine Renaissance erlebt.
Heute forscht eine kleine Berliner Physikertruppe im Institut für Festkörper-Kernphysik am
Dual Fluid Reactor und wäre 2013 als Favorit des Publikums beinahe in die Endrunde des
GreenTec Award gelangt
– wenn die Organisatoren dies nicht durch Ändern der Spielregeln
während des Wettbewerbs verhindert hätten. Merke: „grün“ und
„Kerntechnik“ zusammenzudenken, ist hierzulande verboten.
Ein solches Zusammendenken hätte die Atomindustrie womöglich
weiterbringen können, doch angesichts der enormen Herausforderung durch
die Anti-Atom-Bewegung hatte man letztlich kein Konzept – weder ein
technisches, noch ein kommunikatives. Man wurschtelte sich, durchaus
nicht ingenieursmäßig, durch. Man igelte sich hinter Zäunen,
Wassergräben und Polizeikordons ein, um sich die – wenn auch häufig bis
zur Lächerlichkeit unsachliche – Kritik vom Leibe zu halten. Man
verdiente gut in den fetten Jahren, doch man verwendete wenig Gedanken
an die Entsorgung, welche sich, allen an sich beherrschbaren
Lagertechnologien zum Trotz, als diskursive Zeitbombe herausstellte.
Man investierte jenseits der Infozentren an den Standorten nie in
eine lebendige nukleare Wissenswelt, nie in einen über die eigene
technische Disziplin hinausgreifenden sachlich-kritischen Dialog mit
Journalisten, Schulen, Universitäten. Man investierte auch nie in
Diskussionen über die kulturelle Bedeutung der Kerntechnik, etwa durch
Einbindung von Künstlern oder Kulturwissenschaftlern. Es gab solche
Überlegungen durchaus und es gibt eine Reihe von Publikationen, welche
dies belegen. Doch diese einzelnen Funken, die man aus internen
Diskussionen schlug, haben nie ein Feuer entfacht.
Denn Selbstkritik im öffentlichen Raum oder kritisches Hinausdenken
über die existierenden Anlagen hinaus war unter den Bedingungen einer
Angst-Mobilisierung gegen
jedwede Kerntechnik praktisch
Selbstmord. Das haben mir Insider der Industrie und Gutachter im
persönlichen Gespräch immer wieder bestätigt. Der vierzigjährige
deutsche Atom-Krieg hat Fronten gebildet, zwischen denen man nur
umkommen konnte. Grenzgänger, intellektuelle Ingenieursköpfe, Kritiker
von Missständen wie der politisch links stehende
Schnellreaktor-Projektmanager Klaus Traube, der fälschlich unter
RAF-Sympathie-Verdacht geriet und abgehört wurde, mussten daher im
Grunde scheitern: als Verräter ausgestoßen von der eigenen Gemeinschaft;
missverstanden, zwangseingemeindet, zum Kronzeugen gemacht von der
Gegenseite.
Ethische Fragen im energetischen Strukturwandel
Die Stromwende
made in Germany hat eine historische
Erfahrung der Elektrifizierungsgeschichte nicht beherzigt. Diese besagt:
nicht jede technisch bestechende oder politisch wünschenswerte Idee hat
sich am Ende auch durchgesetzt. Denn sie muss sich auch als Baustein
eines (groß-)technischen Systems bewähren, Abnehmer zufriedenstellen,
Investoren anlocken, Standards bilden und Kosten senken. Gelingt es
nicht, privates Kapital für den Umbau eines großtechnischen Systems zu
mobilisieren, dann muss, wie geschehen, der Staat einspringen, genauer
gesagt: wir alle.
Lässt sich die Kostenfrage nicht mehr mit „
Kugeln Eis“
verniedlichen, verlagern die Entscheider ihre Argumentation gerne auf
fachfremde Gebiete. Zum Beispiel auf das Gebiet der Ethik. Daher hören
wir, kommt es doch mal zu Zweifeln, sehr viel von der globalen
„Verantwortung“ Deutschlands, für die uns nichts zu teuer sein dürfe.
Wie konnte es dazu kommen? Für politische, soziale und technische
Systeme gilt im Prinzip das Gleiche: Soll angesichts neuer
Herausforderungen ein strategischer Strukturwandel gelingen, müssen die
Ziele klar definiert sein. Wege zur Erreichung dieser Ziele gibt es
meistens mehrere, und in offenen Gesellschaften und Denkkollektiven ist
Kontroverse über die Mittel und Wege nicht nur Normalität, sondern auch
Notwendigkeit, um sowohl machbare als auch gesellschaftlich akzeptierte
Lösungen zu erreichen. Soll ein solcher Prozess von Erfolg gekrönt sein,
brauchen die Entscheider keine Ja-Sager, sondern sachlich-kritische
Expertise, welche Risiken und Schwachstellen erkennt und Lösungswege
aufzeigt. Gute Entscheider kaufen sich daher Gegenexpertise ein, um vor
versteckten Fallen in einem Planungsprozess gewarnt zu sein.
Diese institutionellen Nein-Sager hat es zu den entscheidenden
Zeitpunkten im deutschen Energiewende-Prozess nie gegeben: weder wurden
Kosten, technischer Aufwand und Versorgungsrisiken konsequent,
transparent und unter Beteiligung der Öffentlichkeit durchgerechnet,
noch hat man unterschiedliche technologische Pfade zum Erreichen von
Klimazielen sorgfältig und technologieneutral evaluiert, etwa in einer
Enquete-Kommission. Der Grund für diese Entwicklung liegt in der
spezifisch deutschen Einbettung einer Technologie-Diskussion in die oben
skizzierte gesellschaftliche Kontroverse: die jahrzehntelange
Atomkontroverse, welche viele der heute aktiven Politikerinnen und
Politiker lebensgeschichtlich prägte.
Im Zuge dieser Kontroverse hat die anti-nukleare Position keineswegs nur als gesinnungsethische, sondern auch als
verantwortungsethische Position
seit dem Unfall von Tschernobyl 1986 die Diskurshoheit in Medien und
Politik erobert. Die ursprünglich marginalisierte Programmatik der
außerparlamentarischen Bewegungen und ihr – aus technischer Sicht
unsinniges – Verlangen nach „100 Prozent Sicherheit“ – wurde zum breiten
gesellschaftlichen und politischen Konsens.
Dieser Konsens sorgte dafür, Energiepolitik auf Kernenergieausstieg
und Umbau der Stromversorgung zu verengen. Als Beschleuniger dieser
bereits seit Mitte der 1980er Jahre angelegten Entwicklung wirkte 2011
die spontane, ebenfalls spezifisch deutsche Endzeit-Stimmung nach
Fukushima.
Ganz folgerichtig wurde nun über die Kernenergienutzung
ausschließlich als ethische Frage entschieden, nicht als
energiepolitische oder gar elektro- oder verfahrenstechnische: nicht
eine Enquete-Kommission wurde einberufen, in die
auch
Ethik-Experten hätten eingebunden werden können, sondern eine
Ethikkommission, aus der die technische, ganz besonders aber die
kerntechnische Expertise weitgehend ausgeschlossen wurde. Interessant
ist daran, dass die Frage nach der ethischen Verantwortbarkeit
eines Ausstiegs aus der Kernenergienutzung in dieser Ethikkommission erst gar nicht gestellt werden durfte.
Aus genau diesem Grunde wurden unterschiedliche
Stromerzeugungssysteme im Vergleich gar nicht auf ihre Verantwortbarkeit
hin befragt. Denn die Kernenergie-Gegnerschaft ist in Deutschland zu
einem öffentlichen Bekenntnis geworden, das Züge einer Zivilreligion
trägt und zumindest in unseren Medien überhaupt nicht mehr hinterfragt
wird. Wer dieses Tabu antastet, bekommt sehr schnell ein Problem: er
wird mindestens des Rechtspopulismus bezichtigt, häufig auch der
Menschenverachtung – und zwar für Positionen, die außerhalb
Deutschlands, z.B. in Großbritannien oder den USA, ganz
selbstverständlich von Linken und grünen Ökomodernisten vertreten
werden.
Zehn Thesen für eine energetische Reformation
So ist die Lage. Muss sie so bleiben? Meine Behauptung ist: Nein.
Menschen lernen aus Erfahrung – doch würde ich mir wünschen, dass die
Deutschen aus ihren energiepolitischen Fehlern lernen könnten,
bevor sie der Zivilisationszerfall infolge eines mehrtägigen Großraum-Blackouts Mores lehrt.
Wenn wir davon ausgehen, dass Diskurse und die ihnen unterliegenden
Wissensbestände zu politischen Entscheidungen maßgeblich beitragen, dann
kann man auch falsche Entscheidungen revidieren, indem man die Ordnung
des Sagbaren herausfordert. Diskurse unterliegen, wie die gesamte Welt
des Sozialen, historischem Wandel. Sie sind weder gottgegeben noch
alternativlos, und sie sind prinzipiell diskutierbar und revidierbar –
und gegebene Zustände sind reformierbar.
Um eine energetische Reformation ins Werk zu setzen, müsste man sich
über einige Sachverhalte verständigen. Ich habe sie in zehn Thesen
formuliert:
1. Wenn wir ein Industrieland heutigen Zuschnitts
bleiben möchten, das heißt nicht auf eine konsequente Verzichtsökonomie
und auf eine drastische Relokalisierung unserer Verbrauchs- und
Mobilitätsgewohnheiten hinauswollen, ist dieses Land
nicht, wie politisch gewollt, zu 80-100 Prozent mit regenerativem Strom zu versorgen.
2. Wollten wir dieses Ziel erreichen, aber auf eine
Umerziehung und Enteignung unserer Bevölkerung von sowjetischen Ausmaßen
verzichten, dann müssten wir für unsere Stromerzeugung eine doppelte,
nämlich erneuerbar-konventionelle, Infrastruktur vorhalten, um die
Mängel der Erneuerbaren im Bereich der Gesicherten Leistung
auszugleichen.
3. Lösungsvorschläge wie Speichertechnologien und
smart grids
stellen uns vor ein doppeltes Problem: beide sind heute nicht vorhanden
und werden auch zu den anvisierten Kohleausstiegsdaten nicht in
ausreichendem Maße vorhanden sein. Beide einzuführen, bedeutet einen
immensen Finanzierungsbedarf, gegen den die gegenwärtig rund 30
Milliarden Euro jährlicher Energiewende-Aufwendungen zwergenhaft anmuten
werden. Darüber hinaus haben wir heute noch gar nicht voll erfasste
Probleme der Cybersecurity zu gewärtigen, die uns mindestens genauso
beschäftigen werden wie heute die IT-Sicherheit in der Kerntechnik und
anderen verwundbaren Infrastrukturen.
4. In der jetzigen Energie-Zielarchitektur werden
Mittel mit Zielen vertauscht: Kernenergieausstieg und
Erneuerbaren-Etablierung wurden zum Selbstzweck erklärt, während
eigentlich Kernenergie und regenerative Quellen komplementäre
Technologien in einer umweltverträglichen Stromwirtschaft, später in
einer erweiterten Energiewirtschaft mit geschlossenen nuklearen und
kohlenwasserstoffbasierten Stoffkreisläufen sein könnten.
5. Die energiepolitische Zielarchitektur sollte
daher technologieneutral umgebaut werden: Der Staat sollte lediglich
Etappenziele, aber nicht die Mittel zu deren Erreichung vorgeben.
6. Technologieneutralität bedeutet: Umfängliche,
deliberative, inklusive Diskussion aller denkbaren Pfade zur
Zielerreichung. Ein mögliches Instrument wäre die Einrichtung einer
Enquete-Kommission durch das Parlament.
7. Deliberative, inklusive Pfaddiskussion bedeutet:
das Sprechverbot über Kernenergie und Kernforschung muss unterlaufen und
aufgehoben werden.
8. Sprechverbot über Kerntechnik aufheben bedeutet:
Die Evaluierung von Möglichkeiten einer akzeptanzfähigen Kernenergie der
Zukunft muss wieder erlaubt sein und darf vom Staat nicht behindert
werden.
9. Voraussetzung für eine deliberative, inklusive
Pfaddiskussion unter Einschluss der Kerntechnik ist eine Erneuerung
unserer Wissensbestände. Das in der Gesellschaft derzeit vorhandene
Energiewissen ist mit dem Stand des religiösen Basiswissens vor der
Reformation vergleichbar: Die meisten Deutschen glauben, trotz
aufkommender Zweifel,an die Unfehlbarkeit ihrer Energie-Päpste. Sie
zahlen den Sündenablass mit der Stromrechnung, und sie können die
Messliturgie der Energiewende mitbeten. Aber sie können die Bibel nicht
lesen.
10. Folglich brauchen wir eine energetische
Alphabetisierung – und eine energetische Bibelübersetzung. Beides
verlangt nach Wissensträgern aus den Natur- und Technik-, aber auch den
Geisteswissenschaften, die sich mit vernehmbarer und verständlicher
Stimme in die Diskussion einschalten, als Grenzüberschreiter und
Vermittler arbeiten.
Energy literacy und
nuclear literacy
müssen in unseren Schulen, Universitäten, Medien und der
Zivilgesellschaft mit Denkkartellen, Halbbildung und Pseudowissen über
radioaktive Strahlung und Kerntechnik aufräumen – aber auch das nur
lückenhafte Wissen über die tatsächlichen Potenziale der Erneuerbaren
aufstocken.
Erst dann wäre jener soziale und kommunikative Kontext gegeben, in
dem auch die Kernenergie in unserem Land wieder „sagbar“ wäre. Erst dann
könnte man auch wieder über eine Änderung geltender Gesetzgebung und
eine zielgerichtete Förderung der Kernforschung nachdenken. Erst dann
könnte man ein komplementäres Energiesystem aufbauen, das den
Anforderungen des Umweltschutzes genauso genügt wie jenen der
Bezahlbarkeit und der Versorgungssicherheit.
Das Geschäft der Historiker ist die Vergangenheit, nicht die Zukunft.
Ich habe versucht, den deutschen – und meiner Meinung nach zum
Scheitern verurteilten – deutschen Energiewende-Sonderweg
(technik-)historisch zu erklären. Ich möchte aber auf Grundlage
historischer Erfahrung auch eine Prognose wagen: Wagen wir keine
Reformation unserer Energiepolitik, dann wird die kommende Generation
mit dem Scheitern einer in ihrer jetzigen Form technisch defizitären und
sozial, ökologisch wie ökonomisch unverantwortlichen Energiewende
konfrontiert sein. Dann wird, mit großer Verspätung und nach Vergeudung
ungeheurer finanzieller, aber auch naturräumlicher, emotionaler und
sozialer Ressourcen, der gesamte Komplex ohnehin wieder auf den
Verhandlungstisch kommen. Wir könnten diesen Weg abkürzen.
Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa-Historikerin am
Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Ihr
Habilitationsprojekt „Atomgrad. Kerntechnische Moderne im östlichen
Europa“ ist dem Sonderforschungsbereich SFB/TR 138 „Dynamiken der
Sicherheit“ assoziiert. Sie lebt mit Mann und drei Söhnen in Leipzig.