Stationen

Dienstag, 31. Oktober 2017

Die Seife gehört zu Deutschland

„Der Atheismus gehört auch zu Deutschland“. Wie kommt man auf die Idee, einen derartigen Satz in die Welt zu setzen?  Zwar weiß niemand genau, wie viele Menschen in Deutschland leben, die nicht an Gott glauben (Atheisten und Agnostiker). Aber mehr als Muslime sind es auf jeden Fall. Und der Islam gehört doch – jedenfalls laut Wolfgang Schäuble, Christian Wulff und Angela Merkel (und deren Trabanten) – auch zu Deutschland. Trotzdem habe ich den Satz bezüglich des Atheismus noch nie gehört oder gelesen. Das veranlasst mich zu der Frage, was es eigentlich bedeutet, dass dieses oder jenes „zu Deutschland gehört“?
Sir Christopher Clark, der sympathische australische Professor, der perfekt Deutsch spricht und in Cambridge (UK) neuere europäische Geschichte lehrt, hat kürzlich in einem „Welt“- Interview gesagt: „Selbstverständlich gehört der Islam zu Europa! ... Es ist eine unwiderlegbare historische Tatsache, dass der Islam Teil der europäischen Geschichte ist. ... Man sieht es in der wunderschönen Hauptstadt Sarajewo mit ihren Hunderten Moscheen und Minaretten, dass der Islam bis heute zu Europa gehört.“
Ja, klar. In diesem Sinne gehören Hitler, Himmler, Goebbels und all die anderen Naziverbrecher auch zu Deutschland, denn sie haben die deutsche und europäische Geschichte bis heute geprägt, wie ein Blick auf die politische Landkarte zeigt. Ich zum Beispiel bin in Rummelsburg, einer Kreisstadt in Pommern geboren, die heute Miastko heißt und Sitz einer gleichnamigen Stadt- und Landgemeinde im Powiat (Landkreis) Bytowski in der polnischen Woiwodschaft Pomorskie (einer der 16 obersten Verwaltungsbezirke) ist. Aufgewachsen bin ich im Dorf Treblin, der heutigen Landgemeinde Trzebielino.
In diesem Sinne gehört vieles zu Deutschland und Europa, ganz so wie Shakespeare es Hamlet formulieren lässt: “There are more things in heaven and earth, Horatio, than are dreamt of in your philosophy.“ (In der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel: „Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“) Die Frage ist nur, was damit ausgesagt werden soll.

Auch Mord und Totschlag gehören zu Deutschland

Schauen wir uns deshalb mal den Kontext in der Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 an. Dort heißt es: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Vor fast 200 Jahren hat es Johann Wolfgang von Goethe in seinem West-östlichen Divan zum Ausdruck gebracht: ‚Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.'" Für Wulff ist der besagte Satz also offensichtlich positiv konnotiert, das heißt, er will damit einen positiven Inhalt zum Ausdruck bringen.
Diese Intension ist jedoch keineswegs zwingend mit dem Begriff „zu etwas gehören“ verbunden. Er beschreibt lediglich „eine unwiderlegbare historische Tatsache“, wie Clark das ausgedrückt hat. In diesem Sinne gehören Nationalsozialismus, Atheismus, Kommunismus ebenso zu Deutschland wie Mord und Totschlag, der marode Zustand zahlreicher Straßen und Brücken, die Staus auf den Autobahnen sowie Flüchtlingskrise und Parteiengezänk und ja, auch das oft inhaltslose Geschwätz unserer Politiker, insbesondere bei Gedenkfeiern und im Wahlkampf. Kurzum, alles was unser Leben irgendwie prägt oder geprägt hat – sei es positiv oder negativ.
Das „Woxikon“ bezeichnet übrigens 128 Synonyme (in 6 Gruppen) für „gehören“, weshalb es sich an sich nicht gehören sollte, diesen Begriff zu verwenden, ohne gleichzeitig zu sagen, was genau man damit meint. Aber eben dies, so habe ich manchmal den Eindruck, will man im „Politsprech“ gerade vermeiden. Nur wenn es um die Ablehnung all dessen geht, was „rechts“ ist oder dafür angesehen wird, lässt man es nie an der erforderlichen Klarheit (um nicht zu sagen Radikalität) fehlen.
„Der Atheismus gehört auch zu Deutschland“ – ich meine ganz einfach: Es gibt in Deutschland viele, sogar sehr viele Atheisten, darunter solche, die wir als Bereicherung empfinden, und solche, die wir zum Teufel wünschen. Und nicht anders ist es bei Muslimen.
Kommt Ihnen bekannt vor? Zu Recht. Der Nachfolger Wulffs im Amt des Bundespräsidenten, Joachim Gauck, hat kurz nach seinem Amtsantritt erklärt: „Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland“. Den Satz von Wulff könne er so nicht übernehmen, „aber seine Intention nehme ich an“. Wulff habe die Bürger auffordern wollen, sich der Wirklichkeit zu öffnen. „Und die Wirklichkeit ist, dass in diesem Lande viele Muslime leben.“
Das Beispiel zeigt übrigens: Es kann auch mal nützlich sein, dass ein Theologe einen Juristen interpretiert.  Rainer Grell

Seife wurde nach heutigem Wissensstand in Mesopotamien erfunden. Es handelt sich um Natrium- und Kaliumsalze von Fettsäuren. Damals in Mesopotamien waren das noch Säuren von Tierfetten und die Seifen rochen nicht gerade angenehm, nimmt man heute an. Angeblich haben wir es den Arabern zu verdanken, dass Seifen heute duften, weil sie als erste sich für Olivenöl als Ausgangsstoff entschieden und Blumenblüten mitverarbeiteten. Aber so genau weiß das niemand, vielleicht haben wir nur vergessen, wie Tierfettseife einst aromatisiert wurde, um genauso gerne wie heutige Seife oder teures Murmeltierfett verwendet zu werden.

Was man jedoch weiß, ist, dass nicht die Germanen, sondern die Sumerer als erste Tierfettseifen herstellten. Es ist daher sehr merkwürdig, dass sapo, saponis m (das lateinische Wort für Seife) ein germanisches Lehnwort ist.

100 Jahre Bobrowski

"Im Sommer, abends, fliegt das Käuzchen die Straße entlang. Dann stehn wir auf und gehn ans Fenster. [...] Über der Laterne, in dem Ahornbaum vor dem Haus bleibt es eine Weile sitzen, und ruft nicht mehr, aber wir können es sehn. [...] Dann fliegt das Käuzchen weiter und schreit auch wieder im Flug. Und wir kommen uns vor, als seien wir jetzt aufgewacht. [...] Wir sind aufgewacht, im Dunkeln."
Johannes Bobrowskis Kurzgeschichte "Das Käuzchen" entstand im Spätsommer 1963. Die Tinte war noch nicht getrocknet, da las er den Text bereits auf der Jahrestagung der Gruppe 47 in Saulgau – und wurde gefeiert, wie bereits ein Jahr zuvor, wo er den Preis der Gruppe erhielt.
Der 46-Jährige durchlebt gerade seine produktivsten Jahre. 1961 debütiert er mit dem Gedichtband "Sarmatische Zeit", bereits 1962 erscheint ein zweiter Band mit Gedichten: "Schattenland Ströme" - und im Juli 1963 beendet er den Roman "Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater".
An Felix Berner von der Deutschen Verlags-Anstalt schreibt Bobrowski am 6. August 1963:
"Ich hab also in drei Wochen diesen elenden Roman fertiggeschrieben, als ein Notdach über dem Kopf, und ihn dem Union Verlag mit allen Rechten aufs Haupt geschlagen. [...] Ich bin müde. Stoff, Schreibweise, alles liegt hinter mir, ich will auch den letzten Rest davon vergessen. Sonst krieg ich den Kopf nicht frei: Für die Erzählungen, die gut werden sollen."

Verlage aus der ganzen Welt verlangen nach dem begabten Lyriker 

Mit dem Roman begibt sich der bislang als Lyriker geschätzte Bobrowski einen Schritt weiter in eine literarische Öffentlichkeit, der er sich eigentlich "nicht gewachsen" und in der er sich deplatziert fühlt.
"Levins Mühle" ist noch nicht erschienen, da kämpfen bereits mehrere westdeutsche Verlage um die Rechte – die Deutsche Verlags-Anstalt, der Rowohlt Verlag, S. Fischer, Wagenbach. Auch aus dem Ausland kommen zahlreiche Anfragen.
Der Autor gerät in einen Sog von Begehrlichkeiten und Verpflichtungen – das erhoffte "Notdach über dem Kopf" droht einzustürzen. Sein stets offenes Haus am Berliner Stadtrand gleicht einem Taubenschlag.

Michael Hamburger, dem befreundeten Lyriker und Übersetzer, gesteht er, dass ihm der "Beruf eine kaum mehr erträgliche Last" sei und Elisabeth Borchers im Luchterhand Verlag teilt er am 9. Januar 1964 mit:
"Wir haben die letzte Zeit in lauter Angst vor Besuchern verbracht, es kamen plötzlich so viele, und ich hab schon panische Furcht vor neuen Gesichtern. An die vierhundert Briefe liegen unbeantwortet, unbedankt. Bücherberge ungelesen."
Bobrowskis "Käuzchen"-Geschichte wird in diesem Kontext zur Allegorie. Aus einer verschleierten Bildlichkeit heraus - zwischen Vogelschrei, Ermüdung und Erwachen -, wird flüsternd gefragt: "Sag doch, wie leben wir hier? Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?"

Es gilt, sich zu verorten

Wieder einmal gilt es, sich zu verorten – in der Sprache, die "abgehetzt / mit dem müden Mund / auf dem endlosen Weg / zum Hause des Nachbarn" ist - wie es im Gedicht "Sprache" aus dem Band "Wetterzeichen" heißt.
Zwischen den Zeilen des "Käuzchen"-Textes lässt sich eine literarische Topografie entdecken, die der Autor-Erzähler in einem geschickten pars pro toto-Verfahren anhand vertrauter Naturmotive entwickelt: dem "Ahornbaum vor dem Haus", den Grillen "vor den Fenstern", den Traumhäusern und dem "eingefahrenen Sandweg" - "ohne Gräben".
Es ist eine Landkarte, auf der sich die Kindheits- und Kriegserinnerungen des Autors durchkreuzen, und die sich vom Memelgebiet, über Polen, Frankreich und Russland bis in den südöstlich von Berlin gelegenen Stadtteil Friedrichshagen erstreckt, wo Bobrowski seit 1949 wohnt. Der Käuzchenschrei ruft diese Topografie als eine "Lebenswunde" erneut ins Gedächtnis – und kann als ein ins poetische Bild gesetzter Hilferuf des Dichters verstanden werden.
Denn durch Bobrowskis Biografie, die mit 48 Jahren knapp bemessen ist, geht der historische Riss. Zwölf Jahre vergingen davon als deutscher Wehrmachtssoldat im Krieg und in sowjetischer Gefangenschaft - aber er hatte überlebt. Um sich als Schriftsteller in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu behaupten, bleibt ihm nur wenig Zeit.

Natürlich sollte man Johannes Bobrowski lesen, um in seiner Lyrik und der Prosa die existenziellen Beschwörungsformeln in ihrer zeitgeschichtlichen Dimension zu verstehen: Das lyrische Hauptwerk "Sarmatische Zeit", "Schattenland Ströme" und "Wetterzeichen"; die Romane "Levins Mühle" und "Litauische Claviere", und vor allem die Erzählungen: In diesen kostbaren Miniaturen artikuliert der Autor sein Weltverhältnis, pendelnd zwischen Erfahrung und Hoffnung, in einer an der mündlichen Rede geschulten Sprache.
In nur einem Jahrzehnt - zwischen 1955 und 1965 – entstanden, durchzieht dieses Werk die Sehnsucht nach einem Gespräch, in dem sich "Zeugenschaft" und Historie in ihrer Verkettung durchdringen. Immer wieder wird beschworen, was letztlich "nicht ausdrückbar" ist, und doch "der Ort", "wo wir leben", wie es in der "Käuzchen"-Geschichte heißt.

"Es muss getan werden, nur auf Hoffnung"

Ich bin "gegen die großen Worte gegen die überdimensionierten Ansprüche", so Bobrowski 1962 in seiner Rede vor der "Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg", ich bin "dafür, dass alles immer neu genannt wird, was man so ganz üblich als «unbewältigt» bezeichnet, aber ich denke nicht, dass es damit «bewältigt» ist. Es muss getan werden, nur auf Hoffnung". Die Rede gehört zu den wenigen Texten, in denen er sein dichterisches Selbstverständnis explizit benennt.
Wie wichtig es ihm war, verstanden zu werden, wurde bereits anhand der in Einzelausgaben erschienenen Briefwechsel mit dem Dichter und "Sinn und Form"-Redakteur Peter Huchel, dem Malerfreund Albert Ebert sowie dem Lyriker Michael Hamburger deutlich.

Zwei lesenswerte Neuausgaben zum 100. Geburtstag

Nun ist im Göttinger Wallstein-Verlag eine vierbändige Brief-Ausgabe erschienen, die eine wahre Fundgrube darstellt, was biografische Fakten und Verläufe, Gespräche mit Freunden und Schriftstellern sowie Erläuterungen zur Entstehung und Deutung der Texte betrifft. Mit mehr als 1200 Briefen aus drei Jahrzehnten ist damit Bobrowskis Briefbestand vollständig erfasst und mit dem jeweiligen Standort verzeichnet.
Diese prächtige Publikation der Briefe korrespondiert mit einer Neuausgabe der "Gesammelten Gedichte" in einem Band aus der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart, mit der in das poetische Werk des geschichtsbewussten wie sprachsensiblen Lyrikers eingeführt wird. Sämtliche von Bobrowski selbst veröffentlichte und von ihm für den Druck vorgesehene Gedichte sowie der lyrische Nachlass aus den Jahren 1935 bis 1965 ist damit "in chronologischer Abfolge" erfasst. Beim Durchblättern überrascht die Vielfalt der poetischen Varianten, zeichnen sich Veränderungen innerhalb der Dichtung ab.
So klingen im Gedicht "Kindheit" von 1954, das an zweiter Stelle den Band "Sarmatische Zeit" eröffnet, zentrale Motive seiner Lyrik an: Retrospektiv wird ein Bild jener Welt heraufbeschworen, in der es einst möglich war, friedlich aufzuwachsen: "Da hab ich / den Pirol geliebt - / das Glockenklingen, droben / aufscholls, niedersanks / durch das Laubgehäus, / wenn wir hockten am Waldrand, / auf einen Grashalm reihten / rote Beeren". Doch Bobrowski zeichnet keine Idylle, untrügliche Zeichen einer heraufziehenden Gefahr sind bereits sichtbar: In ein Lachen hinein ertönt plötzlich die "Silberrassel / der Angst" und hinter dem Zaun "wölkt(e) Bienengetön".
Es lohnt sich, diese beiden Neuerscheinungen parallel zu lesen, da sie sich in erstaunlicher Vielfalt ergänzen.

Der "Sarmatische Divan" als lyrisches Lebensprojekt

So schreibt Bobrowski am 9. Oktober 1956, fünf Jahre, bevor er als Lyriker debütiert, an Hans Ricke, dem Freund aus der Kriegsgefangenschaft:
"Ich will meine Gedichte schreiben mit meinem ganzen verworrenen Leben, mit meinen Unzulänglichkeiten, meinem Versagen, geistig und körperlich, mit meiner Krankheit, die mich oft quält, - und mit all dem – vielleicht kleinen – Glück, das ich hatte. [...] So werde ich in den Gedichten stehen, uniformiert und durchaus kenntlich. Das will ich: eine große tragische Konstellation in der Geschichte auf meine Schultern nehmen."
Peter Huchel gegenüber bezeichnet er dieses lyrische Lebensprojekt als "Sarmatischen Divan". Denn "Sarmatien" - dem "Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee", zwischen "Weichsel und der Linie Don-Mittlere Wolga" – fühlt sich Bobrowski als einem kulturellen Raum verpflichtet.
Huchel, der lange zu den wenigen Befürwortern des Dichters zählte, hatte bereits 1955 Gedichte in der Zeitschrift "Sinn und Form" veröffentlicht und seine poetische Begabung betont.
Huchels Gedicht "Havelnacht" hatte Bobrowski in der Gefangenschaft die Augen geöffnet, das war 1947:
"Da habe ich es her, Menschen in der Landschaft zu sehen, so sehr, dass ich bis heute eine unbelebte Landschaft nicht mag. Dass mich also das Elementare der Landschaft gar nicht reizt, sondern die Landschaft erst im Zusammenhang und als Wirkungsfeld des Menschen."

Bobrowskis Briefe in einer prächtigen Ausgabe

In dem aufschlussreichen Nachwort zur Briefausgabe verweist der Herausgeber Jochen Meyer, der bis 2006 die Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach leitete und 1990 mit dem literarischen Nachlass Bobrowskis "die erste große Erwerbung aus der ehemaligen DDR" tätigte, auf eine lange Vorgeschichte, die auch für die Neuausgabe der "Gesammelten Gedichte" relevant scheint.
Denn beide Publikationen wären nicht denkbar ohne die jahrzehntelange Forschungs- und Herausgeberleistung von Eberhard Haufe (1931-2013). Der Philologe betreute nach dem Tod des Dichters den Nachlass und gab 1987 eine erste vierbändige Werkausausgabe im Union Verlag heraus, die zehn Jahre später von der Deutschen Verlags-Anstalt neu präsentiert und durch zwei Kommentarbände ergänzt wurde. Sie war wegweisend für alle folgenden Publikationen.
Bobrowskis singuläre Bedeutung innerhalb der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts wie auch seine Position eines literarischen Außenseiters wurde damit früh skizziert.

"Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?"

Am Beginn der Brief-Ausgabe steht eine Nachricht des Zwanzigjährigen an die Mutter. Geschrieben im Mai 1937 markiert sie eine Zäsur im Lebenslauf des 1917 im ostpreußischen Tilsit Geborenen: Der Sohn befindet sich im Reichsarbeitsdienst-Lager Bismarckhügel, nahe dem Kurischen Haff. Die Einberufung erreichte den Gymnasiasten noch bevor er das Königsberger Kant-Gymnasium mit dem Reifezeugnis beenden konnte.
"Du kannst Dir nicht vorstellen, was für ein Ton hier herrscht, wie viel Hinterhältigkeit, Egoismus, Gemeinheit man hier begegnet. Mit so wenig Menschen kann ich sprechen, so möchte ich, manchmal wenigstens, als Ersatz mit dem liebsten Menschen auf der Welt reden, wenigstens seine Worte lesen und durchdenken. Also schreib, liebe Mamma! Ich denke so oft an Dich."
Die wenigen frühen Briefe berühren. In ihnen kommt die Verbundenheit mit dem Elternhaus sowie mit der ostpreußischen Landschaft, aber auch den glücklichen Erinnerungen an die Jugendzeit in Königsberg zur Sprache, die später in seinem Werk zentrale Themen bilden. In dieser Region wurzelt Bobrowskis humanistische Bildung, seine Nähe zur Musik, aber auch zur Bekennenden Kirche sowie seine Verehrung für Klopstock, der ihm das "größte Ereignis in der deutschen Literatur" ist - und für den Philosophen Johann Georg Hamann, dem er ein Buch widmen wollte. Geblieben sind Bleistiftspuren, die er bei seiner Hamann-Lektüre hinterlassen hat.
Mit Bobrowskis Einberufung zum zweijährigen Militärpflichtdienst, der fast nahtlos in das Kriegsgeschehen übergeht, findet diese Epoche ein jähes Ende, aber der geistige Reichtum jener Jahre bleibt.

Der Grundkonflikt und seine Folgen

In der Gesamtheit des veröffentlichten Briefkonvoluts tritt nicht nur die Katastrophe des 20. Jahrhunderts deutlich hervor, sondern auch, so Jochen Meyer, der "Grundkonflikt, die Spaltung der Welt in feindliche Blöcke mit allen Begleiterscheinungen und Folgen". Bobrowski wollte auch zwischen den Fronten des Kalten Krieges ein "deutscher" Schriftsteller sein.
Dem Freund Peter Jokostra, der das Land längst verlassen hat, schreibt er im Oktober 1959:
"Hanser in München möchte eine ostdeutsche Lyrikanthologie machen, denk Dir bloß. Ich habe abgeraten. [...] ich selber werde mich nicht auf ostdeutsch firmieren lassen, sowenig wie auf »heimlich westdeutsch«. Entweder ich mach deutsche Gedichte oder ich lern Polnisch."


Viel ist in diesen Briefen über das Phänomen Bobrowski zu erfahren, der auch als Briefschreiber über ein erstaunliches stilistisches Repertoire verfügt, über Sprachwitz, schwarzen Humor, und schräge Perspektiven einnimmt, wenn es um sinnentleerte kulturpolitische Prozesse geht. Bei Verhandlungen in eigener Sache tritt er charmant, aber konsequent auf. Und dass er wirklich ein "Genie der Freundschaft" war, wie es Hans Werner Richter in seiner Grabrede formuliert, auch das wird deutlich. Denn Bobrowski verkehrte mit der literarischen Elite nicht nur schriftlich – u.a. mit Hans Werner Richter, Hans Magnus Enzensberger, Paul Celan, Günter Grass, Uwe Johnson, Nelly Sachs, Christa Reinig -, viele prominente Intellektuelle waren Gast in seinem Haus. Auch deshalb gehört er für Jochen Meyer – wie Grass, Johnson, Celan - zur "literarischen Epochenzäsur".
Anhand der akribisch erstellten Kommentarteile wird dies besonders deutlich, in denen auch die "Gegenbriefe aus dem Nachlass" ausführlich zitiert werden. Umfangreicher als die Briefe selbst stellen sie ein reiches Kompendium dar, bei dessen Lektüre neue Fragen entstehen. Die politischen Bewegungen zwischen 1937 und 1965 sind darin verzeichnet wie der komplizierte deutsch-deutsche Literaturtransfer und die kulturpolitischen Entwicklungen in der DDR der 1950er und 1960er Jahre. Da dies in den Briefen nicht immer klar zur Sprache kommt, mitunter verklausuliert werden muss, erfüllen diese Kommentare auch eine interpretatorische Aufgabe. Basierend auf Eberhard Haufes Arbeiten leistet Jochen Meyer damit einen profunden Beitrag zur Zeitgeschichte.
So hat der "Grundkonflikt" jener Jahre nicht nur räumliche Konsequenzen, da der Union Verlag, wo Bobrowski seit 1959 als Lektor arbeitet, nach dem 13. August 1961 in der Sperrzone liegt und nur noch mit Sondergenehmigung zu passieren ist.
"Die so heiklen wie differenzierten [...] Druckgenehmigungsverfahren, will sagen die Praktiken einer gesetzlich kodifizierten Zensur [...] – all das und vieles mehr gehört zum Hintergrund der hier vorgelegten Briefe aus den Jahren 1950-1965".

Der "elende Roman" und sein Erfolg

Ein anschauliches Beispiel liefern die im Umfeld der Entstehung des Romans "Levins Mühle" geschriebenen Briefe. Von den Qualen um diesen "elenden Roman" ist zu lesen, mit dem Bobrowski erstmals versucht, der "Geschichte aus Unglück und Verschuldung" in der Prosa gerecht zu werden. Aber auch von den "Hürden des Ministeriums", die genommen werden müssen. So bittet Bobrowski Gerhard Wolf, der seit 1957 freiberuflich als Herausgeber und Lektor arbeitet, um ein "Außengutachten".
In den Kommentaren dazu wird nicht nur das kulturpolitische Umfeld ostdeutscher Bürokratie skizziert, sondern auch der Wortlaut des offiziellen Gutachtens. Wolf bescheinigt dem Autor "ein ausgezeichneter Erzähler" zu sein, der "souverän, kräftig und mit Humor" schreibt. Zugleich bedient Wolf die ideologischen Vorgaben, wenn er urteilt, Bobrowski würde die "Deutschtumspolitik" ad absurdum führen und "vom standpunktlosen Modernismus der »Hundejahre« von Günter Grass" weit entfernt sein.

Eine niemals heilende Wunde

Indem Bobrowski das Schreiben in den Briefen zum Hauptthema macht, spricht er nicht nur über literarische Vorbilder: Hölderlin, Klopstock, Rilke, Barlach, Stifter, wobei er schwört, diese niemals "angezapft" zu haben. Ohne Chronist zu sein, verteidigt er darin auch sein Vertrauen in die Wirksamkeit des Verses, der mehr "Beschwörungsformel" sein sollte – und damit eine Autorenposition, die auf "Wirkung" zielt und nur durch "möglichste Authentizität" zu erreichen sei.
Wie kompliziert das Verhältnis von Authentizität und Fiktion ist, um das es Bobrowski geht, zeigt das Gedicht "Kaunas 1941".
Tatsache ist, das der 24jährige Wehrmachtssoldat Bobrowski am 28. Juni 1941 in der litauischen Stadt Kaunas einen Pogrom erlebt, bei dem 3800 Juden getötet werden. Erst 1957 wird aus dieser Erfahrung ein Gedicht, in dem das lyrische Ich fragt: "Wirst du über den Hügel / gehn? Die grauen Züge / - Greise und manchmal Knaben – / sterben dort. Sie gehn / über den Hang, vor den jachernden Wölfen her."
Nichts ist vergangen, das Sterben gegenwärtig, aber der Zeitzeuge hat eine Sprache für das Unsagbare gefunden, ohne es damit bewältigt zu haben: "Mein Dunkel ist schon gekommen" – lautet die letzte Zeile.
"Kaunas 1941" ist Teil der "Sarmatischen Zeit". Zur gleichen Zeit entsteht ein Gedicht über "Gertrud Kolmar", die 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Bobrowski weiß: Die Verbrechen vergehen niemals und ein Leben reicht nicht aus, darüber zu schreiben: "Ungestorben aber / die finstere Zeit, umher / geht meine Sprache und ist / rostig von Blut".
"Gertrud Kolmar" wie auch die Gedichte "Else Lasker-Schüler" von 1960, und "An Nelly Sachs" von 1961 – zwei Dichterinnen, die den Holocaust im Exil überlebten – gehen in den Band "Schattenland Ströme" ein.
Zeitgleich zum Pogrom von Kaunas, zu den Deportationen und Vernichtungen, hatte Bobrowski im Kriegsjahr 1941 in der russischen Landschaft am Ilmensee sein literarisches Thema gefunden, das eine klaffende Wunde bleibt. Denn der Körper hat ein Gedächtnis und ist an der Geschichte beteiligt, die "kein totes Material" ist. Hoffnung aber – davon war Bobrowski bis zu seinem Tod am 2. September 1965 überzeugt - gibt es nur in der Sprache, die im Gedicht "Immer zu benennen" fragt:
"Und wer lehrt mich, / was ich vergaß: der Steine / Schlaf, den Schlaf / der Vögel im Flug, der Bäume / Schlaf, im Dunkel / geht ihre Rede-?".

Deutschland kauft jetzt wieder Ablässe

Langsam dämmert auch der FDP, was die CSU längst begriffen hat: In einer Bundesregierung kann es eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Grünen nicht geben. Zu keinen Kompromissen bereit, rückt die Bevormundungs- und Verbotspartei nicht einen Millimeter von ihren Maximalpositionen ab. Sowohl in Energie- und Umweltfragen, als auch in der alles überlagernden Zuwanderungspolitik liegen Welten zwischen den Grünen und den übrigen Verhandlungspartnern.
Doch während sich Union und FDP den Kopf darüber zerbrechen, wie man auf einen gemeinsamen Nenner kommen könnte, beharrt die kleinste der drei Bundestagsfraktionen auf ihren surrealen Forderungen. 100 Prozent Ökostrom und das Ende des Verbrennungsmotors bis 2030 festschreiben zu wollen, ist genauso gemeinwohlschädlich wie das Postulat einer ungeregelten Zuwanderung, einer ungebremsten Ausweitung des Familiennachzugs und einer Abschiebequote nahe Null. Von den grünen Träumereien einer europäischen Transferunion einmal ganz abgesehen.
Keine andere Partei könnte sich diesen sektengleichen Habitus leisten. Doch die Umerzieher im Gewand der Wohlmeinenden wissen, dass sich am Ende alle fügen werden. Zu groß ist die Angst der politischen Konkurrenz vor der grünen Journaille. Und so darf eine Gruppierung, die einen Bruchteil der Gesellschaft repräsentiert, über 83 Millionen Menschen herrschen, obwohl sie nur gut vier Millionen Mal gewählt worden ist. Da kann FDP-Chef Lindner noch so oft drohen, Jamaika werde „ein Luftschloss“ bleiben, wenn sich die Grünen in den weiteren Koalitionsgesprächen nicht bewegten.

In Österreich haben die Grünen fertig

Deutschland ist weit davon entfernt, sich von einer Sekte zu befreien, die das Land seit Jahrzehnten im Würgegriff hält. Sehnsüchtig schaut man nach Österreich, wo die Wähler vorgemacht haben, dass es kein Traum bleiben muss, eine Organisation aus dem höchsten Parlament zu verbannen, die dem Land wirtschaftlich und gesellschaftlich nachhaltig schadet.
Wir Deutsche sind jedoch offensichtlich anfällig für grüne Angstmacherei. Zwar wurden die meisten Horrorszenarien der Erfinder von Waldsterben und Ozonloch widerlegt, doch lassen sich immer noch Millionen von Mitbürgern einreden, Umweltzonen führten zur Reduzierung von Feinstaubkonzentrationen und Elektroantriebe hätten eine vorteilhaftere Ökobilanz als Verbrennungsmotoren. Überhaupt muss man staunen, wie gering die Bereitschaft ist, die grünen Dogmen zu hinterfragen.
Man möchte eben zu den „Guten“ gehören, denn es kann ja nichts Schlechtes daran sein, die Umwelt schützen zu wollen. So ehrenwert die Ziele, sollte es sich jedem halbwegs Vernunftbegabten allerdings erschließen, dass der mit deutscher Gründlichkeit vorgetragene Umweltaktionismus kaum einen messbaren Klimaeffekt hat. Ums Klima geht es den Grünen aber auch ebenso wenig wie um die Umwelt. Es geht ihnen einzig um die Durchsetzung ihrer Lebensphilosophie, die der Mehrheit aufgezwungen werden soll. Erreicht wird dies durch das Wecken von Schuldgefühlen und das Schüren von Angst. Anders sieht es in der Zuwanderungs- und Integrationspolitik aus. Dort soll die Moralkeule jeden Widerspruch im Keim ersticken.

Eine Sekte bestimmt über die Zukunft des Landes

Seit Jahren unterbinden die Grünen die Abschiebung Ausreisepflichtiger bestimmter Herkunftsländer. In mehreren Landesregierungen sorgen sie dafür, dass selbst Intensivtäter Deutschland nicht verlassen müssen. Und wo sie es doch einmal nicht verhindern können, üben sie per Nichtregierungsorganisation Druck auf die Verantwortlichen aus, indem sie sich mit Transparenten auf Flughäfen versammeln und über ihre medialen Gehilfen für eine umfassende Berichterstattung sorgen, die suggeriert, hier hätten nicht bloß ein paar Dutzend, sondern Zehntausende gegen eine unmenschliche Politik demonstriert.
In der öffentlichen Debatte wollen sie uns weiss machen, der Familiennachzug sei integrationspolitisch zwingend geboten und führe nur zu einigen Hunderttausend Nachzüglern. Dass die Realität weit davon entfernt ist, verdeutlicht folgendes Beispiel: Ein 14-jähriger unbegleiteter „Flüchtling“, den meine Mutter im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit betreute, ist inzwischen als Asylbewerber anerkannt. Der minderjährige Afghane erwartet nun seine vierzehn Geschwister, seinen Vater und dessen zwei Frauen.
Mehr als 60.000 unbegleitete Minderjährige leben inzwischen hier. Es ist keineswegs vermessen, nur für diese Zuwanderergruppe von einem Familiennachzug auszugehen, der eine halbe Million erreicht. Mit den Grünen an der Macht werden sich sämtliche Negativentwicklungen der letzten Jahre dramatisch beschleunigen. Wieso aber gestatten wir einer Sekte, die gerade einmal 5 Prozent aller Bürger vertritt, unser Leben so radikal zu verändern? Die Mehrheit will Jamaika – Deutschland muss verrückt sein!
Ramin Peymani ist freier Autor und Publizist. Er betreibt untehttp://www.liberale-warte.de einen Politik-Blog.


nnn
Warum wirft der Autor Klaus Rüdiger Mai in seinem gleichnamigen Buch diese Frage auf? Weil er sich berechtigte Sorgen um die Akzeptanz der geistigen Wurzeln Europas macht. Anlass dafür gibt es genug. In Zeiten, wo ausgerechnet im Hinblick auf den 500. Jahrestag der Reformation von einem evangelischen Theologen behauptet wird, man müsse mehr bieten als das übliche „Luthertralala“, und der den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, in seine Kirche einlädt, damit dieser im Anschluss an den Gottesdienst anlässlich des Reformationstages einen Vortrag halten kann, sind erhebliche Zweifel angebracht, welchen Stellenwert der große Reformator in seiner Kirche noch hat.
Nicht nur in seiner Kirche. In Deutschland. Klaus Rüdiger Mai legt gleich zu Beginn seines Essays den Finger auf die Wunde:
„Europa entstand...vor allem aus dem Geist des Christentums, denn aus dem Geist des Christentums, insbesondere der Trinität, erwuchsen die Aufklärung, die Idee der Menschenrechte, die modernen Wissenschaften und die großen technischen und zivilisatorischen Erfolge... Europa wird christlich sein, oder es wird nicht sein. Das bedeutet ganz und gar nicht, dass alle Europäer Christen zu sein haben...sondern das verweist allein...auf christliche Grundlage und Identität unserer bürgerlichen Werte. Vergisst Europa diese, vergisst es sich selbst.“
Leider ist dieses Vergessen in vollem Gange. Wer verächtlich von Luthertralala redet, dem ist nicht mehr bewusst, „dass mit Luther das moderne Deutschland und Europas Moderne beginnen“, wie Mai die Ausgangsthese seines Essays formuliert.
 „Am Anfang der Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte steht Luthers Wort von der Freiheit des Christenmenschen, weil in diesem Text das Individuum entdeckt wird...und die neue Weltsicht vom Individuum ausgeht“.

Freiheit existiert, oder sie existiert nicht, jenseits von Gefühlen

Diese von Luther angestoßene große historische Entwicklung, so Mai, scheint heute kraftlos geworden, ziellos zu verebben. Es besteht die reale Gefahr, dass aus der Freiheit ein Freisein von der Freiheit wird. Wenn die Freiheit aber, wie der rumänische Philosoph Emil Cioran vermutet, nur ein Gefühl wäre, würde das den Mächtigen in die Hände spielen, die meinen, man solle sich mit dem Gefühl begnügen. Aber Freiheit existiert, oder sie existiert nicht, jenseits von Gefühlen. Nichts ist so sehr in Gefahr, wie die Freiheit, deren Wesen „in der Suche nach Wahrheit“ besteht.
Wir befinden uns in einem historischen Umbruch. Geschichte findet zwar unabhängig von ihrer Beurteilung durch den Menschen statt, aber keineswegs über ihren Köpfen.
„Unter keinen Umständen dürfen die Menschen der Propaganda der Mächtigen auf den Leim gehen, dass sie diesen Prozessen hilflos ausgeliefert seien“, mahnt Mai. „Luther weist den Weg...die Menschen besitzen die Vollmacht und die Fähigkeit einzugreifen, zu steuern, zu gestalten. Der Popanz der Alternativlosigkeit, die Monstranz einer sich selbst vergottenden Herrschaft...entblößt doch nur Hybris und Misstrauen gegenüber den Menschen, einen Hang zur Tyrannis... Das unselige Programm der Alternativlosigkeit verhöhnt die Freiheit des Christenmenschen... Eine Welt ohne Alternativen wäre eine Welt aus Knechten.“

Luthers Waffe gegen die Obrigkeit war die Sprache

Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass Luther hochmodern ist. Luthers Waffe gegen die Obrigkeit war die Sprache. Er wollte keine Sprache der Eliten, sondern aller Deutschen. Seine Bibelübersetzung „empfing ihre Impulse aus dem großartigen Zusammenspiel von Sprache...dem Glauben eines freien Christenmenschen, mithin aus Sprache, Glauben und Freiheit“. Das macht zugleich die deutsche Identität aus, um die unsere „Eliten“ heute schleichen, „wie die Katze um den heißen Brei“. Die Sprache ist längst nicht mehr frei in Deutschland, sie wurde ins Prokrustebett der politischen Korrektheit gezwängt.
Sich die Freiheit zu nehmen, sich aller Möglichkeiten, die Sprache bietet, zu bedienen, hat die Herrscher schon immer herausgefordert. Luther wurde von der päpstlichen Kurie angeklagt, weil er sich nicht ihrer Benutzungsvorschrift, ihrer Sprache bediente. Das Wissen, dass jeder Versuch, Sprache durch eine Sprachpolizei und Sprachgerichtshöfe einzuschränken, Willkür bedeutet, „ermutigte Luther zur Furchtlosigkeit im Denken, im Reden und im Schreiben“. Angesichts einer Kirche, die sich willig der politischen Korrektheit unterwirft und sie nach Kräften befördert, wird klar, warum Luther den Bedford-Strohms, den Käßmanns und den Marxens größtes Unbehagen verursacht.
Luthers Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ist das Gründungsmanifest des modernen Europa. Die Konsequenz bedeutet eine „Abkehr von jeder supranationalen Herrschaft und die Hinwendung zu einem dezentralen Föderalismus. Nicht in einem Zentralstaat, sondern in seinen Regionen ist der Mensch frei“. Das ist eine Wahrheit, die unsere Eurokraten, die das Europa der Vaterländer, wie es von den Gründern der Europäischen Gemeinschaft gedacht war, in einen Zentralstaat verwandeln wollen, ignorieren.
Die EU, angeführt durch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker („Wenn es ernst wird, muss man lügen“), ist „voller geheimer Abkommen und Verhandlungen, sie behandelt hierin den europäischen Bürger wie eine feindliche Macht, vor der man, was man plant und umsetzt, unter allen Umständen geheim halten muss, vom Anfa-Abkommen bis zu den TTIP-Verhandlungen“.
Den immer massiver vorgebrachten Forderungen, über Aspekte der Wahrheit zu schweigen, muss mit Luther entgegengehalten werden, dass nur Wahrheit zur Freiheit führt, dass Handeln an Verantwortung gebunden sein muss. Er sagt: „Das wollen wir so klar machen, dass mans mit Händen greifen solle, auf dass unsere Junker, die Fürsten und Bischöfe sehen, was sie für Narren sind, wenn sie die Menschen mit ihren Gesetzen und Geboten zwingen wollen, so oder so zu glauben.“  Das heißt: Ohne Meinungsfreiheit keine Freiheit.

An erster Stelle nicht Menschlichkeit, sondern Recht

Faulheit und Feigheit sind Gründe, warum viele Menschen zeitlebens unfrei bleiben. Luther hat schon vor Immanuel Kant dazu ermuntert, den Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Das ist bis heute das beste Mittel, um Tyrannen zu entmachten.
Aber hat Luther nicht gegen die „räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ gewütet? Hat er, denn er fühlte sich mitverantwortlich für die grausame Gewalt, die im Bauernkrieg von allen Seiten ausgeübt wurde. Übersehen wird, dass er sich mit ebenso scharfen Worten gegen die Obrigkeit wandte, weil es  „ihr Versagen, ihr Hochmut, ihre Eitelkeit, ihr Eigennutz, ihre Gier, ihr Geiz, ihre Hybris, ihre Arroganz, ihre Habsucht, ihre Gottlosigkeit und Verschlagenheit war, die zum Aufstand der Bauern geführt hatte“. „Nicht Menschlichkeit, sondern Recht stand für ihn an erster Stelle, Recht, damit auch wieder Menschlichkeit aufleben konnte.“ Das hätte Luther auch den heutigen Regierenden ins Stammbuch geschrieben, dass sich ihre Moralität „nicht in der moralischen Deklaration, sondern im effektiven Regierungshandeln“ zeigt.
„Ich fürchte, dem wird nicht zu wehren sein, die Fürsten stellen sich denn fürstlich und fangen wieder an, mit Vernunft und säuberlich zu regieren. Man wird nicht, man kann nicht, man will nicht eure Tyrannei und Mutwillen auf die Dauer leiden.“ Das setzt, wie Mai bemerkt, voraus, dass die sogenannte „Elite“ wieder Demut lernt, anstatt den Glauben an sie einzufordern.
Gehört Luther zu Deutschland?


Lutherdenkmal Worms


Hier steh ich und kann nichts anderes

Regelmäßige Zeitungsleser und Nachrichtenhörer sind in diesen Wochen und Monaten ja schon einiges an Hofberichterstattung gewöhnt, die offensichtlich aus der Angst geboren ist, bloße Zweifel an den Vorgaben der deutschen Alleinherrscherin („Ich habe keinen Plan B“, „Wir können das schaffen“) könnten das immer wackeliger werdende Kartenhaus der Merkelschen Willkommenspolitik zum Einsturz bringen.
Aber ein Kommentar zum Auftritt der Kanzlerin bei „Anne Will“, den die Publizistin Christine Eichel in der Berliner BZ unter der Überschrift „In der Krise zeigt sich ihre christliche Prägung“ verfassen durfte , sprengt den bisher gekannten Rahmen. „Hier stehe ich und kann nicht anders“ leitet die Autorin ihren Text mit Martin Luthers legendärem Satz von 1521 auf dem Reichstag zu Worms ein. „Ähnlich unbeirrbar“ wie der Reformator verhalte sich nun fünfhundert Jahre später die Pfarrerstochter, „die eine Vision hat und bereit ist, dafür ihre eigene Popularität zu opfern“ (an dieser Stelle stockte mir der Atem, weil ich fälschlicherweise „Population“ las).
Vermutlich, so die Publizistin weiter, zeige sich hier „die unzerstörbare Substanz von Angela Merkel, eine Entschlossenheit, die nur auf einem starken Wertefundament entsteht“. Selten sei ein deutscher Politiker derart überzeugt gewesen, „dass nicht der Flirt mit dem Wähler, sondern das eigene Wertesystem wichtiger“ sei. Deshalb werde der Auftritt der Kanzlerin bei Anne Will vermutlich in die TV-Geschichte eingehen – „als Dokument einer Haltung, die das Ethos über den mit Geschmeidigkeit erkauften Erfolg setzt.“
Nach so viel nordkoreanisch anmutendem Pathos und „Ethos“ heißt es für den Leser erst einmal durchatmen und die bösen Störgedanken verscheuchen, die ihm unwillkürlich durch den Kopf gehen: Versteht eigentlich die Stammleserschaft dieses Springer-Boulevardblatts solch anspruchsvolle Lobrede? Und fallen einem nicht mindestens zwei andere deutsche Politiker ein, denen die Meinung der eigenen Bevölkerung völlig schnuppe war und die sich bis zum bitteren Ende in ihren angeblich unzerstörbaren „Wertefundamenten“ einbunkerten? Wäre es also nicht von entscheidender Bedeutung, zu erfahren, was für Werte es sind, an denen unsere Kanzlerin so „unbeirrbar“ festhält und welcher Vision – außer dem eigenen Machterhalt – sie anhängt?
Zumal Angela Merkels bisherige Kanzlerschaft nach übereinstimmender Meinung von Kritikern und Bewunderern gerade durch eine schwindelerregende „Geschmeidigkeit“ und Wendigkeit – den jeweils aktuellen Meinungsumfragen folgend – charakterisiert war.  Oliver Zimski

Wie für Gudrin Ensslin besteht das Volk für Angela Merkel nicht aus den Deutschen (deren Wunsch & Wille für Gudrun nicht zählten), sondern aus den Verdammten dieser Erde. Haargenau derselbe exorbitante Hyperdemokratismus und in beiden Fällen von einer Lesbe propagandiert: Ulrike Meinhof bei Gudrun und Anne Will bei Angela.

Und als Sahnehäubchen Luthers Ethik, der die Papisten wegen ihrer Werke verteufelte, um in der nächsten Sekunde zu behaupten, die Werke seien unerheblich zur Erlangung der Gnade Gottes.



An quasi Staatsfeiertagen wie dem gestrigen ist es unmöglich, von Repräsentanten etwas anderes zu hören als einen besonders säuerlichen Sulz aus politischer Korrektheit, Denkfaulheit und Bildungsferne. Angela Merkel sagte in Wittenberg:
„Wer die Vielfalt bejaht, muss Toleranz üben - das ist die historische Erfahrung unseres Kontinents. Mühevoll wurde gelernt, dass die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben in Europa die Toleranz ist.“
Selbst wenn Glaubensüberzeugungen den eigenen Ansichten widersprächen, gelte es anzuerkennen, dass sie „für andere von zentraler Bedeutung sind“.
Nein, die historische Erfahrung unseres Kontinents – die allerdings von immer mehr Bewohnern nicht geteilt wird – lautet vielmehr: Wer eine zivile Gesellschaft haben will, muss die Religion einhegen und Grenzen der Toleranz definieren, gerade gegenüber religiösen Eiferern, die ihre Agenda der gesamten Gesellschaft aufzwingen wollen.
Entscheidend ist eben nicht, ob Glaubenssätze "für andere von zentraler Bedeutung sind" (das sind sie beispielsweise für Salafisten mit Sicherheit), sondern, ob sie sich mit einer Gesellschaft freier Individuen vertragen. Genau das bedeutet nämlich „Vielfalt“ tatsächlich: Individualität. Die kann nur gedeihen, wenn es Leute nicht zu bunt treiben, die meinen, ein Kollektiv müsse bei Drohung mit empfindlichen Übeln dies und jenes glauben, ob religiös oder weltlich.  Alexander Wendt



Dieser Tage lohnt es sich doppelt, in die Vergangenheit Europas zu schauen: Erstens um sich in Erinnerung zu rufen, wie es um die Christenheit vor Luther bestellt war und zweitens, um den Konflikt, der sich gegenwärtig in Spanien um die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen zusammenbraut, historisch besser einordnen zu können. Wer sich dabei noch unterhalten will, dem sei das Buch „Nacht über der Alhambra“ von Sebastian Fleming empfohlen. Es ist der in sich abgeschlossene dritte Band der großen Renaissance-Trilogie des Autors.
Die Handlung beginnt in Konstantinopel, das 1453 von Sultan Mehmed belagert wird. Die damaligen tragischen Ereignisse hat Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ prägnant zusammengefasst: In der Stadt wimmelt es von Verrätern, die dem Sultan Informationen liefern. Europa lässt seine letzte christliche Festung im Osten, deren Symbol die prächtige Hagia Sophia ist, schmählich im Stich. Die unzerstörbaren Mauern der Stadt werden von den größten Kanonen beschossen, die ein ungarischer Christ für Mehmed gebaut hat.
Mehmeds Kriegsführung, die erst Massen von halbnackten, spärlich bewaffneten Kämpfern in den fast sicheren Tod schickt, um die Belagerten zu ermüden, könnte eine Blaupause für die Strategie von Generalissimus Stalin sein. Aber auch die gut ausgebildeten Elitetruppen drohen, an den Mauern der stolzen Kaiserstadt zu scheitern. Da entdecken muslimische Soldaten eine geöffnete Tür im Festungswall. Ob die Kerkaporta versehentlich offen gelassen wurde, oder Verrat im Spiel war, wird wohl nie geklärt werden können.
Flemings Handlung setzt ein, als die Truppen Mehmeds in die Stadt eindringen, die zur absoluten Plünderung freigegeben wurde. Sein Hauptheld Joanot Julia, später Yaya ibn Catalano, muss zusehen, wie sein Vater und seine beiden älteren Brüder vor seinen Augen geköpft werden. Er selbst wird in die Sklaverei geführt, aber auf Anweisung Mehmeds zum Islam bekehrt und gut ausgebildet. Als Übersetzer leistet er unschätzbare Dienste, weil er die Spitzelberichte, die aus ganz Europa kommen, ins Arabische überträgt.

Den Petersdom zum Pferdestall machen

Mehmed, nicht zufrieden mit der Eroberung Konstantinopels, plant die Rückeroberung ehemals muslimischer Gebiete in Spanien und den Marsch auf Rom. Sein Ziel ist, den Petersdom zum Pferdestall zu machen. Wie europäische Herrscher und geistliche Würdenträger mit dieser Gefahr umgehen, das schildert Fleming, der für seine sorgfältigen Recherchen bekannt ist, sehr farbig und lehrreich.
Da ist der kastilische König Enrique IV, ein Pazifist, der sich gern maurisch kleidet und jeden Konflikt vermeiden will. Seine Abneigung, Entscheidungen zu treffen und die Sucht, Feinde mit Geld, Privilegien und Gütern zu bestechen, führt in dieser aus den Fugen geratenen Zeit immer wieder zu Kriegen.
Da ist seine Halbschwester Isabel, die als Infantin mehr politisches Gespür und Entschlusskraft hat, als ihr Halbbruder. Sie entscheidet sich schon in jungen Jahren, Königin werden zu wollen, nicht nur von Kastilien, sondern eines geeinigten Spaniens. Sie entschließt sich, Don Fernando de Aragón zu heiraten, um die Feindschaft zwischen Kastilien und den Katalanen zu beenden, damit sie nicht länger von den muslimischen Emiren gegeneinander ausgespielt werden können. Der Plan glückt. Isabel und Fernando vereiteln als Johanna die Katholische und Ferdinand der Katholische die Eroberungspläne Mehmeds und tragen erheblich dazu bei, dass Europa christlich bleibt.
Schon vor fünfhundert Jahren war Europa dabei, seine Identität zu verspielen. Es ist heute  wieder in eine Krise manövriert worden, die nicht nur seine Identität, sondern alle seine emanzipatorischen Errungenschaften bedroht. Der französische Autor Michel Houellebecq hat kürzlich in einem Spiegel-Interview geäußert, dass der Katholizismus ein wirksames Gegenmittel gegen die Islamisierung sei. Wenn das stimmen sollte, braucht es statt eines Kardinal Marx eine moderne Johanna die Katholische.
Sebastian Fleming: Nacht über der Alhambra, Lübbe 2017.

Samstag, 28. Oktober 2017

Gotholandia

„Das könnte sowieso niemals funktionieren, Zwergstaaten sind in der heutigen globalisierten Welt doch gar nicht überlebensfähig!“ – so orakelte neulich ein Bekannter über die seiner Meinung nach unrealistischen Autonomiebestrebungen der Katalanen. Vom „Armenhaus Spaniens“ sprach er und von der unvermeidbaren Isolation Barcelonas in Europa, sollte man diesen falschen Weg wirklich bis zum bitteren Ende weitergehen. Die Legende vom Armenhaus, die wohl besonders unter regierungsnahen Spaniern sehr populär ist, beruht jedoch auf einer Täuschung.
Dass Katalonien nämlich nur auf Platz 10 der Wirtschaftskraft der Regionen Spaniens steht, ist der Tatsache geschuldet, dass die „Hand aus Madrid“ die Kasse der Region plündert. Ohne diese Umverteilung, stünde Katalonien auf Platz 3. Griffe der deutsche Fiskus den Bayern ähnlich ungeniert in die Taschen, müsste München pro Jahr nicht 6 Milliarden in den Länderfinanzausgleich einzahlen, sondern ca. 26 Milliarden Euro nach Berlin überweisen – was sicher dazu führte, dass der Bundesfinanzminister sich besorgt über den Schuldenstand der Bayern äußern, vom „Armenhaus am Alpenrand“ faseln und den Bayern als Vorbild die fiskale Expertise Berlins anempfehlen würde (Katalonien hat 7,5 Millionen Einwohner und zahlt jährlich etwa 16 Milliarden Euro Netto nach Madrid. Bayern hat 12,8 Millionen Einwohner und zahlte für 2016 etwa 6 Milliarden Euro in den Länderfinanzausgleich Deutschlands ein. Der Rest ist Dreisatz.)
Aber lassen wir das, wie die Spanier in ihrem Land die Gelder verteilen, ist schließlich ihre Sache. Auch wenn ich den leisen Verdacht hege, als Vorbild für die Verwaltung dient den Beamten aus Madrid eine alte DDR-Regelung, nach der einfach alle Ressourcen in die Hauptstadt gekarrt wurden, wo die Menschen sie sich dann abholen konnten, falls dort noch etwas zu finden war. Dezentralisierung? Stärkung der Regionen? Fehlanzeige.

Hinten anstellen und das volle Beitrittsprogramm durchlaufen

Aber der Einwand mit der EU-Mitgliedschaft ist natürlich stichhaltig. Für neue Staaten sind die Regeln klar: hinten anstellen, das volle Beitrittsprogramm durchlaufen. Die EU mag ja manchenorts generös sein, wenn es um die Einreise von Personen geht. Bei der Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten ist sie weniger situativ und folgt einem ausgeklügelten Ritual. Zum Glück, wird jetzt der eine oder andere denken, denn sonst wären die Türkei und die Ukraine wohl längst durch eine Mischung aus Selbstüberschätzung, Überheblichkeit und Größenwahn Vollmitglieder. Nicht nur der EU, sondern auch des Euros. Mindestens.
Ich vermute, im Fall Schottlands bedauerte man das starre Regelwerk zutiefst, hätte sich für Brüssel hier doch die einmalige Gelegenheit geboten, bei der Scheidung der Briten von Europa wenigstens das alleinige Sorgerecht für das „Kind“ Schottland zu behalten und den renitenten Engländern noch mal so richtig einen mit zu geben. So eine Scheidung ist doch erst dann ein Erfolg, wenn man sicher sein kann, dass es dem ehemals geliebten Partner anschließend richtig dreckig geht! Aber über einen unverhohlenen Flirt mit Sturgeon von der SNP ging es am Ende jedoch nie hinaus.
Blickt man auf die Gründungsverträge der EU zurück, erstaunt aus heutiger Sicht vor allem die naive Illusion, man hätte durch diese ein Vertragswerk mit Ewigkeitsanspruch geschaffen, das allen künftigen Verwerfungen standhalten könne. Aussagen zu Ewigkeiten aller Art erwartet man zwar eigentlich eher von Religionen, und selbst diese sehen eine Art Laufzeitbegrenzung allen irdischen Strebens vor und erfanden zu diesem Zweck solche Dinge wie „Weltuntergang“ und „Jüngstes Gericht“.
Die EU jedoch existiert von Ewigkeit zu Ewigkeit und der EuGH wird eines Tages sicher auch die Urteile des Jüngsten Gerichts anfechten. Die EU ging bei ihrer Gründung davon aus, dass es so etwas wie Separatismus in ihren Mitgliedstaaten prinzipiell nicht geben könne, was allerdings der Selbstwahrnehmung dieser Organisation als ein „Europa der Regionen“ und der Idee der „Überwindung der Nationalstaaten“ eklatant widerspricht und zu einem leeren Versprechen macht. Denn wenn ein Mitgliedsstaat der EU die Autonomiebestrebungen eines seiner Teile nicht toleriert, dienen ihm die Statuten der EU als perfektes Mittel der Erpressung, da die Aufnahme neuer Mitglieder immer einstimmig erfolgen muss.

Bei Scheidungen wird nicht mehr nach „Schuld“ gesucht

Doch bei Scheidungen wird heute vor Gericht nicht mehr nach „Schuld“ gesucht und diese Regel sollte man konsequenterweise auch auf separatistische Bestrebungen anwenden, wenn sie erfolgreich werden. Im Fall Spanien vs. Katalonien bedeutete dies, dass beide die EU verlassen müssten und beide dann die Wiederaufnahme beantragen können. Denn warum sollte man nur Barcelona bestrafen? Ist die Tatsache, dass sich die Katalanen in Spanien nicht mehr wohl fühlen, nicht auch in Madrid verbockt worden?
Wie auch immer die Sache ausgehen mag, mir gefällt die erpresserische Argumentation nicht, mit der den Unabhängigkeitsbewegungen in Europa prinzipiell begegnet wird. Der schadenfrohe Hinweis, durch eine solche Scheidung von den Fleischtöpfen Brüssels abgeschnitten zu sein und sich durch eine Nichtmitgliedschaft in der EU selbst eingesperrt zu haben – und den Schlüssel zu diesem Gefängnis ausgerechnet dem Ex-Partner in die Hand drücken zu müssen, ist schäbig und unlauter.
Und der Weg zurück in die EU ist ja kein leichter. Man muss Prozesse in Gang setzen, mit denen man längst fertig war. Man verliert Zeit, bindet Ressourcen und Kraft und der Ausgang ist völlig ungewiss. Aber ich habe hier nicht nur das Wort ergriffen, um den Status Quo zu beleuchten. Ich habe vielmehr die perfekte Lösung für die Autonomieprobleme der Katalanen und das kränkende Gefühl der Spanier, verlassen zu werden.

Von Deutschland lernen

Leider kann ich die Urheberschaft dieser Lösung nicht für mich beanspruchen, denn diese Idee wurde bereits vor 27 Jahren erfolgreich in die Tat umgesetzt, wenn auch aus anderen Gründen. Sie erinnern sich nicht? Dann helfe ich ihnen kurz auf die Sprünge: Wiedervereinigung! Genau, diese große historische Tat, damals, als man östlich der Elbe noch nicht von „Dunkeldeutschland“ sprach, sondern von „Ex Saxonia Lux“. Doch diese Wiedervereinigung hat in Wirklichkeit nie stattgefunden, auch wenn wir diesen Begriff so gern verwenden. Bei einer Wiedervereinigung wäre nämlich etwas Neues entstanden, ein neuer Staat.
Nach den Maastrichter Verträgen, die zwei Jahre später abgeschlossen wurden, hätte dieses „Neue Deutschland“ einen neuen Aufnahmeantrag in die EU stellen müssen, genau wie die Katalanen heute im Fall ihrer vollendeten Unabhängigkeit. Doch nicht aus diesem Grund entschied man sich letztlich gegen eine Wiedervereinigung und für den schlichten „Beitritt der DDR zum Wirkungsbereich des Grundgesetzes“. Zweck dieses Tricks war natürlich, die im Fall einer Wiedervereinigung ins Haus stehenden erneuten Verhandlungen über Reparationszahlungen an Polen, Tschechien, Griechenland und andere im zweiten Weltkrieg verwüstete Länder zu umgehen. Ein kleiner Trick, durch den auch ihr bekommen könnt, was ihr wollt, liebe Katalanen!
Spielen wir die Sache mal durch: Katalonien erklärt seine Unabhängigkeit und Spanien lässt es zähneknirschend ziehen, bereit, jeden Aufnahmeantrag Barcelonas in die EU sofort mit einem Veto zu beantworten, Zollschranken und andere Hemmnisse zu errichten, ganz gleich, ob es sich damit selbst ebenfalls bestrafen würde. Die typische Reaktionen eines „verlassenen Partners“. Katalonien ist dann faktisch ein Land, das jeden Vertrag, jede Mitgliedschaft in internationalen Organisationen neu aushandeln muss. Deshalb beschließt das Parlament in Barcelona, noch am Tag der Unabhängigkeit Andorra beizutreten ­– was Andorra gern akzeptiert.
Das kleine Fürstentum von 78.000 Einwohnern ist der nördliche Nachbar, die Amtssprache ist katalanisch, es gibt zahlreiche historische und kulturelle Anknüpfungspunkte und eine weitgehende Autonomie der neuen andorranischen Provinz Katalonien, die noch weit über das hinausgehen würde, was sich Barcelona vormals von Madrid erhoffte, wird sich vertraglich vorher regeln lassen. Natürlich müsste Katalonien auch an die neue Hauptstadt Andorra la Vella Steuern zahlen, wie man das vorher mit Madrid tun musste. Doch angesichts eines andorranischen Staatshaushaltes von etwa 500 Millionen Euro und einem Haushaltsdefizit von 3,5 Prozent wäre man dort sicher schon mit deutlich weniger zufrieden, als früher die Forderungen aus Madrid auswiesen.

Eine Hochzeit mit dem Ko-Fürstentum

Andorra gehört zwar formal nicht zur EU, die Brüsseler Fleischtöpfe blieben den Katalanen nach ihrem Beitritt zum Fürstentum somit verschlossen, was dem spanischen Selbstbewusstsein helfen würde. Jedoch ginge das wirtschaftliche Leben in Barcelona nahtlos weiter, da Andorra Mitglied in zahlreichen internationalen Organisationen ist, darunter den Vereinten Nationen, dem Europarat, Interpol und – besonders wichtig – der FIFA. Das seit 1990 mit der EU bestehende Handelsabkommen und die bestehende Zollunion Andorras mit der EU würden die Katalanen zudem sofort in eine privilegierte Situation katapultieren, von der die Briten derzeit nur träumen können! Und man könnte den Euro behalten, da dieser in Andorra seit 2014 Landeswährung ist.
Das lassen sie Spanier niemals zu, meinen Sie? Die würden in das neue Groß-Andorra einmarschieren? Da bin ich mir nicht so sicher, denn das kleine rebellische Völkchen im Nordosten Spaniens ist ein sogenanntes „Ko-Fürstentum“. Neben dem Bischoff von Urgell, mit dessen katalanischer Diözese es sicherlich kein Problem geben würde, ist ebenfalls der Staatspräsident von Frankreich Staatsoberhaupt von Andorra! Und das ist kein Geringerer als Emmanuel Macron, der bekanntlich macht, was ihm gefällt. Wer will sich schon mit dem anlegen!?
Katalonien gewinnt seine Unabhängigkeit, RealMadrid schon am ersten Spieltag die spanische Meisterschaft. Spanien wird sein undankbares „Armenhaus“ los und genießt die Rache, die Rückkehr der Katalanen in die EU dauerhaft verhindern zu können. Andorra bekommt endlich Zugang zum Mittelmeer und verliert die demütigende Bezeichnung „Zwergstaat“, Frankreichs Präsident darf sich noch ein Stück größer fühlen und Europa bleibt ein Hort des Friedens und muss sich nicht als „Völkergefängnis“ beschimpfen lassen, wie einst das Reich der Habsburger Doppelmonarchie – Problem gelöst!
Danken Sie mir nicht, Herr Puigdemont. Aber falls Barca demnächst in der französischen „Ligue 1“ spielt, würde ich mich über ein paar Karten für das Spitzenspiel gegen Paris Saint-Germain freuen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Roger Letschs Blog Unbesorgt hier

Mittwoch, 25. Oktober 2017

Dröhnende Stille ringsum


„Ich habe darauf gewartet, dass Du diese Botschaft von jemandem anderen empfängst. Aber das ist nicht passiert. Du hättest diese Botschaft empfangen sollen vom Großscheich der Azhar oder vom Ministerium für religiöse Angelegenheiten in der Türkei oder von einem Vertreter der Islam Verbände oder von einem dieser Migrationsforscher oder Islam-Experten, die ständig über Dich sprechen, aber niemals mit Dir oder zu Dir. Da all diese Leute und Institutionen sich für Dich kaum interessieren, kriegts Du nun diese Botschaft ausgerechnet von mir. Es ist unwichtig wer ich bin, konzentriere Dich lieber auf den Inhalt dieser Botschaft und höre Sie mit Herz und Verstand...“


Diese Botschaft ist auch auf englisch und arabisch im Netz.


Die Retorten der Unvorhersehbarkeit

Der Osteuropa-Historiker Gottfried Schramm hat in seinem Buch über die Wegscheiden der Weltgeschichte die These aufgestellt, dass revolutionäre und reformatorische Bewegungen in der Regel nicht von den Zentren der politischen und geopolitischen Macht, sondern von den Peripherien ausgehen: nur hier sei das intellektuelle Ferment, der politische Freiraum vorhanden gewesen, damit Persönlichkeiten, die anderswo als Abenteurer und Spinner abgetan worden wären, ihre Ideen entwickeln und Anhänger um sich scharen konnten.
Schramm erläutert diese These unter anderem anhand der Ausbreitung des Christentums und an der Russischen Revolution, die sich in diesem Jahr zum hundertsten Male jährt. Aber auch die Reformation, deren fünfhundertsten Jahrestag wir in Kürze feiern werden, ging ursprünglich von einer Peripherie aus, wenn sie auch, von der Medienrevolution ihrer Zeit getragen, bald in die ökonomischen Zentren des Reichs vorstieß: Luthers Wittenberg war zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Universitäts-Vorposten in der Germania slavica, in jenen historisch jungen Reichsländern, wo die Unterschichten weiter Landstriche noch „wendisch“, das heißt sorbisch sprachen und das Christentum weit ältere, gleichwohl noch lebendige naturreligiöse Vorstellungen überformt hatte.
In den letzten Wochen ist viel darüber diskutiert worden, ob diese Strukturgeschichte Ostdeutschlands mit den vernichtenden Stimmen-Einbußen der herrschenden CDU/CSU bei der Bundestagswahl zu tun haben könnte: Von der Halbzivilisation des Römischen Reiches deutscher Nation über das ökonomisch-strukturell ostmitteleuropäische Ostelbien und die sowjetisch-slavische DDR bis zum renitenten sächsischen AfD-Land? Fest steht, dass die vorgebliche Alternativlosigkeit bei gleichzeitiger Prinzipienlosigkeit, mit der unsere Kanzlerin seit einigen Jahren Politik macht, heute inner- und außerparteilich besonders von  Seiten der Peripherie herausgefordert wird, sei es die sächsische oder die bayerische.
Und das gilt offensichtlich nicht nur für die Migrationspolitik, die als Sicherheitsproblem während des Wahlkampfes in aller Munde war – das gilt genauso für ein Thema, das im Wahlkampf fast überhaupt keine Rolle spielte, nämlich unsere Energiepolitik und Energiesicherheit. Auch hier sind es vor allem die Bayern, die wie kein anderes Bundesland von Kernstrom abhängig sind, und die Braunkohle-Länder Sachsen und Brandenburg, in denen sich vermehrt Zweifel am „Weiter so“ in der Energiewende breit machen.
Doch ist letztere ein ungleich sperrigeres Thema. Denn während über Migration, kulturelle Identität und Religion schlechthin jeder glaubt, aus eigener Erfahrung mitreden zu können, sind Energiewirtschaft und Stromversorgung ein Gegenstand, für dessen Bewertung das Alltags- und Überlieferungswissen nicht ausreicht. Während Migration und Integration landauf, landab als akute Frage behandelt werden, hält man die Energiepolitik seit dem Atomausstieg für „gegessen“ und wägt sich in einer Scheinsicherheit.
Und daher ist das Risiko, das momentan von der  energiepolitischen Fehlsteuerung in Deutschland ausgeht, ungleich höher als jenes, das von der missglückten Einwanderungspolitik ausgeht. Denn während wir im Falle der Migrationspolitik inzwischen einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die Reformbedürftigkeit des gesamten Prozesses haben, steht diese Diskussion im Falle der Energieversorgung noch aus. Doch an den Peripherien ist sie längst im Gange.

Die derzeitige Lage

Die deutsche Energiewende ist eigentlich keine Energie-, sondern eine Stromwende, denn Deutschland betreibt sie vorwiegend im Stromsektor. Einer beständig steigenden installierten Leistung im Bereich der „Erneuerbaren Energien“  steht eine reale Ersetzung nuklear erzeugter gesicherter Leistung durch gesicherte Leistung aus Kohlekraft gegenüber. Der Grund dafür ist: regenerative Quellen gewährleisten nur eine sehr geringe gesicherte Leistung, und die Kernenergienutzung fällt seit 2011 de facto unter ein politisches Verbot, das stufenweise umgesetzt wird.
Unser Land erreicht daher seine CO2-Ausstoß-Ziele nicht, und es gehört weiter zu den Mega-Produzenten von Luftschadstoffen in der Energiewirtschaft. Ironischerweise sind es Kohle- und Kernkraftwerke im In- und Ausland, die während der gar nicht so seltenen Dunkelflauten, und tagtäglich angesichts volatiler regenerativer Stromproduktion die deutsche Netzfrequenz retten. Dabei retten sie die Ehre der  Erneuerbaren gleich mit.
Doch in Wirklichkeit wird die Zielarchitektur der Energiewende, bestehend aus Umweltverträglichkeit und Klimaschutz zum ersten, Versorgungssicherheit zum zweiten und Bezahlbarkeit des gesamten Unterfangens zum dritten, von den Regierenden selbst zerstört. Technische Experten, aber neuerdings auch die Finanzprüfer des Bundesrechnungshofes, kommen übereinstimmend zu der Schlussfolgerung, dass keines der selbstgesteckten drei Ziele mit der deutschen Energiepolitik in ihrer heutigen Gestalt erreicht werden kann.
Das liegt zum einen an nicht vorausgesehenen Entwicklungen, zum anderen an erwartbaren Prozessen. Nicht vorhergesagt wurde der Zusammenbruch des CO2-Zertifikatemarktes. Auch die allmählich zutage tretenden gewaltigen Umweltlasten der Erneuerbaren, die so gar nicht zu ihrem medial vermittelten sanften Image passen wollen, treten erst neuerdings zu Tage, nach wie vor sorgfältig umschifft von den meisten Politikern und den allermeisten Journalisten. Dasselbe gilt für die Energiewende als soziale Frage: dieses Unternehmen ist sozial gesehen eine gigantische Umverteilung von unten nach oben, in der Mieter und Kleinverdiener über ihre Stromrechnung die Minimal-Risiko-Investments von Haus- und Grundbesitzern sowie Investorengruppen absichern, und daneben auch den Lastenausgleich für energieintensive Industriezweige tragen.
Voraussehbar war aber etwas anderes: Die stark unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeit von Basistechnologien der Energiewende.  Denn während wir beispielsweise auf dem Gebiet der offshore-Windkraft in Bereiche vorstoßen, in der eine neue Systemkomponente nicht nur im Industriemaßstab funktioniert, sondern auch wirtschaftlich zufriedenstellend funktioniert, hinken wir im Bereich der Netz- und Speichertechnologien weit hinterher.
Wir reißen also gerade ein bewährtes System in atemberaubender Geschwindigkeit ab, ohne das neue System wirklich zum Funktionieren bringen zu können. Indes wird in fiebriger Hast die nächste Systemrevolution bereits angegangen: seit dem Diesel-Fukushima sind Sektorkopplung und die E-Mobilität auf der Tagesordnung, obwohl man nicht einmal in der herkömmlichen Elektrizitätswirtschaft seine Hausaufgaben erledigt hat. Da wir keine Speichertechnologie haben, ist der einzige Ausweg die Vorhaltung einer extrem teuren doppelten erneuerbar-konventionellen Infrastruktur, die neben der Stromwende in Zukunft auch die Verkehrs- und Wärmewende tragen soll.
Nicht von ungefähr halten die meisten unserer europäischen Nachbarn das deutsche Unterfangen angesichts dieser dysfunktionalen Verteilung von Verboten, Anreizen, Machbarkeiten und Zukunftsplanungen entweder für den Weltverbesserungs-Spleen einer Luxusgesellschaft, die es „sich leisten könne“, oder schlicht für verrückt.

Kognitive Dissonanz im Energiewende-Bunker

Gleichwohl ist das Vertrauen der Deutschen in regenerative Stromerzeugungsquellen nach wie vor unerschütterlich. Denn in den Umfragen wird die wirklich entscheidende Fragenie gestellt:
„Würden Sie auch Einbußen an Lebensstandard infolge unsicherer Stromversorgung als Preis der Energiewende akzeptieren?“
Auch wissen die wenigsten, wer eigentlich in einem Verbundnetz als stabilisierende Kraft aktiv ist, und wer die Regelenergie bereitstellt. Es scheint fast, als sei der Alltagsverstand einer Bevölkerung, die seit dem Atomausstieg an Energiefragen nur mäßig interessiert ist und in elektrotechnischen Fragen über nur spärliche Grundkenntnisse verfügt, mit einer solchen Frage bereits überfordert.  So entsteht die fatale Schlussfolgerung: „Die Windräder drehen sich und der Strom fließt. Die Energiewende scheint zu funktionieren.“
Dies wiederum ist die Grundlage für den parteienübergreifenden Konsens, auf den Atomausstieg auch den Kohleausstieg folgen zu lassen – ein selten deutliches Beispiel kognitiver Dissonanz. Denn unser Energiesystem ist nicht einfach nur im Umbruch – es läuft gegenwärtig Gefahr, infolge Versagens oder Nichtverfügbarkeit einiger wesentlicher Systemkomponenten in einen Zusammenbruch hineinzulaufen, weil elementare Systemgesetzlichkeiten aus politischen Gründen nicht beachtet werden. Melden sich doch einmal Zweifel, so werden sie von Energiewende-Promis wie der Ökonomin Claudia Kemfert, Potsdamer Klimaforschern und Berliner Politikern als  Obstruktion der Kohle- und Atomlobby abgewehrt.
Gleichzeitig erinnern Zukunftsbilder und normativ-ethischer Anspruch der Energiewende-Verfechter unter einer technikhistorischen Perspektive stark an die euphorische Frühzeit der Kernenergie-Prognosen in den 1950er und 1960er Jahren. Diese Euphorie wurde vor allem von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten getragen, aber keinesfalls von Ingenieuren und Praktikern der Energiewirtschaft: Unendlich viel Energie ist auch heute der thermodynamisch interessante Wahlspruch der Umfrage-produzierenden „Agentur für Erneuerbare Energien“.
Abgeordnete,  Minister und politische Beamte, die hinsichtlich ihres naturwissenschaftlich-technischen intellektuellen Rüstzeugs den ungefähren Durchschnitt unserer Bevölkerung abbilden, agieren in diesem Prozess als Verstärker: Sie machen optimistische Prognosen, zumeist ungeprüft, zur Wissensgrundlage eigener weitreichender politischer Entscheidungen, während Skeptiker viel zu selten gehört werden.
Was wir momentan beobachten können, ist ein Feedback-Kreis unhinterfragt und unwidersprochen zirkulierenden Energiewende-Wissens, häufig auch Pseudo-Wissens. Gemeinsam eingesperrt im Bunker dieses Feedback-Kreises, hoffen Regierende und Volk gemeinsam auf die Wunderwaffen der Energiewende, die Stromspeicher. Historische Parallelen sind an dieser Stelle ironisch, aber beabsichtigt.
Doch man sollte es sich nicht zu einfach machen und die Versäumnisse allein bei Politik und Wahlvolk suchen. Auch die deutsche Ingenieurszunft und die Energiewirtschaft haben sich weitgehend an das von der Politik ausgesprochene Skepsis- und Kritikverbot gehalten. „Die Energiewende MUSS gelingen“, wurde von oben dekretiert. Und die Standesvertretungen, Industrieverbände, Beratergremien halten sich daran, und garnieren ihre Publikationen und Sonntagsreden mit Gelingens-Floskeln und optimistischer Rhetorik, als ob die DDR noch lebte. Die Unternehmen taten, was Unternehmen in solchen Situationen immer tun: sie suchten sich neue Märkte. Und Ingenieure haben die Angewohnheit, jede Aufgabe als Ingenieursaufgabe zu sehen: ob nun den Bau eines Kernkraftwerks oder eines offshore-Windparks, ob den Rückbau oder die Endlagerung. Und so ging die Energiewende ihren Weg, mit Verlierern und Gewinnern. Doch die Jubelmeldungen über Windkraft- und Solarindustrieentwicklung kommentierten häufig nur eine Scheinblüte, die im eisigen Wind der asiatischen Konkurrenz rasch in sich zusammenfiel.
Nun ist mir als Historikerin der Sowjetunion – und auch als Historikerin der sowjetischen Kernenergiewirtschaft – dieser Stil der Zielfestsetzung glanzvoller Zukünfte und der Dekretierung von sagbaren und nicht-sagbaren Dingen durchaus vertraut. Die Frage ist, ob dieser Stil als Vorbild für die Entwicklung einer der zentralen technischen Infrastrukturen in einer demokratischen Industriegesellschaft taugt. Es stellt sich daneben die Frage, warum sich eigentlich fast alle, die dank ihrer Expertise etwas zu sagen hätten,  an das deutsche Tabu halten, demzufolge über Kernenergie nie wieder geredet werden dürfe.

Diskursmacht und Dolchstoßlegenden

Technikhistorisch gesprochen ist unsere Energiewirtschaft ein soziotechnisches System. Solche Systeme bestehen aus Menschen, Maschinen, Institutionen, Normen, Regelwerken und den Beziehungen zwischen ihnen.  Energietechnologie existiert in einem solchen System nicht abgekoppelt von der Politik und der Gesellschaft: sie wird nicht nur von Maschinenbauern produziert und von Energieversorgungs-Unternehmen betrieben,  sondern sie wird auch im politischen Prozess, in der gesellschaftlichen Kommunikation hergestellt.
In diesem Prozess ist Diskursmacht auch politische Macht. Wer sie besitzt, bestimmt, was in einer Gesellschaft sagbar ist, und was nicht sagbar ist. Und so ist die deutsche Kernenergiewirtschaft im Jahr 2011 auch nicht an konkreten technischen Mängeln ihrer Anlagen zugrunde gegangen, sondern an Diskursen: die kerntechnischen Spezialisten und Unternehmen konnten zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, vor dem Hintergrund der Tsunami-induzierten Reaktorunfälle von Fukushima, die Diskurshoheit über die Sicherheit und Zukunftsfähigkeit ihrer Anlagen nicht mehr behaupten.
Die deutschen Anlagen in ihrer konkreten Materialität spielten gar keine Rolle in dem Diskurs, der über ihr Schicksal entschied. In den deutschen Kernkraftwerken hätte aufgrund der sicherheitstechnischen Auslegung ihrer Notstrom- und Notspeisesysteme, dank ihrer Ausrüstung mit Wasserstoff-Rekombinatoren und gefilterter Druckentlastung der Fukushima-Unfallpfad auch im Falle einer Jahrtausend-Flutkatastrophe, auch im Falle einer Kernschmelze infolge Totalversagens der Notstromversorgung nicht stattfinden können.
Trotzdem hat Fukushima etliche technische Ertüchtigungsmaßnahmen zur Folge gehabt. Doch über die Reaktorsicherheits-Problematik, deren Bewertung erhebliches Vorwissen voraussetzt, wurde eigentlich gar nicht diskutiert. Die beherrschende Rolle spielte allein der politische Wille einer Bundesregierung, die ein kontroverses Thema mit dem Ziel der Gesellschaftsbefriedung ein für alle Mal abzuräumen gedachte. Dieser Wille bildete sich wiederum in Unterwerfung unter den seit langem kernenergiekritischen Diskurs in Deutschland.
Der in Birmingham lehrende Umwelthistoriker Frank Uekötter sagte jüngst auf einer Tagung, diese Schilderung sei die „Dolchstoßlegende der deutschen Atomwirtschaft“; in Wirklichkeit habe der Ausstiegsbeschluss eine Branche betroffen, die ökonomisch und technologisch längst vorher abgewirtschaftet hätte.
Ich habe ihm mit drei Argumenten widersprochen: erstens hätte auch eine glänzend aufgestellte Atomwirtschaft gegen den politischen Willen einer schwarzgelben Parlamentsmehrheit, die sich gemeinsam mit der Opposition in einer hoch emotionalisierten tagespolitischen Lage ohne lange juristisch-technische Folgenkalkulation auf die Seite der Anti-Atom-Bewegung schlägt, wenig ausrichten können.
Zweitens hatten die Energieversorger nach der Zusage der Laufzeitverlängerung im Jahr 2010 noch einmal massiv in die Modernisierung ihrer KKW investiert; Fukushima traf sie so gesehen nicht in einer Periode der Selbstauflösung, sondern in einer geplanten und geordneten Entwicklung.
Drittens zeigt das Beispiel anderer Länder, vor allem jenes der osteuropäischen Kernenergiewirtschaften nach Tschernobyl, dass eine Kernenergiewirtschaft offensichtlich auch schwerste Krisen überwinden kann, sofern der Staat als maßgeblicher Akteur in der Geschichte dieser Polit-Technologie seine Rolle nicht aufgibt, sondern sie behauptet. Diese Rolle hat hierzulande der deutsche Staat jüngst lediglich in der Endlagerfrage wieder übernommen, nicht aber in der Frage einer Kerntechnik der Zukunft, und auch nicht in der Frage der internationalen Reaktorsicherheit. Im Gegenteil: Deutschland hat sich willentlich aus diesen Gestaltungsfeldern verabschiedet.
Doch einen Dolchstoßlegenden-Vorwurf zurückzuweisen heißt noch nicht zu behaupten, die deutschen Kernkraftwerksbetreiber hätten alles richtig gemacht und seien von Merkel hinterrücks gemeuchelt worden. Fest steht, dass unsere Atomwirtschaft kaum etwas dafür getan hat, um ihre Diskursmacht zu behaupten. Sie blieb stets defensiv und hat es nicht vermocht, die Kernenergie als Antwort auf die Erfordernisse einer modernen Energiewirtschaft zwischen Umweltschutzbelangen, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit plausibel zu machen.

Die Atomwirtschaft hatte das Kommunizieren eingestellt

Sie hat das Kommunizieren in den 1990er Jahren bis auf einige ungelenke Werbeaktionen („ungeliebte Klimaschützer“) de facto eingestellt,  ihren Mitarbeitern Maulkörbe umgehängt, und sich darauf verlassen, dass die Politik es schon richten werde. Und was womöglich ihr gravierendster Fehler war: sie hat sich früh auf einen einzigen technologischen Pfad, das ausschließlich Strom produzierende nukleare Großkraftwerk, festgelegt. All dies schwächte ihre Position in der Krisensituation nach Fukushima erheblich.
Unsere Atomwirtschaft verfügte mit den KWU-Konvoi-Anlagen über technisch hoch ausgereifte und sicherheitstechnisch weltstandardbildende Kernkraftwerke – innerhalb der führenden (Druckwasser-)Reaktorgeneration der 1980er, der sogenannten Generation III.  Doch sie hat nicht in Reaktorkonzepte für die Nachfolge dieser Anlagen investiert, wie es beispielsweise in Russland oder China geschieht. Das ehemals deutsch-französische EPR-Reaktorprojekt, das einmal der nukleare Airbus werden sollte, droht heute an Überdimensionierung, Kostenexplosionen und Fertigungsmängeln zu scheitern – womöglich auch, weil die Deutschen sich schon vor langer Zeit aus dem Projekt verabschiedet haben.
Weiterentwicklung passiver Sicherheitssysteme, transparente Diskussion des Entsorgungs- und Proliferationsproblems, stadtnahe Kernreaktoren, die inhärent sicher sind,  neben Strom auch Prozess- und Fernwärme bereitstellen und Radionuklide für Medizin und Industrie herstellen können? Diese Themen waren allenfalls das Betätigungsgebiet genialer Köpfe an der Peripherie, wie dem Erfinder des Thorium-Hochtemperaturreaktors und energiepolitischen Visionärs Rudolf Schulten, dessen Idee in Hamm-Uentrop nur teilverwirklicht wurde und nun in China eine Renaissance erlebt.
Heute forscht eine kleine Berliner Physikertruppe im Institut für Festkörper-Kernphysik am Dual Fluid Reactor und wäre 2013 als Favorit des Publikums beinahe in die Endrunde des GreenTec Award gelangt – wenn die Organisatoren dies nicht durch Ändern der Spielregeln während des Wettbewerbs verhindert hätten. Merke: „grün“ und „Kerntechnik“ zusammenzudenken, ist hierzulande verboten.
Ein solches Zusammendenken hätte die Atomindustrie womöglich weiterbringen können, doch angesichts der enormen Herausforderung durch die Anti-Atom-Bewegung hatte man letztlich kein Konzept – weder ein technisches, noch ein kommunikatives. Man wurschtelte sich, durchaus nicht ingenieursmäßig, durch. Man igelte sich hinter Zäunen, Wassergräben und Polizeikordons ein, um sich die – wenn auch häufig bis zur Lächerlichkeit unsachliche – Kritik vom Leibe zu halten. Man verdiente gut in den fetten Jahren, doch man verwendete wenig Gedanken an die Entsorgung, welche sich, allen an sich beherrschbaren Lagertechnologien zum Trotz, als diskursive Zeitbombe herausstellte.
Man investierte jenseits der Infozentren an den Standorten nie in eine lebendige nukleare Wissenswelt, nie in einen über die eigene technische Disziplin hinausgreifenden sachlich-kritischen Dialog mit Journalisten, Schulen, Universitäten. Man investierte auch nie in Diskussionen über die kulturelle Bedeutung der Kerntechnik, etwa durch Einbindung von Künstlern oder Kulturwissenschaftlern. Es gab solche Überlegungen durchaus und es gibt eine Reihe von Publikationen, welche dies belegen. Doch diese einzelnen Funken, die man aus internen Diskussionen schlug, haben nie ein Feuer entfacht.
Denn Selbstkritik im öffentlichen Raum oder kritisches Hinausdenken über die existierenden Anlagen hinaus war unter den Bedingungen einer Angst-Mobilisierung gegen jedwede Kerntechnik praktisch Selbstmord. Das haben mir Insider der Industrie und Gutachter im persönlichen Gespräch immer wieder bestätigt. Der vierzigjährige deutsche Atom-Krieg hat Fronten gebildet, zwischen denen man nur umkommen konnte. Grenzgänger, intellektuelle Ingenieursköpfe, Kritiker von Missständen wie der politisch links stehende Schnellreaktor-Projektmanager Klaus Traube, der fälschlich unter RAF-Sympathie-Verdacht geriet und abgehört wurde, mussten daher im Grunde scheitern: als Verräter ausgestoßen von der eigenen Gemeinschaft; missverstanden, zwangseingemeindet, zum Kronzeugen gemacht von der Gegenseite.

Ethische Fragen im energetischen Strukturwandel

Die Stromwende made in Germany hat eine historische Erfahrung der Elektrifizierungsgeschichte nicht beherzigt. Diese besagt: nicht jede technisch bestechende oder politisch wünschenswerte Idee hat sich am Ende auch durchgesetzt. Denn sie muss sich auch als Baustein eines (groß-)technischen Systems bewähren, Abnehmer zufriedenstellen, Investoren anlocken, Standards bilden und Kosten senken. Gelingt es nicht, privates Kapital für den Umbau eines großtechnischen Systems zu mobilisieren, dann muss, wie geschehen, der Staat einspringen, genauer gesagt: wir alle.
Lässt sich die Kostenfrage nicht mehr mit „Kugeln Eis“ verniedlichen, verlagern die Entscheider ihre Argumentation gerne auf fachfremde Gebiete. Zum Beispiel auf das Gebiet der Ethik. Daher hören wir, kommt es doch mal zu Zweifeln, sehr viel von der globalen „Verantwortung“ Deutschlands, für die uns nichts zu teuer sein dürfe.
Wie konnte es dazu kommen? Für politische, soziale und technische Systeme gilt im Prinzip das Gleiche: Soll angesichts neuer Herausforderungen ein strategischer Strukturwandel gelingen, müssen die Ziele klar definiert sein. Wege zur Erreichung dieser Ziele gibt es meistens mehrere, und in offenen Gesellschaften und Denkkollektiven ist Kontroverse über die Mittel und Wege nicht nur Normalität, sondern auch Notwendigkeit, um sowohl machbare als auch gesellschaftlich akzeptierte Lösungen zu erreichen. Soll ein solcher Prozess von Erfolg gekrönt sein, brauchen die Entscheider keine Ja-Sager, sondern sachlich-kritische Expertise, welche Risiken und Schwachstellen erkennt und Lösungswege aufzeigt. Gute Entscheider kaufen sich daher Gegenexpertise ein, um vor versteckten Fallen in einem Planungsprozess gewarnt zu sein.
Diese institutionellen Nein-Sager hat es zu den entscheidenden Zeitpunkten im deutschen Energiewende-Prozess nie gegeben: weder wurden Kosten, technischer Aufwand und Versorgungsrisiken konsequent, transparent und unter Beteiligung der Öffentlichkeit durchgerechnet, noch hat man unterschiedliche technologische Pfade zum Erreichen von Klimazielen sorgfältig und technologieneutral evaluiert, etwa in einer Enquete-Kommission. Der Grund für diese Entwicklung liegt in der spezifisch deutschen Einbettung einer Technologie-Diskussion in die oben skizzierte gesellschaftliche Kontroverse: die jahrzehntelange Atomkontroverse, welche viele der heute aktiven Politikerinnen und Politiker lebensgeschichtlich prägte.
Im Zuge dieser Kontroverse hat die anti-nukleare Position keineswegs nur als gesinnungsethische, sondern auch als verantwortungsethische Position seit dem Unfall von Tschernobyl 1986 die Diskurshoheit in Medien und Politik erobert.  Die ursprünglich marginalisierte Programmatik der außerparlamentarischen Bewegungen und ihr – aus technischer Sicht unsinniges – Verlangen nach „100 Prozent Sicherheit“ – wurde zum breiten gesellschaftlichen und politischen Konsens.
Dieser Konsens sorgte dafür, Energiepolitik auf Kernenergieausstieg und Umbau der Stromversorgung zu verengen. Als Beschleuniger dieser bereits seit Mitte der 1980er Jahre angelegten Entwicklung wirkte 2011 die spontane, ebenfalls spezifisch deutsche Endzeit-Stimmung nach Fukushima.
Ganz folgerichtig wurde nun über die Kernenergienutzung ausschließlich als ethische Frage entschieden, nicht als energiepolitische oder gar elektro- oder verfahrenstechnische: nicht eine Enquete-Kommission wurde einberufen, in die auch Ethik-Experten hätten eingebunden werden können, sondern eine Ethikkommission, aus der die technische, ganz besonders aber die kerntechnische Expertise weitgehend ausgeschlossen wurde. Interessant ist daran, dass die Frage nach der ethischen Verantwortbarkeit eines Ausstiegs aus der Kernenergienutzung in dieser Ethikkommission erst gar nicht gestellt werden durfte.
Aus genau diesem Grunde wurden unterschiedliche Stromerzeugungssysteme im Vergleich gar nicht auf ihre Verantwortbarkeit hin befragt. Denn die Kernenergie-Gegnerschaft ist in Deutschland zu einem öffentlichen Bekenntnis geworden, das Züge einer Zivilreligion trägt und zumindest in unseren Medien überhaupt nicht mehr hinterfragt wird. Wer dieses Tabu antastet, bekommt sehr schnell ein Problem: er wird mindestens des Rechtspopulismus bezichtigt, häufig auch der Menschenverachtung – und zwar für Positionen, die außerhalb Deutschlands, z.B. in Großbritannien oder den USA, ganz selbstverständlich von Linken und grünen Ökomodernisten vertreten werden.

Zehn Thesen für eine energetische Reformation

So ist die Lage. Muss sie so bleiben? Meine Behauptung ist: Nein. Menschen lernen aus Erfahrung – doch würde ich mir wünschen, dass die Deutschen aus ihren energiepolitischen Fehlern lernen könnten, bevor sie der Zivilisationszerfall infolge eines mehrtägigen Großraum-Blackouts Mores lehrt.
Wenn wir davon ausgehen, dass Diskurse und die ihnen unterliegenden Wissensbestände zu politischen Entscheidungen maßgeblich beitragen, dann kann man auch falsche Entscheidungen revidieren, indem man die Ordnung des Sagbaren herausfordert. Diskurse unterliegen, wie die gesamte Welt des Sozialen, historischem Wandel. Sie sind weder gottgegeben noch alternativlos, und sie sind prinzipiell diskutierbar und revidierbar – und gegebene Zustände sind reformierbar.
Um eine energetische Reformation ins Werk zu setzen, müsste man sich über einige Sachverhalte verständigen. Ich habe sie in zehn Thesen formuliert:
1. Wenn wir ein Industrieland heutigen Zuschnitts bleiben möchten, das heißt nicht auf eine konsequente Verzichtsökonomie und auf eine drastische Relokalisierung unserer Verbrauchs- und Mobilitätsgewohnheiten hinauswollen, ist dieses Land nicht, wie politisch gewollt, zu 80-100 Prozent mit regenerativem Strom zu versorgen.
2. Wollten wir dieses Ziel erreichen, aber auf eine Umerziehung und Enteignung unserer Bevölkerung von sowjetischen Ausmaßen verzichten, dann müssten wir für unsere Stromerzeugung eine doppelte, nämlich erneuerbar-konventionelle, Infrastruktur vorhalten, um die Mängel der Erneuerbaren im Bereich der Gesicherten Leistung auszugleichen.
3. Lösungsvorschläge wie Speichertechnologien und smart grids stellen uns vor ein doppeltes Problem: beide sind heute nicht vorhanden und werden auch zu den anvisierten Kohleausstiegsdaten nicht in ausreichendem Maße vorhanden sein. Beide einzuführen, bedeutet einen immensen Finanzierungsbedarf, gegen den die gegenwärtig rund 30 Milliarden Euro jährlicher Energiewende-Aufwendungen zwergenhaft anmuten werden. Darüber hinaus haben wir heute noch gar nicht voll erfasste Probleme der Cybersecurity zu gewärtigen, die uns mindestens genauso beschäftigen werden wie heute die IT-Sicherheit in der Kerntechnik und anderen verwundbaren Infrastrukturen.
4. In der jetzigen Energie-Zielarchitektur werden Mittel mit Zielen vertauscht: Kernenergieausstieg und Erneuerbaren-Etablierung wurden zum Selbstzweck erklärt, während eigentlich Kernenergie und regenerative Quellen komplementäre Technologien in einer umweltverträglichen Stromwirtschaft, später in einer erweiterten Energiewirtschaft mit geschlossenen nuklearen und kohlenwasserstoffbasierten Stoffkreisläufen sein könnten.
5. Die energiepolitische Zielarchitektur sollte daher technologieneutral umgebaut werden: Der Staat sollte lediglich Etappenziele, aber nicht die Mittel zu deren Erreichung vorgeben.
6. Technologieneutralität bedeutet: Umfängliche, deliberative, inklusive Diskussion aller denkbaren Pfade zur Zielerreichung. Ein mögliches Instrument wäre die Einrichtung einer Enquete-Kommission durch das Parlament.
7. Deliberative, inklusive Pfaddiskussion bedeutet: das Sprechverbot über Kernenergie und Kernforschung muss unterlaufen und aufgehoben werden.
8. Sprechverbot über Kerntechnik aufheben bedeutet: Die Evaluierung von Möglichkeiten einer akzeptanzfähigen Kernenergie der Zukunft muss wieder erlaubt sein und darf vom Staat nicht behindert werden.
9. Voraussetzung für eine deliberative, inklusive Pfaddiskussion unter Einschluss der Kerntechnik ist eine Erneuerung unserer Wissensbestände. Das in der Gesellschaft derzeit vorhandene Energiewissen ist mit dem Stand des religiösen Basiswissens vor der Reformation vergleichbar: Die meisten Deutschen glauben, trotz aufkommender Zweifel,an die Unfehlbarkeit ihrer Energie-Päpste. Sie zahlen den Sündenablass mit der Stromrechnung, und sie können die Messliturgie der Energiewende mitbeten. Aber sie können die Bibel nicht lesen.
10. Folglich brauchen wir eine energetische Alphabetisierung – und eine energetische Bibelübersetzung. Beides verlangt nach Wissensträgern aus den Natur- und Technik-, aber auch den Geisteswissenschaften, die sich mit vernehmbarer und verständlicher Stimme in die Diskussion einschalten, als Grenzüberschreiter und Vermittler arbeiten. Energy literacy und nuclear literacy müssen in unseren Schulen, Universitäten, Medien und der Zivilgesellschaft mit Denkkartellen, Halbbildung und Pseudowissen über radioaktive Strahlung und Kerntechnik aufräumen – aber auch das nur lückenhafte Wissen über die tatsächlichen Potenziale der Erneuerbaren aufstocken.
Erst dann wäre jener soziale und kommunikative Kontext gegeben, in dem auch die Kernenergie in unserem Land wieder „sagbar“ wäre. Erst dann könnte man auch wieder über eine Änderung geltender Gesetzgebung und eine zielgerichtete Förderung der Kernforschung nachdenken. Erst dann könnte man ein komplementäres Energiesystem aufbauen, das den Anforderungen des Umweltschutzes genauso genügt wie jenen der Bezahlbarkeit und der Versorgungssicherheit.
Das Geschäft der Historiker ist die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Ich habe versucht, den deutschen – und meiner Meinung nach zum Scheitern verurteilten – deutschen Energiewende-Sonderweg (technik-)historisch zu erklären. Ich möchte aber auf Grundlage historischer Erfahrung auch eine Prognose wagen: Wagen wir keine Reformation unserer Energiepolitik, dann wird die kommende Generation mit dem Scheitern einer in ihrer jetzigen Form technisch defizitären und sozial, ökologisch wie ökonomisch unverantwortlichen Energiewende konfrontiert sein. Dann wird, mit großer Verspätung und nach Vergeudung ungeheurer finanzieller, aber auch naturräumlicher, emotionaler und sozialer Ressourcen, der gesamte Komplex ohnehin wieder auf den Verhandlungstisch kommen. Wir könnten diesen Weg  abkürzen.
Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa-Historikerin am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Ihr Habilitationsprojekt „Atomgrad. Kerntechnische Moderne im östlichen Europa“ ist dem Sonderforschungsbereich SFB/TR 138 „Dynamiken der Sicherheit“ assoziiert. Sie lebt mit Mann und drei Söhnen in Leipzig.

10 unverzichtbare Bedingungen

1. Solange gebildete, berufsintegrierte und akzentfreies Deutsch sprechende Muslima in Talkshows mit wirklichkeitsfernen Sätzen wie „die Frage der Integration stellt sich gar nicht“ so tun, als sei ihr Typ exemplarisch für die muslimische Minderheit in Deutschland und die Gleichstellung muslimischer Frauen eben um die Ecke – so lange hat Thilo Sarrazin recht.
2. Solange diese Vorzeige-Muslima sich lieber die Zunge abbeißen würden als einzugehen auf das, was kritische Muslima so authentisch wie erschütternd berichtet haben über den Alltag der Unterdrückung, Abschottung und Ausbeutung, der Zwangsehe und Gefangenschaft muslimischer Frauen und Mädchen bis hin zu der unsäglichen Perversion der „Ehrenmorde“ – so lange hat Thilo Sarrazin recht.
3. Solange widerstandslos hingenommen wird, dass Moscheen in Deutschland nach Eroberern der türkisch-osmanischen Geschichte benannt werden, nach Sultan Selim I. oder, wie im Fall der sogenannten Fatih-Moscheen, nach Mehmet II., dem Eroberer von Konstantinopel – so lange hat Thilo Sarrazin recht.
4. Solange höchste Verbandsfunktionäre, wie der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland, der Deutsch-Syrer Aiman Mazyek, vor laufender Kamera und Millionen Zuschauern erklären können, Scharia und Grundgesetz seien miteinander vereinbar, ohne sofort des Landes verwiesen zu werden – so lange hat Thilo Sarrazin recht.
5. Solange rosenkranzartig behauptet wird, der Islam sei eine friedliche Religion, und flapsig hinweggesehen wird über die zahlreichen Aufrufe des Koran, Ungläubige zu töten, besonders aber Juden, Juden, Juden – so lange hat Thilo Sarrazin recht.
6. Solange die weitverbreitete Furcht vor schleichender Islamisierung in der Bevölkerung als bloßes Luftgebilde abgetan wird und nicht als demoskopische Realität ernst genommen – so lange hat Thilo Sarrazin recht.
7. Solange von hiesigen Verbandsfunktionären und türkischen Politikern penetrant auf Religionsfreiheit gepocht wird, ohne jede parallele Bemühung um Religionsfreiheit in der Türkei – so lange hat Thilo Sarrazin recht.
8. Solange nicht offen gesprochen wird über islamische Sitten, Gebräuche und Traditionen, die mit Demokratie, Menschenrechten, Meinungsfreiheit, Gleichstellung der Geschlechter und Pluralismus nicht vereinbar sind – so lange hat Thilo Sarrazin Recht.
9. Solange die großen Themen der Parallelgesellschaften wie Gewaltkultur, überbordender Nationalismus, offener Fundamentalismus, ausgeprägter Antisemitismus und öffentliches Siegergebaren mit demografischer Drohung nicht zentrale Punkte des nationalen Diskurses sind – so lange hat Thilo Sarrazin recht.
10. Solange Deutschlands Sozialromantiker, Gutmenschen vom Dienst, Pauschal-Umarmer und Beschwichtigungsapostel weiterhin so tun, als sei das Problem Migration/Integration eine multikulturelle Idylle mit kleinen Schönheitsfehlern, die durch sozialtherapeutische Maßnahmen behoben werden können – so lange hat Thilo Sarrazin recht.