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Samstag, 28. Oktober 2017

Gotholandia

„Das könnte sowieso niemals funktionieren, Zwergstaaten sind in der heutigen globalisierten Welt doch gar nicht überlebensfähig!“ – so orakelte neulich ein Bekannter über die seiner Meinung nach unrealistischen Autonomiebestrebungen der Katalanen. Vom „Armenhaus Spaniens“ sprach er und von der unvermeidbaren Isolation Barcelonas in Europa, sollte man diesen falschen Weg wirklich bis zum bitteren Ende weitergehen. Die Legende vom Armenhaus, die wohl besonders unter regierungsnahen Spaniern sehr populär ist, beruht jedoch auf einer Täuschung.
Dass Katalonien nämlich nur auf Platz 10 der Wirtschaftskraft der Regionen Spaniens steht, ist der Tatsache geschuldet, dass die „Hand aus Madrid“ die Kasse der Region plündert. Ohne diese Umverteilung, stünde Katalonien auf Platz 3. Griffe der deutsche Fiskus den Bayern ähnlich ungeniert in die Taschen, müsste München pro Jahr nicht 6 Milliarden in den Länderfinanzausgleich einzahlen, sondern ca. 26 Milliarden Euro nach Berlin überweisen – was sicher dazu führte, dass der Bundesfinanzminister sich besorgt über den Schuldenstand der Bayern äußern, vom „Armenhaus am Alpenrand“ faseln und den Bayern als Vorbild die fiskale Expertise Berlins anempfehlen würde (Katalonien hat 7,5 Millionen Einwohner und zahlt jährlich etwa 16 Milliarden Euro Netto nach Madrid. Bayern hat 12,8 Millionen Einwohner und zahlte für 2016 etwa 6 Milliarden Euro in den Länderfinanzausgleich Deutschlands ein. Der Rest ist Dreisatz.)
Aber lassen wir das, wie die Spanier in ihrem Land die Gelder verteilen, ist schließlich ihre Sache. Auch wenn ich den leisen Verdacht hege, als Vorbild für die Verwaltung dient den Beamten aus Madrid eine alte DDR-Regelung, nach der einfach alle Ressourcen in die Hauptstadt gekarrt wurden, wo die Menschen sie sich dann abholen konnten, falls dort noch etwas zu finden war. Dezentralisierung? Stärkung der Regionen? Fehlanzeige.

Hinten anstellen und das volle Beitrittsprogramm durchlaufen

Aber der Einwand mit der EU-Mitgliedschaft ist natürlich stichhaltig. Für neue Staaten sind die Regeln klar: hinten anstellen, das volle Beitrittsprogramm durchlaufen. Die EU mag ja manchenorts generös sein, wenn es um die Einreise von Personen geht. Bei der Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten ist sie weniger situativ und folgt einem ausgeklügelten Ritual. Zum Glück, wird jetzt der eine oder andere denken, denn sonst wären die Türkei und die Ukraine wohl längst durch eine Mischung aus Selbstüberschätzung, Überheblichkeit und Größenwahn Vollmitglieder. Nicht nur der EU, sondern auch des Euros. Mindestens.
Ich vermute, im Fall Schottlands bedauerte man das starre Regelwerk zutiefst, hätte sich für Brüssel hier doch die einmalige Gelegenheit geboten, bei der Scheidung der Briten von Europa wenigstens das alleinige Sorgerecht für das „Kind“ Schottland zu behalten und den renitenten Engländern noch mal so richtig einen mit zu geben. So eine Scheidung ist doch erst dann ein Erfolg, wenn man sicher sein kann, dass es dem ehemals geliebten Partner anschließend richtig dreckig geht! Aber über einen unverhohlenen Flirt mit Sturgeon von der SNP ging es am Ende jedoch nie hinaus.
Blickt man auf die Gründungsverträge der EU zurück, erstaunt aus heutiger Sicht vor allem die naive Illusion, man hätte durch diese ein Vertragswerk mit Ewigkeitsanspruch geschaffen, das allen künftigen Verwerfungen standhalten könne. Aussagen zu Ewigkeiten aller Art erwartet man zwar eigentlich eher von Religionen, und selbst diese sehen eine Art Laufzeitbegrenzung allen irdischen Strebens vor und erfanden zu diesem Zweck solche Dinge wie „Weltuntergang“ und „Jüngstes Gericht“.
Die EU jedoch existiert von Ewigkeit zu Ewigkeit und der EuGH wird eines Tages sicher auch die Urteile des Jüngsten Gerichts anfechten. Die EU ging bei ihrer Gründung davon aus, dass es so etwas wie Separatismus in ihren Mitgliedstaaten prinzipiell nicht geben könne, was allerdings der Selbstwahrnehmung dieser Organisation als ein „Europa der Regionen“ und der Idee der „Überwindung der Nationalstaaten“ eklatant widerspricht und zu einem leeren Versprechen macht. Denn wenn ein Mitgliedsstaat der EU die Autonomiebestrebungen eines seiner Teile nicht toleriert, dienen ihm die Statuten der EU als perfektes Mittel der Erpressung, da die Aufnahme neuer Mitglieder immer einstimmig erfolgen muss.

Bei Scheidungen wird nicht mehr nach „Schuld“ gesucht

Doch bei Scheidungen wird heute vor Gericht nicht mehr nach „Schuld“ gesucht und diese Regel sollte man konsequenterweise auch auf separatistische Bestrebungen anwenden, wenn sie erfolgreich werden. Im Fall Spanien vs. Katalonien bedeutete dies, dass beide die EU verlassen müssten und beide dann die Wiederaufnahme beantragen können. Denn warum sollte man nur Barcelona bestrafen? Ist die Tatsache, dass sich die Katalanen in Spanien nicht mehr wohl fühlen, nicht auch in Madrid verbockt worden?
Wie auch immer die Sache ausgehen mag, mir gefällt die erpresserische Argumentation nicht, mit der den Unabhängigkeitsbewegungen in Europa prinzipiell begegnet wird. Der schadenfrohe Hinweis, durch eine solche Scheidung von den Fleischtöpfen Brüssels abgeschnitten zu sein und sich durch eine Nichtmitgliedschaft in der EU selbst eingesperrt zu haben – und den Schlüssel zu diesem Gefängnis ausgerechnet dem Ex-Partner in die Hand drücken zu müssen, ist schäbig und unlauter.
Und der Weg zurück in die EU ist ja kein leichter. Man muss Prozesse in Gang setzen, mit denen man längst fertig war. Man verliert Zeit, bindet Ressourcen und Kraft und der Ausgang ist völlig ungewiss. Aber ich habe hier nicht nur das Wort ergriffen, um den Status Quo zu beleuchten. Ich habe vielmehr die perfekte Lösung für die Autonomieprobleme der Katalanen und das kränkende Gefühl der Spanier, verlassen zu werden.

Von Deutschland lernen

Leider kann ich die Urheberschaft dieser Lösung nicht für mich beanspruchen, denn diese Idee wurde bereits vor 27 Jahren erfolgreich in die Tat umgesetzt, wenn auch aus anderen Gründen. Sie erinnern sich nicht? Dann helfe ich ihnen kurz auf die Sprünge: Wiedervereinigung! Genau, diese große historische Tat, damals, als man östlich der Elbe noch nicht von „Dunkeldeutschland“ sprach, sondern von „Ex Saxonia Lux“. Doch diese Wiedervereinigung hat in Wirklichkeit nie stattgefunden, auch wenn wir diesen Begriff so gern verwenden. Bei einer Wiedervereinigung wäre nämlich etwas Neues entstanden, ein neuer Staat.
Nach den Maastrichter Verträgen, die zwei Jahre später abgeschlossen wurden, hätte dieses „Neue Deutschland“ einen neuen Aufnahmeantrag in die EU stellen müssen, genau wie die Katalanen heute im Fall ihrer vollendeten Unabhängigkeit. Doch nicht aus diesem Grund entschied man sich letztlich gegen eine Wiedervereinigung und für den schlichten „Beitritt der DDR zum Wirkungsbereich des Grundgesetzes“. Zweck dieses Tricks war natürlich, die im Fall einer Wiedervereinigung ins Haus stehenden erneuten Verhandlungen über Reparationszahlungen an Polen, Tschechien, Griechenland und andere im zweiten Weltkrieg verwüstete Länder zu umgehen. Ein kleiner Trick, durch den auch ihr bekommen könnt, was ihr wollt, liebe Katalanen!
Spielen wir die Sache mal durch: Katalonien erklärt seine Unabhängigkeit und Spanien lässt es zähneknirschend ziehen, bereit, jeden Aufnahmeantrag Barcelonas in die EU sofort mit einem Veto zu beantworten, Zollschranken und andere Hemmnisse zu errichten, ganz gleich, ob es sich damit selbst ebenfalls bestrafen würde. Die typische Reaktionen eines „verlassenen Partners“. Katalonien ist dann faktisch ein Land, das jeden Vertrag, jede Mitgliedschaft in internationalen Organisationen neu aushandeln muss. Deshalb beschließt das Parlament in Barcelona, noch am Tag der Unabhängigkeit Andorra beizutreten ­– was Andorra gern akzeptiert.
Das kleine Fürstentum von 78.000 Einwohnern ist der nördliche Nachbar, die Amtssprache ist katalanisch, es gibt zahlreiche historische und kulturelle Anknüpfungspunkte und eine weitgehende Autonomie der neuen andorranischen Provinz Katalonien, die noch weit über das hinausgehen würde, was sich Barcelona vormals von Madrid erhoffte, wird sich vertraglich vorher regeln lassen. Natürlich müsste Katalonien auch an die neue Hauptstadt Andorra la Vella Steuern zahlen, wie man das vorher mit Madrid tun musste. Doch angesichts eines andorranischen Staatshaushaltes von etwa 500 Millionen Euro und einem Haushaltsdefizit von 3,5 Prozent wäre man dort sicher schon mit deutlich weniger zufrieden, als früher die Forderungen aus Madrid auswiesen.

Eine Hochzeit mit dem Ko-Fürstentum

Andorra gehört zwar formal nicht zur EU, die Brüsseler Fleischtöpfe blieben den Katalanen nach ihrem Beitritt zum Fürstentum somit verschlossen, was dem spanischen Selbstbewusstsein helfen würde. Jedoch ginge das wirtschaftliche Leben in Barcelona nahtlos weiter, da Andorra Mitglied in zahlreichen internationalen Organisationen ist, darunter den Vereinten Nationen, dem Europarat, Interpol und – besonders wichtig – der FIFA. Das seit 1990 mit der EU bestehende Handelsabkommen und die bestehende Zollunion Andorras mit der EU würden die Katalanen zudem sofort in eine privilegierte Situation katapultieren, von der die Briten derzeit nur träumen können! Und man könnte den Euro behalten, da dieser in Andorra seit 2014 Landeswährung ist.
Das lassen sie Spanier niemals zu, meinen Sie? Die würden in das neue Groß-Andorra einmarschieren? Da bin ich mir nicht so sicher, denn das kleine rebellische Völkchen im Nordosten Spaniens ist ein sogenanntes „Ko-Fürstentum“. Neben dem Bischoff von Urgell, mit dessen katalanischer Diözese es sicherlich kein Problem geben würde, ist ebenfalls der Staatspräsident von Frankreich Staatsoberhaupt von Andorra! Und das ist kein Geringerer als Emmanuel Macron, der bekanntlich macht, was ihm gefällt. Wer will sich schon mit dem anlegen!?
Katalonien gewinnt seine Unabhängigkeit, RealMadrid schon am ersten Spieltag die spanische Meisterschaft. Spanien wird sein undankbares „Armenhaus“ los und genießt die Rache, die Rückkehr der Katalanen in die EU dauerhaft verhindern zu können. Andorra bekommt endlich Zugang zum Mittelmeer und verliert die demütigende Bezeichnung „Zwergstaat“, Frankreichs Präsident darf sich noch ein Stück größer fühlen und Europa bleibt ein Hort des Friedens und muss sich nicht als „Völkergefängnis“ beschimpfen lassen, wie einst das Reich der Habsburger Doppelmonarchie – Problem gelöst!
Danken Sie mir nicht, Herr Puigdemont. Aber falls Barca demnächst in der französischen „Ligue 1“ spielt, würde ich mich über ein paar Karten für das Spitzenspiel gegen Paris Saint-Germain freuen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Roger Letschs Blog Unbesorgt hier

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