Stationen

Dienstag, 17. Oktober 2017

Leseempfehlungen

Nachdem ich nun aber auf der Messe wiederum gefragt wurde, welche Bücher der Kulturmensch meiner Meinung nach gelesen haben müsse, will ich den Mußetag des Herrn zum Anlass nehmen, heute jene zwölf Romane aufzuzählen, die ich über alles liebe, denen meine glühende Bewunderung gilt und deren Autoren ich so rasend beneide, dass ich sie umbringen würde, wenn ich mir auf diese Weise ihr Genie aneignen könnte, und sie nicht, mit einer Ausnahme, längst schon tot wären. Mich interessiert und begeistert in den Künsten das Wie immer mehr als das Was, weshalb es sich hier um Bücher handelt, in denen jeder Satz dem Autor und nur ihm gehört. Es befindet sich übrigens lediglich ein Nobelpreisträger darunter; der "Stockholmer Elferrat" (Eckard Henscheid) leistet seit hundert Jahren ganze Arbeit.

Also:  


Marcel Proust: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
Gut, dazu muss man eigentlich nicht viel sagen. Es ist der Roman der Gesellschaft. Bei Proust lernt man mehr über das Leben, als wenn man es selber lebt. Hätte ich dieses Buch eher gelesen, so mit zwanzig, ich hätte wahrscheinlich ein anderes Leben geführt. Stilistisch vollkommen und vollkommen einzigartig; ein Satzbaumeister sui generis. Jeder große Autor zwingt dem Leser sein Tempo auf, doch bei Proust lernt der Leser atmen. Sieben Bände lang. Die letzten anderthalb Seiten sind vielleicht das Schönste, was je ein Mensch geschrieben hat. (Meine Lieblingsfigur ist übrigens der Baron de Charlus, sozusagen der Mount Everest des Dünkels.)


Thomas Mann: "Joseph und seine Brüder"

Manns "Ring des Nibelungen", wie jener vom Anfang her erzählt, freilich in diesem Fall mit der immer wieder thematisierten Unmöglichkeit, den Anfang zu finden. Wenn die Quellen schweigen, muss der Dichter die Geschichte nachzeichnen. Die Perspektive des allwisssenden Erzählers ist hier auf den Höhepunkt getrieben; genial, wenngleich durch keinerlei Quelle gedeckt, ist Manns Erfindung bzw. Entdeckung der nach hinten (also zeitlich) offenen Identität der Personen, die auf diese Weise die Erlebnisse der Vorfahren in verträumter Unschärfe als eigene adaptieren. Ich habe den "Joseph" viermal gelesen und plage mich seit einigen Jahren mit der Frage, ob Mann große Kunst oder bloß großes Kunstgewerbe ist, doch er schreibt einfach zu schön und lässt eine untergegangene Welt ungemein bunt und plastisch, ja riech- und schmeckbar wiedererstehen. Man muss sich einlassen auf den Abstieg in den "Brunnen der Vergangenheit", und wenn die "Höllenfahrt" am Anfang manchen abschreckt, so genügt es im Grunde, das Buch "Genesis" noch einmal zu lesen und die historischen Anspielungen einfach hinzunehmen.


Wassili Grossmann: "Leben und Schicksal"

Das "Krieg und Frieden" des 20. Jahrhunderts, geschrieben von einem, der dabei war; ein Epos aus den Knochenmühlen und Glutöfen, gewaltig, ergreifend, erschütternd, wahrhaftig und unbestechlich. Grossmanns Roman, der erst lange nach seinem Tod veröffentlicht werden konnte, spielt in Stalingrad, in den Folterkellern der Lubjanka, im Gulag, in deutschen Vernichtungslagern und im sowjetischen Hinterland. Es ist ein Epos über das russische Volk, in das die kommunistischen und nationalsozialistischen Bestien gleichzeitig ihre mörderischen Fänge geschlagen haben; man liest es mit zugeschnürter Kehle.


Gustave Flaubert: "Die Erziehung der Gefühle"

Der erste und zugleich illusionsloseste aller modernen Entwicklungsromane, der uns die Entwicklung als jene Regression vorführt, auf die es wohl meistens hinausläuft: die Verwandlung hochfliegender Träume in Indolenz und Resignation. Frédéric Moreau, c’est moi. Wir Schriftsteller stehen sowieso alle in Flauberts Schuld. Aber wer schreibt heute noch Sätze wie: "Mein Herz flog wie Staub hinter ihren Schritten auf"?


Albert Vigoleis Thelen: "Die Insel des zweiten Gesichts"

Auf dieses groteskerweise fast vergessene neunhundertseitige Sprachkunstwerk aus dem Jahre 1953 bin ich durch Botho Strauß gestoßen, der es mir mit den Worten empfahl, es handele sich um eine "Pflanz- und Pflegestätte der deutschen Sprache". Das Buch spielt unter Exilanten in den 1930er Jahren auf Mallorca, firmiert unter dem Etikett "Schelmenroman" und ist dort ganz gut aufgehoben, kann mit einem "Plot" kaum aufwarten, ist dafür von einer Formulierungsversponnenheit und ungezügelten Detailausschmückungslust, für die kaum ein Gegenstück existiert. Auf jeder Seite gibt es neue Worte zu entdecken, sogar für den, der schon recht viele zu kennen meint. Der Erzählstil ist von jener Heiterkeit, die sich über alle Fährnisse hinwegsetzt: "Beatricens Tag war nicht ganz ohne Glanz in die Brüche gegangen."


Giuseppe Tomasi di Lampedusa: "Der Gattopardo"

Dieses Opus wurde hier zuletzt mehrfach gepriesen. Es ist der Sizilienroman, ein Gesellschaftsroman – was die tiefe Einsicht in zwischenmenschlich-gesellschaftliche Konstellationen angeht, bewegt sich dieses Buch durchaus auf einer Ebene mit Prousts "Recherche" –, ein Epochenwechsel- und Endzeitroman. Lampedusa erzählt vom grandiosen Stoizismus des Fürsten Salina, der mit einer Mischung aus Grandezza, Melancholie und Untröstlichkeit unter der glühenden Sonne Siziliens dem Untergang seiner Klasse zuschaut.


Richard Yates: "Zeiten des Aufruhrs" ("Revolutionary Road")

Ein illusions- und gnadenloser Falkenblick auf das Vorstadt-Individuum in seiner satten und entsetzlichen Daseinsöde. Ein Buch, in dem jedes Wort sitzt, in dem man kein Komma ändern könnte.



Leo Perutz: "Nachts unter der steinernen Brücke. Ein Roman aus dem alten Prag"

Je spannender die Handlung, desto unaufmerksamer gemeinhin der Leser, doch diese ist dermaßen raffiniert, mysteriös und durchtrieben, dass man gar nicht anders kann, als denjenigen zu bewundern, der sich das ausgedacht hat. In vierzehn Kapitel entrollt sich eine Geschichte, aber bis zum letzten Kapitel weiß der Leser nicht, dass und wie die Teile zusammenhängen, es könnten auch Geschehnisse sein, die sich unabhängig voneinander vollziehen. Erst im vierzehnten Kapitel ist es, als liefen unterirdische Fäden ineinander, und die Teile verbinden sich zu einem zusammenhörigen Geflecht. Nachahmungen dieses Musters gibt es zuhauf, etwa Kehlmanns "Ruhm" oder der Film "Babel", doch die Komplexität der Perutz'schen Partitur bleibt unerreicht. Man hat für dieses Buch den früher eigentlich für die Lateinamerikaner abonnierten Terminus "Magischer Realismus" in Vorschlag gebracht (schon wieder ein europäisches Copyright!), und in der Tat sind die Vorgänge nicht ganz geheuer. Am Ende des ersten Kapitels läuft der Rabbi Löw zum Ufer der Moldau, wo unter der steinernen Brücke ein Rosenstrauch und ein Rosmarin eng ineinander verschlungen stehen, wie Liebende; er trennt die Pflanzen, gräbt den Rosmarin aus und wirft ihn ins Wasser. In dieser Nacht endet die Pest in der Prager Judenstadt. In dieser Nacht stirbt die schöne Jüdin Esther Meisl, und Kaiser Rudolf II. fährt mit einem Schrei aus dem Bett...


Vladimir Nabokov: "Lolita"

Der Meister schlechthin. Besser schreiben geht nicht. Nabokov lesen und danach selber etwas "zu Papier bringen", dafür musst du entweder völlig stumpfsinnig, geldbedürftig oder ein Masochist sein.

"'Paß auf, Lo. Laß uns das ein- für allemal klarstellen. Im rein praktischen Sinn bin ich dein Vater. Ich bin voller Zärtlichkeit für dich. In Abwesenheit deiner Mutter bin ich für dein Wohlergehen verantwortlich. Wir sind nicht reich, und solange wir unterwegs sind, werden wir gezwungen sein ... werden wir ziemlich eng miteinander zu tun haben. Zwei Menschen, die ein Zimmer teilen, geraten unweigerlich in eine Art von ... wie soll ich sagen ... eine Art ...'
'Das Wort lautet Inzest', sagte Lo."

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"Ich hasse das Theater, weil es, historisch gesprochen, eine primitive und angefaulte Kunstform ist; eine Form, die nach Steinzeit-Riten und Gemeinschaftsunfug schmeckt, trotz gewisser individueller Genie-Injektionen wie beispielsweise die elisabethanische Poesie, die ein Leser in seinen vier Wänden automatisch aus dem Zeug herausfiltert." 

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"Ich konnte mich nicht überwinden, ihn anzurühren, um mich zu vergewissern, daß er wirklich tot war. Er sah ganz so aus: Ein Viertel seines Gesichts war weg, und zwei Fliegen konnten ihr unglaubliches Glück noch gar nicht fassen."


Vladimir Nabokov: "Pnin"


Dasselbe da capo, unübertrefflich geschrieben, nur diesmal mit rührender Hauptfigur, was bei Nabokov eine Ausnahme ist.


Laurence Sterne: "Leben und Ansichten des Tristram Shandy, Gentleman"

Der "freieste Schriftsteller aller Zeiten" (Nietzsche) und "schönste Geist, der je gewirkt hat" (Goethe) machte 1759 die Leinen los und fuhr mit vollen Segeln hinaus aufs Meer der Sprache, um dort von Tristram, seinem Vater Walter Shandy und seinem Onkel Toby das Hohelied der Abschweifung anstimmen zu lassen. Ein Festmahl und göttliches Geplauder. Ein starkes Antidepressivum. Und ein schönes Exempel dafür, dass die Moderne ein alter Hut ist, der schon mal besser passte.


Eckhard Henscheid: "Dolce Madonna Bionda"

Unter allen Fabeltieren ist mir der Picaro am liebsten, weshalb hier die pikaresken Romane anteilmäßig in CDU-Stärke vertreten sind. Wie Sterne und Thelen gehört auch Henscheid ins fidele Detachement derer, die sich der Selbstbefreiung des Schreibens aus der Klammer einer vermeintlichen Publikumserwartung, aber sonst nie verschrieben haben. Wenn der "Joseph" Manns Nibelungen-Tetralogie ist, dann ist die süße Blondfrau Henscheids "Cosi fan tutte". Der 46jähriger Feuilletonist Dr. Bernd Hammer befindet sich auf der Suche (wobei das schon fast zuviel gesagt ist; er befindet sich einfach) nach einer Verflossenen, und zwar in Bergamo. In diesem Roman passiert praktisch nichts, doch nie hat ein Autor so liebevoll, penibel und hochkomisch dargelegt, dass der Mensch, wie intelligent er auch sein mag, die meiste Zeit seines Daseins dazu verdammt ist, Schwachsinn zu denken. Dieser Schwachsinn erblüht Satz für Satz, und jeder dieser Sätze ist ein literarisches Unikum. MK am 15. 10. 2017

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