Stationen

Donnerstag, 12. Oktober 2017

Pädagogie

Une éducation publique deviendrait contraire à l’indépendance des opinions –
Öffentliche Bildung stünde im Widerspruch zur Meinungsunabhängigkeit
Jean-Marie Condorcet (1745-1794)
Es war an einem Maitag vor vier Jahren. Mein 16-jähriger Sohn Leon kam wieder einmal wütend aus dem Unterricht des Staatlichen Gymnasiums in Biel nach Hause. Sein Geografielehrer gab der PAM-Klasse, (PAM= Physik und angewandte Mathematik) – es handelte sich übrigens um eine reine Knabenklasse – eine Lerneinheit zur drohenden Klimakatastrophe. Mein Sohn erklärte seinem Lehrer, dass die Temperaturen in den letzten 15 Jahren nicht mehr gestiegen seien und dies obwohl der CO2-Austoss in diesem Zeitrahmen um 75 Prozent zugenommen habe. „Und heute“, schnaubte er missmutig, „habe ich ihm die Forschungsergebnisse der NASA als Beweis mitgebracht, worauf dieser meinte, vielleicht stagniere das Klima ein bisschen…“
Die Renitenz meines Sohnes in Sachen „Klimaunterricht“ kommt nicht von ungefähr. In der 5. Klasse musste er den Film von Al Gore „Eine unbequeme Wahrheit“ über sich ergehen lassen, zusammen mit 16 Klassenkameraden, alle zwischen 10 und 12 Jahren alt. Pikant: Nur drei von ihnen brachten Deutsch als Muttersprache mit. Während die vielen Migrantenkinder deshalb kaum etwas mitbekamen, fragte mich Leon zu Hause immerhin, was CO2 sei. Ich hiess ihm, ein kleines Feuer im Garten vorzubereiten. Wir wogen die zu verbrennende Holzmasse, zündeten das Feuer, fingen den einen Teil des Rauchs auf einer Glasplatte ab und wogen anschliessend die Asche. „Das ist jetzt alles in der Luft?", fragte er.
Mein Sohn wurde daraufhin ein Klimaskeptiker. Er vernetzte sich mit anderen Kritikern und bombardierte seine beiden grünen Eltern immer wieder mit den neusten Erkenntnissen der kritischen Klimaforschung. An jenem Maitag war der inzwischen gestandene Gymnasiast allerdings bereits in der Lage, anständige Texte zu schreiben. Deshalb beschloss er, selber Initiator einer Schülerzeitung, in die Stapfen seines Vaters zu treten und schrieb seinen ersten Artikel für eine richtige Zeitung. Er entschied sich für die Weltwoche, in welcher auch Henryk M. Broder, sein Vorbild, Kolumnist ist.
In seinem Artikel war unter anderem zu lesen: „Ich merke, wie dieser Ökounterricht  ohne wissenschaftlichen Background immer mehr das Gegenteil bewirkt, von dem was er eigentlich will.. Wir machen uns zurzeit einen Spass daraus, den Lehrern zu widersprechen. Und es ist erstaunlich, wie schnell dann die Argumentation von wissenschaftlichen Fakten zu Moralvorstellungen wechselt.
Die Reaktion im Gymnasium war furchterregend. Es folgte eine mehrstündige Lehrerkonferenz, in dem die Wogen hochgingen. Der Direktor der Schule rief mich noch am selben Abend persönlich an und meinte: „Jetzt werde es gefährlich!“ und er fügte noch hinzu: „Der Artikel deines Sohnes ist dümmlich!“ Wir Eltern erhielten eine Vorladung und mussten bei der Schulleitung mit unserem 16-jährigen Sünder antreten. Die Weltwoche stand Gewehr bei Fuss. Meine Frau hatte den klugen Gedanken, sich schnell noch die Leitideen der Institution auszudrucken, wo es unter dem Stichwort Kritikfähigkeit hiess:
Unsere Schule ist ein Ort kritischen Denkens
Die Schülerinnen und Schüler lernen, Argumente abzuwägen, unterschiedliche Positionen einzunehmen und Selbstverständliches zu hinterfragen.
Die Lehrenden sind Vorbilder in dieser Haltung.
Damit war das Thema erledigt. Man ermahnte meinen Sohn lediglich noch, das Gespräch zu suchen und nicht einfach an die Presse zu gehen. Und ja, natürlich die „Weltwoche“, das sei ja wirklich nicht eine Zeitung für ihn. Er nahm die Direktion beim Wort und fragte, ob er eine Entgegnung auf den im Lehrerzimmer hängenden Verriss gegen ihn schreiben und in der Hauspostille veröffentlichen dürfe. Die Leitung willigte ein, unter der Bedingung, dass er ihnen den Text vorher zeige, was er auch tat. Er erhielt ihn eine Woche später zurück. Korrigiert und um ein Drittel gekürzt. Dann gab er auf.

In der 4. Klasse im Wald Bäume umarmen

Nicht nur Leon, mein jüngster Sohn, sondern auch meine beiden anderen Zöglinge durften die Segnungen dieses neuzeitlichen Umweltunterrichts geniessen. So musste sein älterer Bruder im Naturkundeunterricht der 4. Klasse im Wald Bäume umarmen und wurde, als er dies nicht machen wollte, in das Klassenzimmer zurückgeschickt. Ausserdem erhielt ich von dieser Lehrerin auch noch einen mahnenden Brief, fortan das Pausenbrot nicht mehr in Alufolie zu verpacken. Diese „Schandtat“ ist mir übrigens tatsächlich passiert. Mir war am Morgen die Plastikfolie ausgegangen. Der älteste unserer Söhne durfte zu Zitaten aus der Rede des Häuptlings Seattle Bilder malen. „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“ Sie erinnern sich, diese indianische Predigt wurde vom amerikanischen Filmregisseurs Ted Perry im Jahre 1972 frei erfunden.
Immerhin, er hatte als einziger der drei Burschen eine besondere Erfahrung in seinem Grundstufen-Naturkundeunterricht gemacht. Er hatte eine männliche Lehrperson und durfte bei diesem – auch das ein pädagogisches Alleinstellungsmerkmal – so etwas wie einen Stromkreis basteln.
Noch schlimmer erging es der Tochter eines Freundes, dem „Quicksilver“-Importeur in der Schweiz. Sie wurde von der Lehrerin aufgefordert, vor die Klasse zu stehen und sich dafür zu rechtfertigen, dass dieses Kleidungsstück vermutlich mit Kinderarbeit hergestellt wurde.
Letzthin geriet mir wieder einmal die BNE-Charta in die Hände. BNE heisst „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Mitunterzeichnet wurde sie von einem gewissen Herrn Beat Zemp, Präsident des Schweizerischen Lehrerverbandes. Herr Zemp und die anderen Unterstützer machen sich Sorgen um die Umwelt. Herr Zemp, die Dozentinnen in den Pädagogischen Hochschulen, die Beisitzer in den Thinktanks diverser Umweltverbände, Bildungspolitiker in den Parlamenten sowie die zahlreichen mit staatlichen Geldern subventionierten Mahnerinnen in den Gremien der Agenda 21 drängen in den florierenden Bildungsmarkt. Deshalb steht in dieser Charta auch: „Zur Förderung einer Nachhaltigen Entwicklung ist es von zentraler Bedeutung, BNE im Lehrplan 21 entsprechend zu berücksichtigen.“ Vor allem der Wachstumszwang unserer auf Ausbeutung der Umwelt beruhenden Wirtschaftssystems ist Herrn Zemp ein Dorn im Auge. Das gilt natürlich nicht für das Wachstum der Löhne, die der Lehrerverband zurzeit wieder tüchtig anmahnt.

Von der Befähigung autonome Entscheidungen zu treffen

Über den Begriff der Nachhaltigkeit haben die Autoren Miersch und Maxeiner in ihrem köstlichen Buch „Alles Grün und Gut“ alles gesagt: „Es mag eine kosmische Kränkung sein, aber das Leben ist nicht nachhaltig und die Natur schon gar nicht. Natur bedeutet ständige Unnachhaltigkeiten und Anpassung an neue Umstände, ihr Erfolgsprinzip heisst „Evolution“, also permanente Veränderung. Hätte sich die Natur vor ein paar Millionen Jahren entschieden nachhaltig zu sein, dann dominierten heute noch die Dinosaurier auf unserem Planeten.“
So weit so gut. Als Biologielehrer, der sich durchaus auch Sorgen um die Umwelt macht, der auch wahrnimmt, dass sich unser Klima verändert, stehen angesichts dieser Entwicklung aber andere Werte zur Disposition. Dabei geht um Wissenschaftlichkeit, um Zweifel, um Forschungsgeist, vor allem aber geht es um Bildung.
Manchmal lohnt sich ein Blick über die Grenzen. In Frankreich wie auch in der Romandie zum Beispiel unterscheidet man zwischen „instruction“ und „éducation“, also zwischen Bildung und Erziehung.  Diese Haltung geht auf den Aufklärer und liberalen Denker Jean-Marie Condorcet (1743 – 1794) zurück, der schon vor über 200 Jahren mahnend schrieb: „L‘école doit se borner à l’instruction“ (Die Schule ist der Bildung verpflichtet). „Erziehung zielt auf das Ganze, auf den Menschen als solchem; „instruction“, also der Unterricht ist progressiv, geht von Element zu Element, erzieht natürlich dadurch, aber nicht den Menschen als ganzes (parce que une éducation publique deviendrait contraire à l’indépendance des opinions). Mit dem Unterricht soll der Schüler befähigt werden, sich zu entwickeln und autonome Entscheidungen zu fällen.
Die Absicht mit Unterricht Gesinnung zu erzeugen, lehnte Condorcet, ein Revolutionär der ersten Stunde, ab. Man sollte diesen famosen libertären Geist auch an den pädagogischen Hochschulen des deutschsprachigen Raums einmal hervornehmen und ihn mit den angehenden Lehrkräften diskutieren. Jean-Marie Condorcet hat im französischen Sprachraum denselben Rang wie Pestalozzi oder Humboldt bei uns. Seine unbeugsame Haltung gegen die Tyrannei des Denkens und gegen die Indoktrinierung brachte ihn auch in Opposition zu den wilden Revolutionären um Robespierre und kostete ihn schliesslich das Leben.
Heute würde er sagen: Gesinnung zu erzeugen ist keine Aufgabe einer öffentlichen Schule und darf deshalb auch kein Lehrplanziel sein. Wird die Bekundung des guten Willens zudem noch als Kompetenz gehandelt, als prüfbare und messbare Kompetenz bewertet, dann enden wir bei einem Erziehungsbegriff mit totalitärem Anspruch.
Beim Durchforsten der Homepage von Ecucation 21 einem Ableger der Agenda 21 kann einem der kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen. Derart offensichtlich ist hier der Versuch, kleine Kinder mit ideologiebehafteter Weltrettungsprosa in einen homini naturae zu verwandeln. Und was noch schlimmer ist: Auf der Strecke bleiben in der Regel Naturexpeditionen, Morgenspaziergänge, Vogel- und Wiesenblumenbestimmung, physikalische Experimente, Neugier und Forschergeist. Meine Söhne haben in der Unterstufe nie eine Blumenwiese betreten, keine Pflanzen bestimmt, keine Tiere im Klassenzimmer gehalten. Sie wurden mit Arbeitsblättern und Dok-Filmen bombardiert, mit Unterricht, der keine offene Lösungsstrategie zulässt, weil er mit massiven Glaubenssätzen behaftet ist.

Eine Perversion von Unterricht

Es ist eine Perversion von Unterricht, die sich da abspielt, eine Umkehr aller pädagogischen Werte, welche auf dem Findungsgeist der Kinder beruht. Und es ist zutiefst antiwissenschaftlich, denn die Wissenschaft ist immer der letzte Stand des Irrtums, Zweifeln und Kritik sind Pflicht. Deprimierend ist auch, wenn man sieht, dass es offensichtlich Geld gibt, um die vielen Menschen aus dem realen Unterricht wegzulocken, damit sie solche Lernprogramme in die Welt setzen und mit einem aktiven Lobbying deren Implantierung in den Unterricht vorantreiben, während die Praxis unter einem chronischen Geldmangel leidet.
Vermutlich würden viele dieser Möchtegern-Weltenretter den Anforderungen eines modernen Unterrichts auch gar nicht standhalten. Deshalb widmen sie sich ihrer Bestimmung: Die Berufung als umwelterziehender Schreibtischtäter. Das ist bedeutend bequemer, als mit 16 pubertären Schülern Vogelstimmen zu lauschen. Ein Trost dabei ist die Erfahrung, dass solche scholastischen Unterrichtsmethoden sich in der Regel als wirkungslos erweisen. Je älter die Kinder werden, desto mehr wehren sie sich gegen Bevormundung und Indoktrination.
Wie es auch bei Leon und seinen Mitschülern der Fall war. Für ihn war übrigens die Geschichte nach dem direktoralen Freispruch noch nicht zu Ende. Sein Geschichtslehrer, im Nebenamt auch noch Artikelschreiber der linken Wochenzeitung WOZ, überschüttete ihn zu Beginn der Lektionen jeweils mit Häme: „Aber vielleicht passt ja das, was ich sage diesem Herrn da hinten auch nicht und ich lese es in der Zeitung!" Wir nahmen ihn schliesslich aus der Schule und schickten ihn in eine internationale Schule, wo er das IB (internationale Matur) machen konnte.
Heute studiert er mit einem Stipendium in London am Imperial College «electrical Engineering» und ist glücklich. „Ich mag nicht über Gendertoiletten und Nestlé diskutieren. Ich will studieren und forschen.“ Grossbritannien hat drei Universitäten mit Weltruf. Eine davon ist das Imperial College. Mit dem Brexit hat Europa die einzigen Hochschulen mit Weltruf auf einen Schlag verloren.
Und was die Nachhaltigkeit betrifft: Zu meinem Geburtstag schenkten mir die Söhne eine Kiste Bier mit einer Karte: «Wenn die letzte Ölplattform stillgelegt und die letzte Tankstelle dichtgemacht hat, wirst du merken, dass man bei Greenpeace kein Bier kaufen kann.»
Alain Pichard war Grünliberaler Stadtrat in Biel /Schweiz und ist seit 40 Jahren Lehrer in sozialen Brennpunktschulen.
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