Stationen

Donnerstag, 30. November 2017

Mit umgekehrtem Vorzeichen wieder aktuell


Franconia capta ferum vincitorem capiens



Der Wind dreht sich ein bisschen

Der Wind dreht sich – das war am vergangenen Wochenende erneut zu spüren. Am Freitag konnte die Bibliothek des Konservatismus (BdK) den fünften Jahrestag ihrer Eröffnung mit prominenten Festrednern feiern, am Samstag wurde zum zehnten Mal der Gerhard-Löwenthal-Preis verliehen. Noch nie waren unter den Gästen so viele Abgeordnete und Journalisten unterschiedlicher Publikationen vertreten. Es herrscht Aufbruchstimmung.
Bei der Podiumsdiskussion in der BdK zum Thema „Neue Medien“ hob der Publizist Roland Tichy hervor, wie stark eine Gegenöffentlichkeit durch soziale Netzwerke, Blogs und neue Zeitschriftenformate inzwischen geworden sei. Etablierte Politik und alteingesessene Verlage sind hypernervös wegen der sich verschiebenden Gewichte, der Wanderungsbewegungen von Lesern und Wählern.
Pioniere der Gegenöffentlichkeit
Ein erfahrener Journalist des Print-Gewerbes und Vorreiter dieser Gegenöffentlichkeit, Bruno Bandulet, wurde mit dem Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreis ausgezeichnet. Die Laudatio auf ihn hielt Manfred Brunner. Beide sind politische und publizistische Pioniere des Kampfes gegen den Euro und die vorschnelle Preisgabe nationaler Souveränitätsrechte an Brüssel.
Anba Damian, Bischof der koptischen Christen in Deutschland, würdigte die Preisträgerin Sabatina James, die insbesondere für ihren publizistischen Einsatz für verfolgte Christen geehrt wurde. Wie brisant der islamistische Terror ist, unterstrich der Stunden zuvor verübte schwere Anschlag des IS auf der Halbinsel Sinai, bei dem über 300 Menschen getötet wurden. Der Bischof mußte deshalb die Feier vorzeitig verlassen. Sabatina James selbst konnte den Preis nicht persönlich entgegennehmen, weil sie sich wegen Morddrohungen nicht mehr in Deutschland aufhalten kann.
Wichtig für den Diskurs
Von Martin Mosebach wird im kommenden Jahr ein Reisebuch, „Die 21“, erscheinen, das von den 21 koptisch-christlichen Märtyrern erzählt, die von IS-Terroristen 2015 in Libyen enthauptet wurden. Bischof Damian führte ihn zu den Familien der Ermordeten. Das Buch will die Namenlosen dem Vergessen entreißen. Eine Leserin schilderte am Rande empört, wie sie einen katholischen Bischof auf das Thema Christenverfolgung angesprochen habe. „Es sind doch nur Kopten“, habe dieser geantwortet und sich desinteressiert weggedreht. Das muß sich ändern!
Manfred Brunner hob bei Bruno Bandulet eine besondere Eigenschaft hervor. Dieser habe im anderen Menschen nie „nur das eine gesehen, was er im Moment verkörpert“, sondern sei immer bereit gewesen, „ihn als Ganzes zu sehen und auch in seinen mißglückten Aktionen noch als ein Gegenüber“, als einen Gesprächspartner, der wichtig für den Diskurs sei. Ein bedenkenswerter Appell, sich nicht in simple Feindbilder und einfache Erklärungen zu flüchten.  Dieter Stein

Was genau zeichnet den Konservatismus eigentlich aus? Warum vermeiden es so viele, den Begriff zu gebrauchen oder sich offensiv zu ihm zu bekennen? „Ist es die Last der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die ihm die Legitimität endgültig abgesprochen hat“, fragt auch der Politikwissenschaftler Peter Graf von Kielmansegg (80). „Ist es der konservative Sündenfall, als bloßer Steigbügelhalter Hitlers zu gelten?“ Die Antworten auf die Fragen versucht der emeritierte Professor in der bis auf den letzten Platz gefüllten Bibliothek des Konservatismus selbst zu geben.
„Der Konservatismus ist tief verwurzelt im konstitutiven Element der Moderne: Der Bewegung“, stellt Kielmansegg fest. Dessen Ambivalenz fordere ein „radikal immanentes Weltbild durch permanente Verfügbarkeit“, was zur Überforderung des einzelnen Menschen führe. Dies setzte als Gegenpol fast zwangsweise Kräfte der Beharrung frei, weshalb es entscheidend sei, die Dynamik der Moderne genauer zu verstehen. Der Politikwissenschaftler unterteilt sie in drei Bereiche: Rationalität, Individualität, und Egalität.
Dynamik der Moderne weist drei Merkmale auf
Die Rationalität der Moderne habe eine Wissensrevolution hervorgerufen, die Segen und Fluch zugleich sei. Eine schier unglaubliche technische Entwicklung habe der westlichen Welt Wohlstand und Reichtum gebracht. Doch der Preis dafür sei hoch. „Der Mensch wird durch die Wissenschaft zum Schöpfer seiner selbst“, konstatiert der gebürtige Hannoveraner und warnt eindringlich: „Das Internet hat die Kraft, den Menschen gänzlich zu unterwerfen.“
Gleichzeitig habe der Anspruch auf Individualität ein auf sich selbst fixiertes Objekt geschaffen, das im Widerspruch zu seinen tradierten Normen und Verhaltensdispositionen stünde. Verläßliche Bindungen, die dem Einzelnen Halt geben könnten, würden der Menschheit immer mehr abhanden kommen. Erschreckend sei deshalb die wachsende Zahl derer, bei denen „kein Platz für ein Kind ist“. Das Publikum nickt zustimmend.

Als dritten Punkt der dynamischen Moderne führt Kielmansegg die Egalität an, welche sich in rechtliche Gleichheit und faktische Ungleichheit, die mit den Mitteln der Politik beseitigt werden müsse, unterteilt. Gerade in der apriorischen Gleichheitsforderung der heutigen Zeit läge jedoch ein totalitäres Element. Die moderne Gesellschaft nutze Schlagwörter wie Fremdenfeindlichkeit oder Sexismus, um politische Gegner wegen vermeintlich rückwärtsgewandten Ansichten mundtot zu machen. Der moralische Furor habe den „Logos“ ersetzt, bekundet Kielmansegg.
Der Konservatismus als warnender Begleiter
Somit könne der Konservatismus als Versuch gedeutet werden, die Moderne vor sich selbst zu retten. „Geschehenes ist jedoch nicht umkehrbar“, betont der Politikwissenschaftler und erntet dafür vereinzelte Unmutsäußerungen. Der Konservative solle sich vor allem als warnender Begleiter verstehen, nicht etwa als Reaktionär.
Das sehen offenbar nicht alle Zuhörer des Auditoriums so: „Ist es nicht gerade das Zurückdrehen, was den Kern des Konservativen ausmacht“, fragt der AfD-Politiker Nicolaus Fest und nennt die „Ehe für alle“ als mögliches Beispiel. Doch darauf will sich Kielmansegg nicht einlassen. Die „skeptische Begleitung der Moderne“ bleibe das entscheidende Kriterium, um eine Gesellschaft nachhaltig zu beeinflussen. Mit lautem Beifall wird er anschließend von der Bühne verabschiedet.  Björn Harms

"Der Progressive denkt immer an morgen, der Konservative immer an Übermorgen." Giuseppe Prezzolini


50 Jahre bekennerische Obsessionen

Seit den Ausschreitungen am Rande des G20-Gipfels in Hamburg hat unübersehbar ein kritischer Diskurs zum linken Radikalismus eingesetzt. Zum Verständnis dieser durch Fundamentalopposition zum demokratischen Verfassungsstaat und in ihrer extremistischen Ausprägung durch Bereitschaft zur Gewalt gekennzeichneten Strömungen können auch Untersuchungen zu ihrem Umgang mit Musik beitragen.
Gleichwohl liegen bislang weit weniger Studien vor als zur rechtsextremistischen Musik. Dies ist erstaunlich angesichts der ungefähr gleichen Gewaltintensität in beiden Lagern. Die vorhandene kulturwissenschaftliche Literatur zur Musikpolitik der Linken leidet häufig an einer distanzlosen Haltung und an der Unkenntnis der fundamentalen Arbeiten zur politischen Musik von Vladimir Karbusicky, Wolfgang Suppan und Helmut Brenner. Die Politologie, zumal die Extremismusforschung, ist erst kürzlich auf Texte und Wirkung linksextremer Musik aufmerksam geworden.
Liedtexte werden seit Jahrtausenden als effektives Mittel der Publizistik eingesetzt. Die Idee, eine politische Positionierung mit einem Musikstil zu verbinden, ist dagegen relativ neu. Die Kommunistischen Partei der USA musste mit ihrem Versuch, durch ländliche Banjoklänge das städtische Proletariat zu agitieren, kläglich scheitern. Dafür verdanken wir ihr ein international wirksames Stilfeld, das nicht zuletzt das Idiom der linksalternativen Folkbewegung der 1970er Jahre geprägt hat.
In radikaleren Milieus jener Zeit hörte man dagegen mehr die parteitreuen Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp und (zeitweise) Hannes Wader sowie Wolf Biermann oder die österreichische Linksrock-Band Die Schmetterlinge. Bei all diesen ist die Verherrlichung von Gewalt sublimiert, sei es historisierend oder exotisierend. Weiter geht dagegen die feministische Folkgruppe Schneewittchen, die bereits die Waffen der Gegenwart besingt: „Komm reiß auch du ein paar Steine aus dem Sand“ (Unter dem Pflaster liegt der Strand , Text und Musik von  Angi Domdey)
Von einer höheren Extremismusintensität zeugen die Hassparolen der ursprünglich im Umfeld des Linksterrorismus angesiedelten Ton Steine Scherben, deren Titel heute auch bei rechtsextremistischen Veranstaltungen ab- oder nachgespielt werden. Manche organisierten Maoisten durften ausschließlich neuchinesische Opern oder kommunistische Kampflieder der Weimarer Zeit hören. Das Eislersche Bürgerkriegsrepertoire wurde generell in zahlreichen Universitätsstädten von linken Blasmusikgruppen gepflegt – was freilich ohne eine solide bürgerliche Musikerziehung der Protagonisten nicht funktioniert hätte.

Scheibenklirren als „Bekanntmachungsschall“

Zu den erhebendsten Klangerlebnissen aktiver Linksextremisten gehören damals wie heute scharf akzentuierte Sprechchöre, als paramusikalisches, rituelles Attribut politischer Demonstrationen, wie auch das effektvolle Klirren von Schaufensterscheiben. Das auf den Zerstörungsakt regelmäßig folgende Triumphgeheul signalisiert, dass hier kein Unfall geschehen oder heimliche Sabotage verübt worden ist, sondern ein öffentliches Ritual stattfindet. Es ist also „Bekanntmachungsschall“ (Wolfgang Suppan).
Musikalische Manifestationen von Rechts- und Linksextremismus gebrauchen akustische Indices der Zerstörung, durch entsprechende Handhabung von Schlagzeug und E-Gitarre, sowie durch eine hassverzerrte Stimmgebung. Beides wird besonders im Punkrock kultiviert. Dessen Allianz mit der Linken war dabei keine rein musikalische. In zahlreichen besetzten Häusern der 1980er Jahre stellten die Punkrocker den inoffiziellen Ordnungsdienst, zuständig für die Abwehr von Drogendealern und selbst für die Einhaltung der Nachtruhe – wie dies der Verfasser dieser Zeilen erfahren musste, als ihm am Eingang des Freiburger Schwarzwaldhofs ein prominenter Vertreter der örtlichen Punkszene (kaum später als 22.00 Uhr!) nachdrücklich anhielt, das Singen und Gitarrespielen in kleinstem Kreis bei bescheidener Lautstärke einzustellen.

Die narzisstisch zelebrierten Chiffren des Hasses sind es, die linksextreme Rockmusik deutlich von den älteren Gattungen des chorischen Kampfliedes und des Sprechchores unterscheiden, welche auf klare Artikulation der Textbotschaft setzen. Durch seinen aggressiven Habitus wird der Punk in Deutschland zuweilen als (imaginiert) proletarischer Gegenentwurf zum sanften Männlichkeitsideal der Folkbewegung gedeutet. In ähnlich plausibler Weise hat kürzlich der kanadische Psychologe und Kulturkritiker Jordan Peterson das starke Interesse weißer Jugendlicher am Hip Hop erklärt als ”a necessary corrective to the insistance that the highest moral virtute for a modern man is harmlessness“ (Peterson, 2017).

Eine Feier des moralischen Narzissmus

Ein spezifisch linksextremes musikalisches Idiom ist gegenwärtig nicht erkennbar: „Erst durch die Texte wird die Musik zu linksextremistischer Musik“ (Ulrike Madest). Traditionell folgen diese Texte dem von Vladimir Karbusicky herausgearbeiteten Vier-Akte-Schema des Kampfliedes:
  • Reduktion der Realität auf die suggerierte Kampfsituation, Konfliktbildung
  • Meditation, Erkenntnis unserer Not und Schwäche, ethisch begründeter Gruppierungsappell
  • Logische Begründung des Kampfes durch die Dramatisierung des Feindes, seiner Untaten; Imagination der Zusammenstöße
  • Richtlinien, Zukunft, Erlösungsversprechung
Die Zielvorstellungen des heutigen Linksextremismus erschließen sich hierbei in den Liedtexten kaum. Von ihrer extremen Verschwommenheit zeugen schon die verzweifelten Bemühungen von Journalisten, aus dem Milieu der Autonomen irgendwelche Auskünfte zu gewinnen, die über Plattitüten wie „andere Gesellschaft“ oder „gerechte Welt“ hinausgingen. Erkennbar ist dagegen die Einbildung einer höheren ideellen Mission. Peter Schneider hat den „von einer Idee getriebene[n] Verbrecher“ treffend charakterisiert: „Die einzige Befriedigung, die er bei seinen Taten erfährt, ist die Feier seines selbst erfundenen politischen Auftrags und seines moralischen Narzissmus“ .

So dient linksextreme Musik in erster Linie der moralischen Suggestion, der gefühlsmäßigen Selbstbestätigung in einer wirren Gedankenwelt. In einem öffentlichen Umfeld, in dem zunehmend bis in die Parlamente hinein die zur Schau gestellte Emotion das politische Argument ersetzt, kann dies durchaus verfangen. Eine kritischere und systematischere Beobachtung linksextremer Musik ist deshalb im Interesse der offenen Gesellschaft und der sie tragenden Verfassungsordnung bitter nötig.
Ulrich Morgenstern, Jahrgang 1964, ist Professor  für Geschichte und Theorie der Volksmusik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Nachtrag des Autors und Textbeispiele
Wenn ich von sublimierter Gewaltverherrlichung spreche, nenne ich Namen von durchaus widersprüchlichen Interpreten, die keineswegs durchgängig dem Genre der „Hassmusik“ (Ulrike Madest) zuzuordnen sind. Ich erlaube mir dennoch einige Textbelege zur Begründung meiner These anzuführen. Dies scheint mir schon deswegen nötig, da zahlreiche Texte und Videos heute auf extremistischen Plattformen kursieren und von den genannten Musikern lediglich Wolf Biermann durch eine kritische Reflexion seiner frühen Positionen in Erscheinung getreten ist – wobei seine Rechtfertigung des Krieges und Ästhetisierung der Gewalt schon von vornherein eine innere Zerrissenheit erkennen lässt.

Franz Josef Degenhardt / Degenhardt Live (1969)

„Rat an einem jungen Sozialisten“

Aber wenn du mich fragst, Junge, soll ich gehen in die Armee?
Kann ich dir nur raten, Junge, wenn du stark genug bist, geh.
Stark genug sein, das ist wichtig. Unterschätz die andern nie,
Denn die waschen die Gehirne. Das Geschäft verstehen sie.
Lern mit ihren Waffen kämpfen, wir gebrauchen sie einmal.


Dieter Süverkrüp /Ça ira – Lieder der französischen Revolution 1. Gesungen von Dieter Süverkrüp (1973)

Ah das geht ran
Ah, das geht ran, das geht ran, das geht ran.
Die Aristokraten an die Laterne


Hannes Wader /Hannes Wader singt Arbeiterlieder (1977)
Lied vom Knüppelchen
Doch es kommt noch der Tag, wenn der Bauer erwacht, reckt und streckt die gebundenen Glieder, und er schlägt seinen Feind, der ihn elend gemacht, mit dem Knüppel zu Boden darnieder.
Auch das von Wader weitestgehend unverändert gesungene wilhelminische (zeritweise kommunistische, zeitweise nationalsozialistische) Kriegslied „Auf, auf zum Kampf“ ist hier zu nennen. Die hippieske Rumpelgitarre im Kombination mit dem Klatschen der indoktrinierten Menge erzeugt eine unfreiwillige Komik.

Wolf Biermann / Mit Marx- und Engelszungen(1981)

Genossen, wer von uns wäre nicht gegen den Krieg (alle Strophen)

Die Schmetterlinge (Proletenpassion 1977)
Kampflied der Bauern (2. Die Bauernkriege)

Tausend Haufen sind wir jetzt und schleifen unsre Sensen,
Schmieden sie zu Spießen um, die in der Sonne glänzen,
Tragen sie zum Bischofssitz und zum Herrenhaus,
Dort bricht der Abend heute an und das Zittern aus.


Marianne (3. Die Revolution der Bürger)

Frauen, packt die Pflastersteine
Macht den fetten Ärschen Beine
Haut sie und gebt kein Pardon!


Lied der Fragen (4. Die Pariser Kommune 1871)

Warum sind wir nicht nach Versailles marschiert
Damals am 18. März?
Den Feind entließen wir ungeniert
Und trafen nicht sein Herz.
Warum ließen wir die Heuchler frei
Und keiner schoß ihnen nach?

Literatur zum Thema:
Karbusicky, Vladimir: Ideologie im Lied. Lied Ideologie. Kulturanthropologische Strukturanalysen (Musikalische Volkskunde, Bd. II), Köln 1973.
Madest, Ulrike: Linksextremistische Musik, in: Gerhard Hirscher (Hrsg.): Linksextremismus in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven (= Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen. 95). Hanns-Seidel-Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, München 2014, S. 35–42.
Morgenstern Ulrich: Ritual – Epos – Tanz. Die deutsche Anti-AKW-Bewegung aus ethnomusikologischer Sicht, in: Lied und populäre Kultur (Song and Popular Culture), 54. Jahrgang, 2009, S. 273–310.
Der Autor zur Entstehung dieses Textes:
Vor einiger Zeit erbat die Redaktion des Musikforums, der Quartalszeitschrift des Deutschen Musikrates, von mir einen Beitrag zum Thema „Musik linker Protestbewegungen. Was hört der Schwarze Block?“. Ich willigte ein, unter der Voraussetzung, den Titel leicht abzuändern. Im November 2017 ließ mich die Redaktion wissen, dass mein Text „ein sehr interessantes und lesenswertes Themenfeld beleuchtet“, man sich jedoch nicht in der Lage sehe, ihn zu veröffentlichen: „Die im Musikforum veröffentlichten Beiträge haben einen formal und inhaltlich abweichenden Ansatz, der sehr stark auf die Zielgruppe des Musikforums ausgerichtet ist.“ Ich habe es mir erspart, mir Zielgruppe und „abweichenden Ansatz“ näher erklären zu lassen und freue mich, den Text auf der Achse des Guten zu publizieren.  Ulrich Morgenstern

Dieselbe prätentiöse, in sich selbst verliebte, moralische Eitelkeit und Anmaßung, die Morgenstern hier beschreibt, ist in der gesamten erklärtermaßen nicht der Unterhaltung dienenden Kunstproduktion verbreitet, von Alexander Kluge bis Ai Wei Wei.

Dienstag, 28. November 2017

Der letzte Rest Würde


Italiens Gewicht zwingt Europa in die Knie

Zeitgleich wenn auch nicht zusammen traten am vergangenen Sonntag Matteo Renzi und Silvio Berlusconi auf. Die beiden ehemaligen Ministerpräsidenten des mittelinken Partito Democratico und des rechten Bündnisses um Forza Italia versuchten - der eine in Florenz, der andere in Mailand - ihre Anhänger auf den Wahlkampf einzustimmen .

Im Frühjahr sollen die Bürger Italiens ihr neues Parlament wählen. Nach langer Zeit war eine Regierung ausnahmsweise die gesamte Legialsturperiode im Amt. 
Renzi schied vor einem Jahr aus dem Politikbetrieb aus, weil die Bürger seine ehrgeizige Verfassungsreform ablehnten. Zuvor hatte Renzi als PD-Parteichef seinen Parteikollegen Letta abgeschossen und ihn als Ministerpräsidenten ersetzt. Seit seinem Ausscheiden versucht Renzi seine Partei, einen höchst zerstrittenen Haufen aus ehemaligen linken Christdemokraten und Euro-Kommunisten, zu einen. Seit der Wahlschlappe in Sizilien strampelt sich Renzi verzweifelt ab. Sein Sonntags-Apell: Rückt zusammen. Er ist auf der Suche nach Partnern.
Silvio Berlusconi, der 1994 mit seiner national-konservativ-liberalen Forza Italia die Politik aufmischte, scheint es leichter von der Hand zu gehen. Bei den Regionalwahlen in Sizilien holte sein wiederbelebtes Bündnis „Centro Destra“, Mitte-Rechts, fast 40 Prozent der Stimmen. Um Forza Italia herum gruppieren sich die Lega und der sizilianische Ableger der inzwischen zerbröselten Rechtspartei Alleanza Nazionale sowie weitere rechtslastige Grüppchen.
Berlusconi geht davon aus, dass er auch bei den gesamtstaatlichen Wahlen im Frühljahr 40 Prozent holen wird. Ob er aber als Spitzenkandidat antreten darf, ist offen. Wegen einer gerichtlichen Verurteilung belegte das Parlament Berlusconi mit einem Bann. Er hofft nun auf eine positive Entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof.

Mehr Sex, weniger Steuern

Berlusconi wollte den starren und erstarrten Politik-Betrieb Italiens mit einer liberalen Revolution aufbrechen. Was von dieser Revolution übrig blieb: Sex-Parties mit Migranten-Kindern in seiner Nobel-Villa Arcore bei Mailand, seine Freundschaft mit dem ehemaligen lybischen Diktator Gaddafi und sein Männerbund mit Russlands Präsidenten Putin. Die angekündigte Modernisierung der italienischen Republik blieb eine Ankündigung.
Viele Wähler von Forza Italia wechselten in den vergangenen Jahren zur Liste Cinque Stelle von Beppe Grillo. Berlusconi will die abtrünnigen Wähler wieder zurückholen, bietet seine Allianz aus Mitte bis ganz Rechts als Alternative an. Er wirbt auch mit einem neuen Regierungsprojekt. In der 20-köpfigen Regierung sollen künftig nur mehr acht Politiker des Bündnisses sitzen, ansonsten Vertreter der Zivilgesellschaft. Berlusconi meint damit Unternehmer und Freiberufler.
Der inzwischen 81-jährige Berlusconi gibt sich kampfeslustig. Es sei ihm gelungen, Sizilien zu erobern, sein Bündnis liege jetzt klar vorne. Das sei sein Verdienst, ließ er die Öffentlichkeit wissen. Noch mehr sei möglich, deshalb werde er sich in den Wahlkampf stürzen. Seine Botschaft: Weniger Staat, weniger Steuern. Sein Konzept gegen die grassierende Steuerhinterziehung: Noch geringere Steuern.
Als einen ungemütlichen Gegner empfindet Berlusconi die Liste Cinque Stelle. Deren Spitzenkandidat Di Maio nennt Berlusconi einen Meteoriten, der stark glüht, aber am Ende verglühen wird. Di Maio wisse nicht, was Arbeit ist, spöttelt Berlusconi zurück. Die einzige Arbeit, die Maio verrichtet habe, sei Stadion-Wart beim SC Napoli gewesen, um gratis die Spiele anschauen zu können. Genüßlich verwies Berlusconi auf die erfolglose Arbeit der Bürgermeister von Cinque Stelle. Ob in Rom oder Turin und anderswo, die Bürgermeister von Beppe Grillo haben sich im Apparat gefangen. Der versprochene Aufbruch fand nicht statt.

Neue Parteien drängen ins Licht 

Während für Berlusconi Grillo und seine nicht fassbare „Bewegung“ ein Problem zu sein scheint, sind die ausgeschiedenen PD-Linken ein möglicher Stolperstein für Renzi. Auf der linken Seite versuchen zwei ehemalige PD-Parteichefs, Bersani und D´Alema, ihr Glück. Gemeinsam mit dem Kommunisten Nicola Fratoianni basteln sie an einem Links-Bündnis.
Bersani und D´Alema sind seit mehr als 50 Jahren in der Politik. Spuren haben sie keine hinterlassen. D´Alema, in der ehemaligen kommunistischen Partei ein grauer Apparatschik, war kurzzeitig Miniterpräsident. Statt den demokratiegefährdenden Interessenskonflikt von Berlusconi, Chef von Forza Italia und Eigentümer mehrerer TV-Sender, aufzubrechen, arrangierte sich der Kommunist mit dem Anti-Kommunisten. Bersani, ein ehemaliger Gewerkschafter, hatte vor fünf Jahren den Wahlkampf des PD total vermasselt und war nach dem knappen Wahlsieg unfàhig, eine Regierung zu bilden. Beide, D´Alema und Bersani, sind schlechte Verlierer, nörgelnde Jammerer.
Beide wollten nach ihren Niederlagen zurücktreten, beide machten weiter. Sie verweisen auf die kommunistische Gewerkschaft CGIL, welche die  zaghaften Arbeitsmarktreformen wieder zurückdrehen möchte, zusammen mit der entstehenden neuen Linken.

Gestandene PD-Politiker wie die ehemaligen Bürgermeister Fassino von Turin und Pisapia von Mailand appellieren an die alte neue Linke, in den PD zurückzukehren. Der ehemalige Ministerpräsident Prodi, in seiner Amtszeit von den linken Bündnispartnern ständig genervt, und sein Vize Veltroni, erfolgreicher Bürgermeister von Rom, fordern ebenfalls D´ Alema und Bersani auf, ihren linksideologischen Kampf gegen Renzi einzustellen. Nur eine geschlossene Reform-Linke habe eine Chance, warb Prodi um ein Ende des linken Familienstreits. Die Linke stellt sich taub, aus persönlichem Hass auf Renzi.

Ständig werden neue Parteien gegründet, Rifondazione Comunista, Sinistra Italiana, Partito Comunista, La Mossa del Cavallo, weitere Gründungen sind zu befürchten. 
Wahlen werden damit für die Linke nicht zu gewinnen sein. (Der ehemalige Chef des staatlichen deutschsprachigen Fernsehens von Südtirol)

Abgesehen davon, dass der Europäische Gerichtshof bereits entschieden hat, dass Berlusconi nicht für das Amt des Premierministers kandidieren kann (weshalb Berlusconi als graue Eminenz agieren wird und stellvertretend für ihn ein angesehener, konservativer Akteur, z.B. Leonardo Gallitelli oder Attilio Fontana, Spitzenkandidat sein wird), lässt Thomas Mayr die richtungsweisende Tatsache völlig unerwähnt, dass Berlusconi den Euro zu seinem zentralen Kampfthema gemacht hat, indem er ihn kürzlich zum Problem der Probleme deklarierte.

Zu beachten dabei ist, dass er sich nicht auf eine Politik des Ausstiegs aus der Eurozone festlegte. Mit anderen Worten, es geht nur darum, den Euro zum Sündenbock zu machen (es gehört zur forma mentis katholischer Bevölkerungen, nicht nach Ursachen, sondern nach vermeintlich Schuldigen zu suchen; und sei es ein unpersönlicher Schuldiger) und gleich dieses Kampfthema der 5Sterne-Bewegung zu entreißen, die es in den letzten Jahren für sich gepachtet hatte aber inzwischen bewiesen hat, nicht regierungsfähig zu (die Bürgermeisterin von Rom verkörpert als Galionsfigur der Bewegung diese Inkompetenz).

Ein Ablenkungsmanöver, wie es in Italien seit über 100 Jahren immer wieder nach dem selben Muster abläuft, das auch Mussolini befolgte, als er sich hinter der Nonbelligeranza verschanzte. Berlusconi wird versuchen, durch diese fiktive (aber erfolgversprechende) Kriegserklärung den italienischen Groll aufzusaugen, der andernfalls der 5-Sterne-Bewegung zugute käme. Er wird dabei nicht nur treffsicher austariert populistisch Themen setzen, sondern als Fels in der Brandung des Populismus auftreten. Er wird durch proeuropäische Positionen die 5-Sterne-Bewegung in Schach halten und sich in Europa als Garant der EU akkreditieren und gleichzeitig gegenüber Deutschland und Frankreich Forderungen geltend machen, um sich die Kampfthemen der 5-Sterne-Bewegung unter den Nagel zu reißen (ähnlich wie Merkel es mit den Grünen und der SPD machte: Entmachtung durch Umarmung).


Die Unschuld des ungefilterten Wahrnehmens


Früher, beispielsweise bei Tische mit einer hinreißenden Maid und vor dem Problem stehend, womit sie am eindrücklichsten zu unterhalten sei, hat unsereins immer die gereiften und gebildeten Herren dafür bewundert, was sie alles wussten, wen sie alles kannten, was sie alles zu erzählen hatten. Dabei ist es eine normale Sache – sofern man zu jenem Tausendstel zählt, das über eine frei flottierende Intelligenz verfügt, sich ein gewisses Interessenspektrum erschlossen und die Unschuld des ungefilterten Wahrnehmens bewahrt hat (besessen hat sie einmal jeder): Je länger du da bist, desto mehr weißt du, desto beschränkter kommen dir die juvenilen Klugscheißer vor; jener, der du selber warst, inclusive. Gott weiß nur deswegen alles, weil er von Anfang an dabei ist. Mit 80 bist du klüger als mit 40, sofern dein Gehirn nicht löchrig geworden ist, wie es der HERR weise eingerichtet hat (und die Gentechnik nun zu torpedieren versucht), damit eine gewisse Indolenz den körperlichen Verfall begleitet und vermutlich auch erleichtert. Wenn man 1000 Jahre alt würde, wüsste man nicht nur alles über seine präferierten persönlichen Interessensgebiete, sondern hätte auch alles begriffen und würde darüber wahnsinnig. Der Jüngling, der hinter den Vorhang zu Sais blickt, verliert deshalb den Verstand, weil es zuviel auf einmal für ihn ist. –

Übrigens würden bereits ca. 200 Jahre Erdenwandel ausreichen, um jeden Allerweltsliberalen in einen militanten Konservativen oder terroristischen Fortschrittsfeind zu verwandeln, weil er die kulturelle und technische Abräumgeschwindigkeit unserer Tachokratie nicht mehr ertrüge. Wer immer genetisch am Menschen herumwerkelt, sollte diesen Aspekt bedenken. Diese Gattung ist von ihrer mentalen Ausstattung nicht für die Unsterblichkeit geschaffen. Nur eine Intelligenz, die sich vom Herz, vom Zwerchfell, von den Hormondrüsen und von den Ganglien gelöst hat, vermag nach der Ewigkeit zu greifen. Der anderen verbleiben der Trost der Demenz und jener "sensorischen Herabminderungen", von denen Ludovico Settembrini gegenüber Hans Castorp spricht, welche – hoffentlich – den Abschied dermaleinst weniger schmerzhaft gestalten.


                                      ***


Ist es nicht eine göttliche Komödie, die uns die politische Klasse dieses Landes über ihre medialen Lautsprecher darbietet?

1. Aufzug
Am Wahlabend, nachdem die einstige Volkspartei ("Volk" ist keineswegs "viel", wie Benn an Klaus Mann schrieb, sondern ein Konstrukt, außer bei "Volkspartei" und ggfs. "Tätervolk"), nachdem also die SPD das schlechteste Ergebnis aller postbebelschen Zeiten (außer 1933) eingefahren hatte, tritt Martin Schulz zwar nicht auf den Balkon des Stadtschlosses, aber immerhin vor seine Genossen und verkündet unter frenetischem Jubel derselben, nun sei aber Schluss mit großer Koalition und der Zusammenarbeit mit den Christdemokraten. Die SPD ist frei! Zwischen seiner Partei und dieser CDU resp. dieser Kanzlerin, verkündet der Spitzensozi sodann in der "Elefantenrunde", sei das Tischtuch zerschnitten! Aber hallo! 

2. Aufzug
Die SPD ist draußen, melden die Medien, sie werde nun die Opposition anführen, gottlob als stärkste Oppositionspartei vor der AfD. Nur unter erheblichen mentalen Vorbehalten verbleiben die amtierenden SPD-Minister in der Regierung der amtierenden Kanzlerin. "Jamaika" sei jetzt angesagt, klare Sache, was denn sonst? Unsere Sonnenkanzlerin hat schon Elastischeres hingekriegt als ein schwarz-gelb-grünes Gruppenstretching. Diese Koalition ist im Grunde das, worauf die Republik seit Adenauer zusteuert. Schön, dass die FDP wieder mit von der Partie ist, der Christian hatte es im Wahlkampf den Rechtspopulisten gezeigt, hart in der Sache, aber demokratisch bis in die Dreitagebartspitzen. Und Schwarz-Grün, das lag ja seit Jahren auf der Hand, da passte ja nun wirklich kein Blatt irgendeines CDU-Wahlprogramms aus Olims Zeiten mehr dazwischen. Die Zukunft verläuft so: Die Weltkanzlerin führt, die "Jamaika"-Truppe nickt ab, die Grünen sprechen den moralischen Segen, die rote Opposition applaudiert, da mag doch die AfD ruhig maulen, das melden wir gar nicht erst. Die demokratische Willensbildung im besten Deutschland, das es je gab, läuft weiter wie geschmiert, manchmal sogar ohne "wie".

3. Aufzug
Was ist passiert? Lindner verlässt die Koalitionsverhandlungen! Kein Jamaika! Er ist gar keiner von uns, sondern ein gelber Haider! Beim Möllemann! Das hatte man aber ahnen können! Müssen! Das war doch von vornherein klar! Von wegen offene Rechnung mit Merbkel wegen ihres Koalitionsbruchs zweitausendweißnichtmehrgenau. In der Stunde der Not – Gauland und Weidel nicht mal mehr ante portas, sondern intra muros! – lässt die FDP wegen alter Kamellen das Mutterland im Stich. Linder, der Lump!

4. Aufzug
Was nun? Merkel könnte eine Minderheitenregierung bilden. Mit den smarten, trendigen Grünen. Diese Regierung würde wenigstens nicht von der AfD toleriert werden. Man darf sich doch unmöglich von diesen Volks-, quatsch, Toleranzfeinden tolerieren lassen! Wir reden überhaupt viel zu viel über die AfD! Kann man die nicht ignorieren? Schade, dass die SPD sich so eindeutig gegen die GroKo bekannt hat. Sozialdemokraten sind keine Lindners, die stehen zu ihren Versprechen! Was heißt, Lindner hat gar niemandem etwas versprochen? Wer will das wissen? Aber halt, was hat Schulz eben vor seinen Genossen und von diesen heftig beklatscht gesagt? Wenn es besser für die Bürgerinnen und Bürger ist, dann halten die Sozialdemokraten das Wort, das sie den Bürgerinnen und Bürgern gegeben haben. Dann reichen sie die Hand zum Koalitionsbund, ob nun Merkel oder Pieck, Hauptsache fortschrittlich und gut für die Menschen da draußen.

5. Aufzug
Große Koalition, wir haben zwar nicht davon geträumt, weil dann die Grünen nicht mitregieren und der Planet zurückschlägt, aber irgendwie war es ja von Anfang an klar. Eigentlich können Schulz und Merkel gut miteinander, wie ein altes Ehepaar. Jetzt muss nur noch die Parteibasis auf Linie gebracht werden, weil die mitunter schwer von Begriff ist. Aber der Martin hat schon ganz klar einen Wahlkampf für die Vizekanzlerschaft geführt, das konnte man merken. Nun übernimmt er Verantwortung, was die Kanzlerin schon lange tut, hat sie nach dem Lindner-Verrat ja gleich dreimal gesagt. Auch die amtierenden SPD-Minister, die praktisch abgetaucht in der Regierung verblieben waren, melden sich wieder zu Wort, zum Beispiel der für Justiz auf twitter. GroKo, warum eigentlich nicht? Jamaika wäre doch sowieso schnell auseinandergeflogen. Da hätte sich doch bloß die AfD ins Fäustchen gelacht. GroKo ist okay. Hauptsache, unser Staatsschiff bleibt auf bewährtem Kurs!

(Fortsetzung folgt.)


                                  ***


Dieses Scheiben zirkuliert derzeit im Netz:

Rauscht Ab! - Studierendenzusammenschluss überreicht Petition ans Rektorat

Am vergangenen Dienstag haben wir auf dem Campus klare Kante gegen Professor Rauscher und seine menschenverachtenden Äußerungen zum Ausdruck gebracht. Damit haben wir gezeigt, dass für Diskriminierung und Ungleichheitsideologien an unserer Uni kein Platz ist. Aber es muss weitergehen:
Unsere Petition hat in kürzester Zeit über 15.000 Unterschriften erreicht. Das ist für uns ein Zeichen, weiterhin Druck auf die Universität auszuüben.
Unsere Forderungen lauten weiterhin:
• Professor Rauscher muss sofort aus seinem Amt als Erasmusbeauftragter enthoben werden!
• Die Uni muss sofort eine Alternativ-Veranstaltung für seine Pflichtübung "BGB für Fortgeschrittene" anbieten!
• Dienstrechtliche Schritte gegen Professor Rauscher müssen eingeleitet werden!
• Mehr Verfahrens-Transparenz von der Uni, die Studierenden müssen über den Prozess Bescheid wissen!
Wir rufen alle Student*innen, (wissenschaftlichen) Mitarbeiter*innen, Dozent*innen, Professor*innen und andere Interessierte auf, sich am Dienstag, 28.11.2017 um 11:45 Uhr auf dem Innenhof des Universitäts-Campus zu treffen um die Petition gemeinsam dem Rektorat vorzulegen.
Kontakt:
etc.

Also ich habe es jetzt dreimal gelesen: Ich finde das "Heil Hitler!" nicht. Sehen Sie's irgendwo?


PS: Leser *** hat's gefunden, "gleich in den ersten drei Sätzen":
MK am 28. 11. 2017 


Bunte Republik Deutschland:


Cuxhaven: Verkehrsunfall mit mehreren verletzten Personen... Es gibt erste Hinweise darüber, dass der Fahrer bewusst die Passanten angefahren haben soll. Hier
Essen: Mediziner und Apotheker in Essen vermelden einen rasanten Anstieg der Hautkrankheit Krätze. „Aktuell haben wir jeden Tag mehr als zehn Verdachtsfälle“, sagt Andreas Körber, Oberarzt in der Hautklinik am Universitäts-Klinikum Essen. Hier
Horb/Rottweil: Dem Angeklagten... wurde zur Last gelegt, ein Mädchen aus seiner Clique nach einer verbalen Auseinandersetzung... zweimal zum Geschlechtsverkehr gezwungen zu haben. Und dies, obwohl das Mädchen gerade ihre Tage hatte. Hier und hier
Schwerin: Die Polizei hat am frühen Sonnabendmorgen einen 34-jährigen Mann festgenommen, der in der Flüchtlingsunterkunft im Schweriner Stadtteil Stern Buchholz eine Frau vergewaltigt haben soll. Nach Informationen von NDR 1 Radio MV handelt es sich bei dem mutmaßlichen Täter um einen Iraner und bei dem Opfer um eine Afghanin. Beide wohnen in der Unterkunft. Hier
Dresden: Eine 44-jährige Sozialarbeiterin ist am Donnerstagnachmittag in einer Wohnung in Dresden-West vergewaltigt worden. Tatverdächtig ist ein 20-Jähriger, in dessen Wohnung sich die Geschädigte in ihrer beruflichen Funktion aufgehalten hatte, teilte die Polizei mit. Hier
Delmenhorst: Ein Strafgefangener hat bei einem begleiteten Ausgang eine Bedienstete der Justizvollzugsanstalt (JVA) Lingen missbraucht und sich anschließend das Leben genommen. Hier
Donauwörth: In der Erstaufnahme für Flüchtlinge in Donauwörth leben zur Zeit 600 Asylbewerber - darunter viele junge Männer. Einige wenige von ihnen hängen auch in der Stadt herum, trinken Alkohol und sorgen für ein ungutes Gefühl bei vielen Donauwörtherinnen. Hier
Ilmenau: Mit den Flüchtlingsfamilien, die zur Tafel kommen, habe sich die Situation verschärft, sagte sie. Die ehrenamtlich arbeitenden Frauen würden von den männlichen Asylbewerbern und Familienvätern nicht anerkannt und respektier. Hier
Berlin-Reinickendorf: Auf einem Spielplatz in Reinickendorf rammte er einem 22-Jährigen ein Messer in den Körper. „Ist mir egal, hat er verdient. Außerdem bin ich erst 14“, antwortet er, als Polizisten ihm sagten, dass der Mann fast gestorben wäre. Am Donnerstag wurde Teenager Patrick T. einem Haftrichter vorgeführt. Hier
München-Obergiesing: Am Donnerstag, 23.11.2017, gegen 04.50 Uhr, befand sich eine 63-Jährige aus dem Landkreis München am U-Bahnhof Giesing. Dort wurde sie von einem 23-Jährigen aus Eritrea angesprochen, der dabei sein Geschlechtsteil entblößte und daran vor ihr manipulierte. Der 23-Jährige konnte von Beamten der Polizeiinspektion 23 (Giesing) noch vor Ort festgenommen werden. Er wurde wegen einer exhibitionistischen Handlung angezeigt. Hier
Augsburg: Nach Angaben der „Kreuzweise“-Wirtin geht der Ärger von einer Gruppe von etwa 25 afrikanischen Asylbewerbern aus. Die Männer seien in ihrem Lokal zuletzt mehrfach durch Diebstähle aufgefallen, aber auch durch Belästigungen von Frauen und aggressives Verhalten. Hier.
Katrin Göring-Eckardt: Wir wollen, dass in den kommenden vier Jahren jede Biene und jeder Schmetterling und jeder Vogel in diesem Land weiß: Wir werden uns weiter für sie einsetzen. Hier   HMB am 28. 11. 2017

Apropos Hollstein und deutsche Leid-Medien

In der vergangenen Woche ist wieder einiges an "Messerarbeit" (so ein Ork der mittleren Führungsebene in "Herr der Ringe" Teil III) geleistet worden. Wie viele politisch Verfolgte beteiligt waren, ist noch nicht exakt ermittelt bzw. publiziert worden, gewiss einige, aber selbstverständlich handelte es sich immer um Fachkräfte, die uns in letzter Zeit zugelaufen sind – und es auch weiter tun mögen!

Oberhausen: "Die Angreifer stachen auf die am Boden liegenden Männer ein. Sie erlitten schwere Verletzungen an Bauch und Hals. Eines der Opfer, ein 28 Jahre alter Mann, starb wenig später an seinen Verletzungen." (Mehr hier.)

Berlin: "Junge sticht mehrmals auf einen Mann ein. Mit lebensgefährlichen Verletzungen kommt der junge Mann ins Krankenhaus." Der Täter sagt: "Ist ist mir doch egal, hat er verdient, außerdem bin ich erst 14!" (Mehr hier.)

Berlin: "Der 23-Jährige wurde in der Nähe vom S- und U-Bahnhof Neukölln von den zwei Männern angesprochen. Sie bemerkten ein Kreuz, das an einer langen Kette um seinen Hals hing. Nachdem sie ihn fragten, warum er Christ geworden sei, riss einer der Angreifer dem jungen Mann die Kette vom Hals und warf sie auf den Boden. Dann schlug er dem Opfer mehrmals mit der Faust ins Gesicht. Der zweite Mann hielt ihn fest, während der andere Angreifer ihn mit einem Messer am Oberkörper verletzte." (Mehr hier.)

Dortmund: "Männergruppe verfolgt junge Mädchen (12/13) mit Messer und greift auch noch ihren Retter an." (Mehr hier.)

Sondershausen: "Pärchen mit Pfefferspray und Messer von zwei Personen südländischen Aussehens attackiert." Der angegriffene Mann postet später auf facebook (die Masi pennt anscheinend): "Ausschlaggebender Grund der Action, weil wir nicht vom Fußweg gingen um für sie Platz zu machen, denn es sei ihre Stadt" (mehr hier).

Paderborn: "Bei den 4 Personen soll es sich um Ausländer, vermutlich arabischer Herkunft im Alter von ca. 14 bis 16 Jahren handeln. Ein Täter bedrohte einen 17jährigen Geschädigten und verlangte, dass er den hochwertigen Trainingsanzug ausziehen solle. Zur Unterstützung seiner Forderung schlug er auf den Geschädigten ein und drohte 'ihn sonst abzustechen'" (mehr hier).
Es geht aber auch ohne Messer.
München: "27-jähriger prügelt Senioren (67) mitten in Münchener Kaufhaus zu Tode" (mehr hier).  
Velbert: "Die vier Männer verprügelten den Mann und drohten ihm dann weitere Gewalt an – wenn er sich nicht ausziehe. Nachdem der Mann sich entkleidet hatte, flohen die Angreifer mit dessen Klamotten. Nur in Socken und Unterhose bekleidet, blieb der schwer verletzte Mann zurück." (Mehr hier.)

Cuxhaven: "Ein Mann hat in Cuxhaven mit seinem Wagen sechs Menschen auf dem Bürgersteig erfasst. Es gibt erste Hinweise, dass der 29-Jährige gezielt in die Gruppe gerast ist. Bei dem Verdächtigen handelt es sich um einen Asylbewerber, vermutlich einen Syrer." (Mehr hier.)

Dresden: "Sozialarbeiterin im Dienst vergewaltigt. Die 44-jährige Geschädigte begab sich in ihrer Funktion als Sozialarbeiterin in die Wohnung des 20-jährigen, syrischen Tatverdächtigen." (Mehr hier.)
Berlin-Alexanderplatz: "Wir wurden verprügelt, weil wir schwul sind ... Wir rannten um unser Leben." (Mehr hier.)

Diese Collation legt keinen Wert auf irgendeine Vollständigkeit, ihr einziges Kriterium besteht darin, Vielfalt abzubilden und nicht in enervierender Monotonie nur Vergewaltigungen oder nur Gruppenklopperein aufzulisten. Variatio delectat! All diese wahrlich bunten Vorfälle haben eine Gemeinsamkeit: Sie werden von unseren Öffentlichkeitsarbeitern zwar (noch) unter "Lokales" oder "Vermischtes" gemeldet, aber als Struktur geleugnet und als permanenter Skandal bagatellisiert, ihre Ursachen werden verschwiegen oder verharmlost oder hypermoralisch verklärt, die Opfer bekommen nie einen Namen oder ein Gesicht. Bis zufälligerweise mal einer von unseren Genossen selbst betroffen sein sollte. Aber dann werden halt andere für sie weiterbagatellisieren und -verharmlosen.

Nachtrag und apropos messern: In Altena ist vermutlich einer ethnokulturell aus der Reihe getanzt. Wenigstens ihn wird man hart bestrafen (sofern er tatsächlich ein Biodeutscher ist); was er getan hat, ist ja auch viel schlimmer. Heiko Maas, der jeden Übergriff auf Eingeborene zu ignorieren pflegt, twitterte denn auch stracks: "Dürfen niemals akzeptieren, dass Menschen attackiert werden, nur weil sie anderen helfen". Die einfach so attackiert werden, dürfen die Kollateralschäden der Hilfsbereitschaft der anderen aber unbetwittert auf sich nehmen.   MK am 27. 11. 2017 

 Die türkischstämmige Soziologin Necla Kelek hat eindringlich davor gewarnt, den Familiennachzug für Flüchtlinge wieder zuzulassen. „Der Familiennachzug fördert gerade Parallelgesellschaften und sendet zudem das falsche Signal an Menschen in ihren Heimatländern“, sagte Kelek der Welt.
Das Argument der verbesserten Integration sei hinfällig. „Familie heißt in orientalisch-muslimischen Gesellschaften die Großfamilie, die Sippe, die patriarchalisch organisiert ist. Mit dem Familiennachzug importieren wir ein islamisches Familiensystem, das erst zu Parallelgesellschaften und Integrationsproblemen führt“, verdeutlichte sie.
Kinder werden als Türöffner genutzt
Der Islam sei das System der Herrschaft der Männer. Mädchen würden früh verheiratet, und bereits als Kinder Mütter. Die Ehefrau sei keine Lebenspartnerin, sondern eine Sexualpartnerin, betonte die Migrationsforscherin. „Ich arbeite an einem Projekt mit Flüchtlingen und erlebe es dort.“
Viele Kinder würden nur als Türöffner geschickt werden. Die Großfamilie organisiere das Geld für die Auswanderung nach Deutschland, in der Hoffnung, daß sie nachgeholt werde. „Es ist nicht rechtens, wen wir hier alles unter Asylschutz stellen“, kritisierte Kelek.
Die große Koalition hatte den Familiennachzug bei Menschen mit eingeschränktem Schutzstatus für zwei Jahre bis März 2018 ausgesetzt. Mehrere Parteien und Politiker forderten eine Verlängerung dieser Frist.  JF


Merkel indessen...
...und Sabatina James

Montag, 27. November 2017

Berlusconi lacht sich ins Fäustchen

Berlusconis Liste, zu der neben seiner Partei Forza Italia auch Matteo Salvinis Lega Nord, Giorgia Melonis Fratelli d’Italia – Alleanza Nazionale (Brüder Italiens – Nationale Allianz) und einige konservative Splitterparteien gehören, erreichte bei den Wahlen auf Sizilien knapp 40 Prozent.

Auf fast 35 Prozent kam die euroskeptische Fünf-Sterne-Bewegung, die bereits den Bürgermeister von Rom stellt und Italiens Austritt aus der Währungsunion fordert.  Sie landete damit weit vor den Sozialdemokraten des ehemaligen Regierungschefs Matteo Renzi. Die in Rom regierende Partei errang auf Sizilien gerade einmal 18,6 Prozent der Stimmen. Dem Mitte-Links-Lager hat nicht nur eine schwache Bilanz der Regionalpolitik geschadet, sondern auch die Zersplitterung.

Die geringe Wahlbeteiligung wirft ein deutliches Licht auf die Stimmung. Nicht einmal jeder zweite Stimmberechtigte raffte sich zur Stimmabgabe auf. „Die Gräben zwischen den Demokraten und Linksdemokraten sind mittlerweile so tief wie nie und die Gefahr, bei den anstehenden Parlamentswahlen irrelevant zu werden, mehr als wahrscheinlich“, schrieb „La Repubblica“ nach den Wahlen.
Was Renzi bisher nicht gelungen ist, scheint Berlusconi zu schaffen. An seiner Seite tummeln sich Parteien, die sich vor wenigen Jahren noch spinnefeind waren. Ins Blick­feld der Öffentlichkeit ist im Zuge der Wahlen neben Berlusconi auch Matteo Salvini geraten, der vor einigen Monaten gemeinsam mit Marine Le Pen und der damaligen AfD-Chefin Frauke Petry auf einem Kongress in Koblenz auftrat. Der 43-jährige Journalist steht an der Spitze der Lega Nord. Seit er die Führung übernommen hat, hat er die Partei von einer separatistischen Regionalpartei hin zu einer modernen Rechtspartei gewandelt. Bisher hatte sich die Lega Nord ausschließlich auf ein föderales Norditalien konzentriert. Bei den Parlamentswahlen im Frühjahr wird Salvini nun mit seiner Partei in ganz Italien antreten. Als „Lega“ will man in diese Wahlen gehen und das „Nord“ aus dem bisherigen Parteinamen streichen. „Wir bleiben eine föderalistische Partei, die vernünftige Lösungen zur Bewältigung der Krise vorschlägt, wollen jetzt aber auch im Süden Fuß fassen“, erklärte Salvini. Der neue italienische Politstar stößt in die Lücke, welche die Auflösung der Alleanza Nationale, der Nachfolgepartei des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI, Italienische Sozialbewegung), hinterlassen hat.
Die „Brüder Italiens“ sind ein Produkt der unzähligen Spaltungen der italienischen Rechten. Mit rund vier Prozent der Wählerstimmen sind sie überregional unbedeutend. Doch das italienische Wahlsystem ist komplex. Um eigene Mehrheiten zu erreichen, ist das Eingehen von Listenverbindungen fast unausweichlich, zumindest für die klassischen politischen Lager. Für den Einzug ins Parlament gilt eine Drei-Prozent-Hürde, Listenverbindungen müssen mindestens zehn Prozent der Stimmen für den Einzug erreichen. Vor der Wahl verbündete Parteien sind nicht zum Zusammenhalt nach der Wahl verpflichtet. Kleinparteien werden für die Mehrheitsfindung auch künftig benötigt, haben daher eine große Macht.
Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung spricht als Protestbewegung eher Wählerschichten an, die sich von keiner der Altparteien mehr vertreten fühlen. Koalitionspartner gibt es derzeit keine. Sollte die unberechenbare Bewegung tatsächlich an die Macht kommen, könnten Italiens Tage innerhalb der Euro-Zone gezählt sein.

Und plötzlich erscheint Altmeister Berlusconi wieder als echte Option. Dabei galt er bereits als erledigt. Zum vierten Mal Ministerpräsident, kippte im Sommer 2011 seine Regierung. Zurück blieb ein Italien in finanziell höchst prekärer Lage. Zwei Jahre später wurde er dann wegen Steuerbetrugs zum ersten Mal rechtskräftig verurteilt. Der Haftstrafe entging er, leistete stattdessen Sozialdienst in einer Senioreneinrichtung.
„Sizilien hat, wie ich es forderte, den Weg der Veränderung gewählt“ und er verspreche „einen wahrhaftigen, ernsthaften, konstruktiven, auf Ehrlichkeit, Kompetenz und Erfahrung basierenden Wandel“, kommentierte Berlus­coni den ersten Triumph seines neuen Rechtsbündnisses. Der künftige Regionalausschuss­präsident Musumeci hat seine politischen Anfänge übrigens beim MSI gehabt. Ein deutlicheres Signal gibt es kaum. Politische Kommentatoren nehmen das Bündnis ernst. Salvini könnte im Windschatten Berlusconis zu einer landesweit bedeutenden Figur werden, gar ein Ministeramt übernehmen. 

Ein Problem gibt es allerdings für Berlusconi. Aufgrund seiner Verurteilung darf der „Cavaliere“ bis November 2019 kein Staatsamt übernehmen. Er hofft jedoch, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Verbot aufhebt, wenn es den Fall in den kommenden Wochen neu verhandelt. Rund 40 Prozent in den Umfragen erreicht Berlusconis Bündnis derzeit. Der Medienzar gibt sich neuerdings als glühender Europäer und großer Staatsmann. Er sei der einzige Garant gegen den von der Fünf-Sterne-Bewegung propagierten Euro-Austritt. Die Frage, was seine rechten Partner wie Salvini dazu sagen, beantwortet Berlusconi väterlich: „Es sind junge Leute, die auf einen alten Hasen wie mich hören werden.“    Peter Entinger

Da der Europäische Gerichtshof bereits beschlossen hat, dass Berlusconi selbst nicht kandidieren kann, will dieser Leonardo Gallitelli, einen General der Carabinieri, dazu bewegen, stellvertretend für ihn die Partei zu vertreten und die Wahlen so dennoch zu gewinnen.

Berlusconi ist eine Mumie und doch ist er vital, fast völlig ungebrochen. Auch der junge Renzi ist sehr dynamisch, aber es wird eng für  ihn. Der kommunistischere Teil seiner Partei hat Renzis realpolitischen Kurs von Anfang an ungern mitgemacht, und seit Renzis institutionelles Modernisierungsvorhaben am plebiszitären Widerstand scheiterte, schwillt den Kommunisten wider der Kamm. Die 5 Sterne Bewegung ist sehr lebendig, aber es wird immer deutlicher, dass ihre Repräsentanten zu schlecht vernetzt und zu unerfahren sind und ihre einzige Stärke aus der Schwäche Berlusconis und Renzis besteht.

Entprechend schwankend und labil artikuliert sich der Wählerwille: hin und her gerissen von Hoffnungen und Befürchtungen, Zutrauen und Misstrauen..

Die Unvorhersehbarkeit hat Italien genauso stark im Griff wie im Moment Deutschland. Italien steuert außerdem wieder einmal auf die Unregierbarkeit zu. Genau wie zur Zeit Deutschland. Mit dem Unterschied, dass Italien seit Jahrzehnten daran gewöhnt ist, ohne Regierung zurecht zu kommen, während Deutschland gerade die Erfahrung macht, wie es ist, wenn man 1. durch die eigenen Fehlentscheidungen Italien immer ähnlicher wird und 2. dabei ganz Europa blindlings in Italiens Fahrwasser mit hineinzieht. Berlusconi lacht sich ins Fäustchen.

Deutschland braucht Stabilität




De arte dubitandi


Freimut, Wahrhaftigkeit, Demut, Ästhetik, sprachliche Präzision und Angemessenheit, Edelmut. Versiert in der Kunst des Unmöglichen.b

Sonntag, 26. November 2017

Die Würdelosigkeit ist jetzt unantastbar

"Aus dem Nichts", der neue Film von Fatih Akin, fällt unter die Kategorie Thriller und ist der erste Spielfilm, der den NSU zum Gegenstand hat. Mit Diane Kruger spielt ein leibhaftiger sogenannter Hollywood-Star die Hauptrolle. Diese Figur heißt Katja Sekerci, ist mit einem Kurden verheiratet, der vor der Geburt des gemeinsamen Kindes sein Geld als Drogendealer verdiente. Ihr Mann und ihr fünfjähriger Sohn werden bei einem Bombenanschlag getötet. Die Polizei vermutet einen Racheakt unter Drogenhändlern vor dem Hintergrund von Auseinandersetzungen verfeindeter ausländischer Organisationen. Später fassen die Fahnder zwei Verdächtige ganz anderer Art: ein junges Neonazi-Paar. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, doch die Neonazis werden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Katja ermittelt auf eigene Faust weiter und nimmt Rache, indem sie einen Selbstmordanschlag auf die Täter verübt.

Ich habe "Aus dem Nichts" nicht gesehen, weil mich Thriller nicht interessieren, hoffe allerdings, dass es nicht der einzige Film zum Thema bleibt. Ich wünschte mir beispielsweise, jemand näherte sich im Modus von Oliver Stones "JFK – Tatort Dallas" den vielen Ungereimtheiten im Zusammenhang mit den Morden, die dem Neonazi-Trio angelastet werden. Die spektakulärsten, in der aktuellen Cato-Ausgabe zusammengefassten Widersinnigkeiten lauten: Drei Typen von nicht eben überragender Intelligenz schaffen es, 13 Jahre unentdeckt im Untergrund zu leben, obwohl sie zur Fahndung ausgeschrieben und von V-Leuten förmlich umzingelt sind; an keinem der 27 Tatorte und an keiner Tatwaffe findet sich auch nur eine einzige DNS-Spur der angeblichen Täter; diese extrem professionellen und kaltblütigen Serienmörder verlieren angesichts eines thüringischen Streifenwagens die Fassung, setzen ihr Wohnmobil in Brand und bringen sich um, aber in den Lungen findet sich nicht ein Rußpartikel. Sieben Tage nach dem Doppeltod zu Eisenach beginnt im Bundesamt für Verfassungsschutz eine große Aktenvernichtungsaktion, andere Akten werden für sage und speie 120 Jahre gesperrt, aber bevor irgendein Ermittlungsergebnis auch nur im Ansatz festeht, weiß die Bundesregierung, was diese beiden Figuren alles veranstaltet haben und dass sie die Täter in diversen, bislang dem kriminellen Milieu zugeschrieben Morden waren, und die Kanzlerin überträgt stracks die Schande für den ausländerfeindlichen Terror auf das ganze Land. Welch ein Stoff für einen Polit-Thriller! Und für eine Mediensatire obendrein, denn die freie Presse fraß brav die offiziellen Darstellungen und verbreitete sie in aller offenbar geboteten Devotion.  

Warum unseren Genossen Medienschaffenden all diese Bizarrerien kaum einen Einwand wert waren, ist bekannt, und aus demselben Grund würde auch kein Regisseur einen solchen Film drehen, kein Produzent würde ihn finanzieren, kein Verleih in die Kinos bringen, allein der Versuch würde zur Stigmatisierung der Beteiligten und ihrer Exkommunikation aus der Fördermittelverteilung und dem Kulturbetrieb überhaupt führen, denn hier geht es nicht um Wahrheit und Legende, um Glauben und Skepsis, sondern um Gut und Böse. Schon der Verdacht, an der offiziellen Version könne etwas nicht stimmen – der auch dann in einem freien Land legitimerweise geäußert werden darf, wenn sie am Ende doch stimmt –, fiele unter Neonazi-Verharmlosung, Ausländerfeindlichkeit, Verschwörungstheorie, Regierungskritik und was der aktuelle Lasterkatalog sonst noch an Schandkriterien bereithält. So sieht das geistige Klima am Ende bzw. im letzten Viertel der Ära Merkel aus.   MK am Totensonntag 2017

Der hinderliche Wähler

Die friesischen Bauern haben ein Sprichwort, das heißt: Spanne keine Kuh vor deinen Karren, wenn sie hinkt. Sie ist von einem bösen Geist besessen. Die Lehre gilt sinngemäß heute auch für den deutschen Bundestag. Er hat sechs Fraktionen. Und eine von ihnen scheint einen bösen Geist in sich zu tragen. Deshalb will keine der anderen sie vor ihren Karren spannen, noch weniger sich mit ihr ins Geschirr begeben. Die AfD repräsentiert über fünf Millionen Wähler. Sie stellt die drittstärkste Fraktion des Hauses. Doch die Mehrheit und die Mainstream-Medien tun gerne so, als wäre sie nicht da.
Wenn ein Abgeordneter der Rechten auf dem Flur einer oder einem der „Damen und Herren, die schon länger hier sind“ (so AfD-Frau Alice Weidel)  die Hand schüttelt, sind gleich die Fotografen da. Bahnt sich da was an?
Bei der SPD ganz sicher nicht. Sie fühlt sich durch ihren Ekel vor den sogenannten Populisten zu bizarrem Stimmverhalten motiviert. Der Fraktionsvorstand hat ex officio angekündigt, man werde gegen jeden Antrag stimmen, den sie einbringt. Gegen jeden, also auch gegen Anträge, die die Sozialdemokraten für vernünftig halten. Gegenüber den Linken mit ihrem systemfeindlichen Programm waren die Sozen immer viel geschmeidiger.

Meinungskoinzidenzen sind nicht zu vermeiden  

Die AfD ist keine Professorenpartei mehr wie zu Bernd Luckes Zeiten. Der moderate Kammerton ihrer Redner hat dem Bundestagspräsidenten bisher keinem Grund geliefert, sie zu rügen. Als die Grünen mit Joschka Fischer noch Fundamentalopposition machten, war immer Remmidemmi im Saal. Die alte Tante „Zeit“ konstatiert gleichwohl, die AfD stehe nicht im Konsens der Demokraten.
Und nun steht eine Minderheitsregierung zur Debatte. Die AfD-Spitze will sie unter Umständen tolerieren. Allerdings nur eine aus Union und FDP. Die grünen „Deutschland-Abschaffer“, wie der Vorsitzende, Jörg Meuthen, sie nennt, kommen nicht in Frage. Sie stelle nur zwei Bedingungen, erläutert Fraktionschefin Weidel: Angela Merkel müsse zurücktreten, und die Union müsse sich „sehr ändern“. Was immer das sein mag.
„Focus“ nannte die Weidel daraufhin „aberwitzig“. Weil sie sich erdreistet hatte, in einen parlamentarischen Diskurs einzugreifen. Schmuddelkinder haben gefälligst das Maul zu halten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat anders als die Parteien keine Berührungsängste gegenüber den Rechten. Deshalb will er kommende Woche auch mit der AfD und der Linken über die Regierungskrise reden. Seine Präferenzen liegen sicher anderswo. Doch er hat bei seinem Amtsantritt gesagt, er sei der Präsident aller Deutschen. Und offenbar hat er das so gemeint. Seinem Parteifreund Sigmar Gabriel, der alles, was rechts ist, als „Pack“ klassifiziert, wird das natürlich nicht gefallen.

Nur ohne Merkel!

Der AfD dagegen käme die Rolle der Königmacherin sehr gelegen. Auch bei der Kanzlerwahl würde sie für einen Kandidaten der CDU stimmen, vorausgesetzt, Merkel träte nicht mehr an. Einem schwarzgelben Bündnis fehlen 29 Stimmen zur absoluten Mehrheit. Die kämen immer zusammen, wenn die zwei Fraktionschefs, Alice Weidel und Alexander Gauland, die Abstimmung freigäben. Sie würden dann sicher ernster genommen mit ihrer Ankündigung, 2021 in die Regierung einzusteigen.
Inhaltlich ist die AfD - abgesehen von gelegentlichen völkischen Ausfällen auf dem rechten Flügel - nur einige Trippelschritte von den Bürgerlichen entfernt. Klima, Verkehr, Steuern, Soli, Zuwanderung sowieso, dabei käme die Koalition leicht zum Konsens mit der AfD,  jedenfalls leichter als mit der SPD oder den Grünen.
Nicht ausgeschlossen, dass die AfD Gegenleistungen einfordern würde. Die wären aber preiswerter zu erfüllen als die Wolkenkuckucksforderungen der Roten und Grünen. In jeder Frage von Belang müsste sonst die Regierung mühsam den Widerstand der Totalverweigerer aus dem linken Lager mit schmerzhaften Kompromissen erkaufen.

Die Vereinnahmung ist schon gelaufen

Was passiert nun, wenn Anfang des Jahres Innenminister Thomas de Maiziere das Plenum um Zustimmung für eine Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär geduldete Flüchtlinge ersucht? Die FDP-Stimmen reichen nicht. Und Rotrotgrün wird dagegen votieren.
Die AfD wird zustimmen. Und de Maiziere wird ihre Stimmen zähneknirschend schlucken. Denn: „Wir werden einen guten Vorschlag nicht fallen lassen, nur weil die AfD ihn stützt.“ Er beteuert, man werde sich freilich nicht vereinnahmen lassen. Allein, man ist es schon.
Die Regierung wird gegebenenfalls sagen: „Wir haben es nicht gewollt, es kam eben so.“ Sie kann auch nicht verhindern, dass ihre Vorschläge von der AfD als deren eigene eingebracht werden. Es sei denn, sie widerspräche sich selbst. Und nun soll aus dem teilweisen Verzicht auf Ausgrenzung auch noch eine verdeckte  Zusammenarbeit werden? Sie ist noch nicht festgeschrieben. Doch dagegen stehen nur psychologische Barrieren.
Der Grundkonsens müsste nicht mal vertraglich paraphiert oder auch nur beim Business-Lunch im Borchardts ausgekungelt werden. Er ergäbe sich von selbst aus der parlamentarischen Praxis.

Potentaten von Gaulands Gnaden

Die Koalitionäre würden sich dabei nicht abhängig machen. Es wäre auch kein Regelbruch, wenn sie die spezielle Abscheu der AfD vor dem linken Establishmet für sich instrumentalisieren würden. Gewiss, der neue Kanzler oder die Kanzlerin würde wohl von der Opposition als Potentat von Gaulands Gnaden verunglimpft werden. Das muss er oder sie eben aussitzen.
Die Befürworter einer Neuwahl wenden ein, Deutschland habe mit dieser Art von Regierung keine Erfahrung. Aber mit Neuwahlen hat Deutschland auch keine Erfahrung. Und nach den aktuellen Umfragen würde sich das Ergebnis nur unwesentlich von dem am 24. September unterscheiden. Die Grundkonstellation bliebe dieselbe. Wozu also der ganze Aufwand?
Und die politische Hygiene? Bedenkenträger aus den Meinungsfaktoreien fragen, ob denn das gegenseitige Vertrauen nicht gefährdet würde. Vertrauen, was ist das denn? Die Grundlage der Demokratie ist das Misstrauen. In der öffentlichen Meinung bleibt es erstmal dabei: Das Anti-AfD-Tabu wird nicht gebrochen. In Talkshows, die die schwierige Regierungsbildung thematisieren, wird es totgeschwiegen.

Eine Minderheitsregierung muss nicht minderwertig sein

Wahlarithmetik und auch das Wohlergehen der Nation sprechen eindeutig für eine Minderheitsregierung. Ohne eine beherzte Rochade wird es nicht gehen. Dagegen spricht einstweilen, dass die CDU/CSU immer noch pathologisch Merkel-fixiert ist. Sie hat auch eine panische Angst vor Image-Schäden. Das gilt ebenso für die FDP, besonders für deren Frontmann Christian Lindner.
Was weiterhin für die Minderheitsregierung spricht: Sie hat international einen guten Namen. Rund 25 Prozent aller europäischen Regierungen seit 1945 hatten keine feste Mehrheit. Die Skandinavier sind damit jahrzehntelang bestens gefahren, vor allem die Schweden. Und die SPD in Sachsen-Anhalt ließ sich  acht Jahre lang von den Linken tolerieren.
Demokratie und Demokratieverständnis sind in Schweden nicht viel anders ausgeprägt als in Deutschland. Nur dass die Deutschen eine Minderheitsregierung mit minderwertig assoziieren, mit Weimar und Notstands-Dekreten. Sie meinen, eine Regierung ohne Kanzlermehrheit sei etwas Unordentliches und damit undeutsch.
Das ist ein emotionales Argument. Und das lässt sich nicht entkräften.   Erich Wiedemann


Umwertung unserer Werte

Die Firma Mattel präsentiert neuerdings eine Barbie-Puppe mit einem Hijab. Sie ist der US-Fechterin Ibtihaj Muhammad nachempfunden, die bei den Olympischen Sommerspielen 2016 mit dem islamischen Kopftuch antrat. „Ibtihaj inspiriert Mädchen und Frauen allerorten dazu, sich über Grenzen hinwegzusetzen“, teilte der Hersteller mit. Die neue Barbie solle demonstrieren, „daß Mädchen alles können“. Die Formulierung gibt ein Beispiel, wie geschäftliche Interessen und linker Emanzipationsjargon sich nahtlos miteinander verbinden und dieser sich beliebig auf archaische Kulturtechniken übertragen läßt.
Mit der Synthese aus Kommerz, Fortschrittsideologie und vorsäkularer Religionsausübung entsteht eine Gegenkraft, welche die westlichen Gesellschaften und Lebenswelten von innen durchdringt und verändert. Denn vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung drängt die Frage sich auf, in welche Richtung die Grenzen sich verschieben beziehungsweise überwunden werden, wenn Fetische der westlichen Massenkultur durch islamische Beifügungen umcodiert werden.
Publikum soll überzeugt werden: Islam gehört zu Deutschland
Die Beispiele dafür mehren sich. Seit Juni können Smartphone-Nutzer aus 69 neuen Emojis wählen, darunter ein Icon mit Kopftuch, das von einer 16jährigen Schülerin aus Wien, die aus Saudi-Arabien stammt, kreiert wurde. Das Time Magazine wählte sie unter die 30 einflußreichsten Teenager der Welt – zusammen mit einem Nachwuchs-Model und dem Sohn eines Hollywood-Stars. Zu den „Frauen des Jahres 2017“, die das amerikanische Glamour-Magazin erkor, zählt die kopftuchtragende Muslima Linda Sarsour, die per Twitter forderte, Islam-Kritikerinnen wie Ayaan Hirsi Ali „den Hintern zu versohlen“ und „die Vagina wegzunehmen“ – und zum Entzücken der Linken und Liberalen eine Trump-Gegnerin ist.
Die britische Supermarktkette Tesco inszeniert in einem Werbespot eine multireligiöse Harmonie, indem sie weihnachtliches Ambiente mit Kopftuch-Frauen verbindet. Die Computerfirma Apple setzt sich in einem Werbefilmchen für „Vielfalt“ und „Inklusion“ ein und eröffnet den Vorstellungsreigen ihrer Mitarbeiter demonstrativ mit einer jungen Kopftuch-Dame. Diese Bildsequenzen, die millionenfach konsumiert werden, sollen das Publikum unterschwellig davon überzeugen, wie selbstverständlich, ja organisch der Islam zu Deutschland, zu Europa, zum abendländischen Westen inzwischen gehöre.
Manipulative Scheinwelten
Das sind nicht nur Weichzeichnungen der Wirklichkeit, es sind manipulative Scheinwelten. Dahinter stecken zunächst ganz profane Geldinteressen. Zur Mobilisierung neuer Käuferschichten zitiert und profaniert die Werbeindustrie auch christlich-abendländische Symbole und Traditionen. Aus Gründen der Pietät mag man das bedauern, doch politisch ist es unproblematisch, weil die Kommunikation auf der Grundlage eines säkularen Selbstverständnisses stattfindet. Die Annahme, in gleicher Weise die Elemente und Symbole der islamischen Religion in das Zeichensystem des Alltags und der Massenkultur integrieren zu können, ist dagegen ein sträflicher Irrtum, weil diese einen politischen und gesellschaftlichen Machtanspruch symbolisieren.
Man bietet ihm die Gelegenheit, sich im öffentlichen Raum zu präsentieren und auszubreiten. In hiesigen Medien werden Hijab, Niqab und Burka mit dem Kopftuch einer Oma vom Lande oder der Queen verglichen und sogar als Zeichen weiblichen Selbstbewußtseins und der Emanzipation dargestellt. Der Islam-Kenner Hamed Abdel-Samad schrieb dazu auf Facebook: „Die Fahne des politischen Islam und des Patriarchats auf dem Kopf eines Kindes als Zeichen von Toleranz, Selbstbestimmung und Diversität zu verstehen ist der Tiefpunkt einer gescheiterten Integration und einer Gesellschaft, die nicht mehr weiß, wo sie steht!“
Ausbleibender Widerspruch
Wie weit dieser „Geistschwund im Fortschritt“ (Hans-Peter Raddatz) bereits gediehen ist, zeigt ein Kommentar des Welt-Autors Alan Posener, der mit dem Foto eines Hijab-Mädchens garniert ist. Posener behauptete pauschal, Deutschland sei „durch die Einbindung in den internationalen Kapitalismus, durch Wandlung zum Einwanderungsland weltoffener, freundlicher, moderner und wettbewerbsfähiger geworden“. Nur Tage später klagte derselbe Autor über einen „arabischen Rassismus auf deutschem Boden“, weil die kuwaitische Fluglinie, die vom Flughafen Frankfurt abhebt, israelische Staatsbürger vom Transport ausschließt und ein deutsches Gericht das für gesetzeskonform hält. Eine kohärente Denkweise kann man solchen Verkündern der Weltoffenheit wahrlich nicht nachsagen.
Wir behaupten, in einer Wissensgesellschaft zu leben. Die Spezialisierung des Wissens aber geht mit einem Kenntnisverlust der eigenen kulturellen Grundlagen einher. Nur zu gern sind die Menschen deshalb bereit, sich die Illusion einer interkulturellen und -religiösen Wertegemeinschaft zu eigen zu machen. Der ausbleibende Widerspruch gegen die forcierte Präsentation des Hijab hat unterschiedliche Motive, sie reichen von Autosuggestion bis zum doktrinären Zwang. Der Feminismus hat sich zu Tode gesiegt, doch die Natur rächt sich.
Die Aufhebung der Geschlechterrollen führt zu neuen Frustrationen, die das Patriarchat, das unter islamischem Vorzeichen zurückkehrt, klammheimlich rehabilitieren. Für den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, sind jene Feministinnen, die trotzdem gegen den Hijab protestieren, eine zu vernachlässigende Größe. Seine „härtesten Gegner sind diejenigen, die auf Basis des Islamhasses eine andere Republik schaffen wollen“. Mazyek kann sich darauf verlassen, daß die naheliegende Frage, ob auf islamischer Basis irgendwo eine „Res Publica“ existiert, die diesen Namen verdient, vom „Geistschwund des Fortschritts“ blockiert wird.   Thorsten Hinz

Samstag, 25. November 2017

Links und laizistisch und doch inquisitorisch, bigott und persekutorisch

Was ist los an deutschen Universitäten? Als die Politikwissenschaftlerin Gisela Müller-Brandeck-Bocquet an der Universität Würzburg darum bat, diesen Ort als säkularen Freiraum zu akzeptieren und Kopfbedeckungen abzulegen, verweigerte dies eine moslemische Studentin, trotz persönlicher Aufforderung.
Daraufhin brach ein Sturm der Entrüstung los, erregte Studenten zwangen die Professorin öffentlich zur Entschuldigung, gedeckt von einer verschüchterten Universitätsleitung. Ein Vorfall, der in Variationen längst universitärer Alltag ist.
Nichtigkeiten reichen aus
Vergangenes Jahr wollte der Berliner Geschichtsprofessor Jörg Baberowski an der Universität Bremen ein Buch vorstellen. Der Studentenausschuß beschimpfte ihn öffentlich, drohte mit Protesten. Erfolgreich, der Veranstalter mußte umziehen. Baberowskis Buchtitel: „Räume der Angst“.
Derweil drehen Studenten der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin frei, da ein Liebesgedicht des Lyrikers Eugen Gomringer an der Fassade angeblich eine „patriarchale Kunsttradition“ ausdrücke. Es erinnere „unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind“. Das Gedicht wird übermalt.
Nichtigkeiten reichen aus, daß eine Studentenschaft in Erregungsmodus fällt, gegen mißliebige Dozenten vorgeht, Veranstaltungen sprengt, Arbeitsräume verwüstet und es nicht nur bei verbaler Gewalt beläßt. Toleriert, wenn nicht gar ermuntert, von einer Universitätsleitung, die alles will, nur nicht sich selbst den Protesten aussetzen.
Wohl eher die Freiheit des Mobs
Nachdem der Kasseler Biologieprofessor Ulrich Kutschera in einem Interview homosexuelle Partnerschaften als „sterile Erotik-Duos ohne Reproduktionspotential“ bezeichnete, prüft die Universität ernsthaft disziplinarrechtliche Schritte. Freiheit von Forschung und Lehre? Wohl eher die Freiheit des Mobs, zu bestimmen, was gelehrt wird.
Wie ist das zu werten? Ist nun mit fünfzig Jahren Verspätung die maoistische Kulturrevolution auch bei uns angekommen? Ernten die Alt-68er jetzt mit ihrer Emeritierung die Früchte eines Marsches durch die Institutionen? Um das zu klären, müssen wir in die Tiefen der europäischen Aufklärung hinabsteigen.
Das mittelalterliche Weltbild war eine geschlossene Angelegenheit. Christliche Klöster, als Horte der Gelehrsamkeit, verstanden sich eigentlich nicht als Produktionsstätten neuen Wissens, sondern als Pfleger und Bewahrer bereits vorhandenen, vermeintlich endlichen Wissens. Die Lehrmeinung von Autoritäten wurde lediglich immer neu kommentiert und interpretiert.

Im Übergang zur Neuzeit fand dann ein Paradigmenwechsel statt, für den Nikolaus von Kues (1401–1464) gleichsam sinnbildlich als letzter großer Kirchenlehrer wie zugleich erster Humanist steht. Mit seiner Schrift „Über die belehrte Unwissenheit“ prägte er die Vorstellung eines menschlichen Geistes, der sich durch Selbsttätigkeit immer neues Wissen über eine sich ins Unendliche ausbreitende Welt aneignet. Das aber hat zwei erhebliche Konsequenzen, die Nikolaus selbst auch gezogen hat.
Zum einen galt es in der mittelalterlichen Klosterwelt als selbstverständlich, archiviertes Wissen eigenen Absichten anzupassen. „Fromme Lügen“ waren unter der Bedingung eines geschlossenen Weltbildes ganz einfach sittliches Gebot. Der Mönch, der die „Konstantinische Schenkung“ in die Archive schmuggelte, war kein Betrüger, sondern er korrigierte lediglich Fehler der Wirklichkeit.
Indem Nikolaus aber die äußere Gewißheit destruierte, brauchte er eine innere Gewißheit. Eine Gewißheit, die er über seine persönlichen Interessen stellte. So entlarvte Nikolaus als erster die „Konstantinische Schenkung“ als Fälschung.

Zum anderen benötigte Nikolaus dafür eine neue Methode, die sich nicht auf die Autorität von Lehrmeinungen beruft, sondern bei der ein selbsttätiges Denken Fakten überprüft und bewertet, die jederzeit von anderen überprüft und bewertet werden können. Es ist diese Trias aus Fortschritt, Wissenschaft und individuellem Denkvermögen, die an der Krippe der europäischen Aufklärung steht. Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, wird später Immanuel Kant sagen. Ein europäisches Projekt, das offenkundig zu Ende gegangen ist.
In Wirklichkeit sind es keine Studenten, die hier protestieren. Denn Studenten haben Fragen. Das hier aber sind Gläubige. Nicht prinzipiell anders als ein mittelalterlicher Klosterschüler schlucken sie pseudoreligiöse Lehrmeinungen, bringen diese mit ihren pseudoreligiösen Gefühlen in Einklang und wachen eifersüchtig darüber, daß niemand es wagt, diese pseudoreligiösen Lehrmeinungen in Frage zu stellen, weil dies notwendig eine Verletzung ihrer pseudoreligiösen Gefühle bedeutet. So weit, so unspektakulär. Doch eines ist an Absonderlichkeit nicht zu übertreffen.
Wenn ein geschlossenes Glaubenssystem mit den Werten der Aufklärung im Krieg ist, so haben wir zwei klar erkennbare Kontrahenten, die sich selbst auch als solche sehen. Wenn beispielsweise an einer Universität der islamischen Welt säkular eingestellte Studenten mit ihren religiös eifernden Kommilitonen im Clinch liegen, so ist den Beteiligten klar, daß sie unterschiedliche Werte vertreten.

Hier liegt jedoch das absolute Kuriosum vor, daß sich die pseudoreligiösen Jünger auf die Werte der Aufklärung berufen. Toleranz, Meinungsfreiheit, Fortschritt – das Wutgeheul, mit dem Dozenten aus dem Vorlesungssaal geprügelt werden, es verwendet genau diese Worte.
Was nur ist an dem Projekt der europäischen Aufklärung so furchtbar schiefgelaufen, daß nun eine Karikatur ihrer selbst sich anschickt, die Werte eben dieser Aufklärung gründlich abzuräumen? Eine gesellschaftliche Entwicklung, deren Vorreiterrolle damals wie heute die Universitäten übernehmen?
Nun, aus islamischer Sicht ist der Fall klar. Das Abendland sei an seinen eigenen Widersprüchen zerbrochen und zugrunde gegangen. Es erwarte jetzt die Erlösung aus dem einzig wahren Glauben. Nicht nur aus demographischen Gründen reüssiert der Islam an deutschen Hochschulen, aus zeternden Feministinnen werden über Nacht ebenso zeternde Verschleierte.

Doch der Fall liegt anders. Der Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt (1767–1835) war zwar Kind der Aufklärung, kritisierte diese aber dafür, das Wesentlichste übersehen zu haben. Denn Aufklärung ist nicht Fortschritt, ist nicht entfesselte Vernunft allein, sondern sie ist vor allem anderem Ausbildung von Individualität.
Anderes leitet sich hiervon erst ab, führt ohne diese ins Nichts. Humboldts ganzes Reformprojekt ist hierauf abgestimmt. Von einfachen, gleichförmigen Lagen sollte der einzelne in den Elementarschulen rasch aufsteigen zur freien Selbsttätigkeit. In der Universität als krönendem Schlußstein sollte dann nur noch freier Geist auf freien Geist wirken, aus ihrer Polarität zur gegenseitigen Steigerung der Kräfte gelangen.
So wichtig war Humboldt die Freiheit des Geisteslebens, daß er die Universität sogar mit eigenen Domänen ausstatten wollte, damit kein äußerer Einfluß die Lehre bestimmen durfte. Diesen radikalen Schritt hat niemand getan, weder die von Humboldt geprägte deutsche Hochschullandschaft, noch die nach ihrem Vorbild organisierten Universitäten Amerikas.

Es wäre eine lohnenswerte Aufgabe bei letzteren zu zeigen, wie durch finanzkräftige Stiftungen Gender Studies von außen in den Lehrplan implementiert wurden. Eindeutig als politischer Auftrag wird diese Pseudowissenschaft in Deutschland betrieben. Alleine das Zentrum für Gender Studies der Universität Marburg darf sich nun über eine Million Euro Steuergelder freuen, um zwei Jahre lang gegen Kritiker vorzugehen.
„Wir möchten Erkenntnisse darüber gewinnen, was genau am Wandel der Geschlechterverhältnisse als krisenhaft empfunden wird, wie anti-feministische Diskurse vor diesem Hintergrund mobilisierend wirken und wie der gesellschaftliche Zusammenhalt wieder gestärkt werden kann“, freut sich Projektleiterin Annette Henninger. Gläubige beim Gebet halt.

Es bleibt die Erkenntnis: Wenn der Geist keine Wohnstatt findet, geht er eben woanders hin. Übrig bleibt dann etwas, das sinnvoll wohl nur noch unter dem Gesichtspunkt klinischen Schwachsinns betrachtet werden kann.   JF am 25. 11. 2017



Geschichte ist weniger ein steter Lernprozess hin zu mehr Vernunft und Freiheit, wie es die optimistischen Aufklärer glaubten, sondern eher eine Abfolge von unvorhergesehenen Fiaskos und Massenpsychosen. Die jüngste Variante kollektiver Verrücktheit erleben wir gerade im Zusammenhang mit Harvey Weinstein. Nachdem betroffene Schauspielerinnen den Hollywood-Mogul als übergriffigen und unersättlichen Sexgrüsel geoutet hatten, entwickelte sich eine elektronische Hexenjagd auf weitere Prominente aus Politik und Kultur.
Ob eine 30 Jahre zurückliegende Berührung des Knies, ein schlechter Herrenwitz oder eine Vergewaltigung, alles wurde von den angeblichen oder tatsächlichen Opfern als traumatische sexuelle Gewalt dargestellt. Die als Sexunholde beschuldigten Männer hatten keine Chance auf ein faires Verfahren. Die Anklage bedeutete in diesem virtuellen Inquisitionsgericht gleichzeitig das moralische Todesurteil.
Die Weinstein-Hysterie wird bald wieder verklingen und in Vergessenheit geraten, und sollte in zwanzig Jahren jemand darauf zurückblicken, wird er die schrille Erregtheit von damals kaum mehr nachvollziehen können. Aber er wird eine Ahnung davon bekommen, wie schnell sich gesellschaftliche Einstellungen ändern, ohne dass man es selber bemerkt. Und es wird ihm ähnlich ergehen wie einem, der sich heute zum Beispiel mit dem Fall Jack Unterweger befasst, jenem Mann, der in den Achtzigerjahren von der österreichischen Kulturelite hofiert und bejubelt wurde, obwohl er ein Frauenmörder war.

Ein falsches Alibi für den Mörder

Der 24-jährige Unterweger hatte 1974 eine 18-jährige Zufallsbekannte gefangen genommen, mit einer Stahlrute blutig misshandelt und durch den Wald gehetzt, vergewaltigt, gefesselt, geknebelt und schliesslich mit ihrem Büstenhalter erdrosselt. Ein ritueller Mord eines sadistischen Monsters. Er wurde gefasst und zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt.
Unterweger war bereits als Jugendlicher wegen Einbrüchen und Diebstahl auffällig geworden, später wegen Gewalt an Frauen und Zuhälterei. Schon einmal hatte man ihn wegen Mordverdacht festgenommen. Eine junge Frau war in den Salzachsee geworfen worden, gefesselt und lebendig. Unterwegers damalige Freundin gab ihm ein Alibi und er musste laufen gelassen werden. Das Alibi war falsch, wie sich später herausstellte.
Im Gefängnis begann er zu schreiben. Er verfasste den Gedichtband «Tobendes Ich», es folgte die Autobiografie «Fegefeuer», verschiedene Erzählungen, er gab die Literaturzeitschrift «Wort-Brücke» heraus. Die Kulturszene wurde auf ihn aufmerksam und begann, ihn zu lieben. Hochdekorierte Intellektuelle und Künstler, darunter die späteren Nobelpreisträger Elfriede Jelinek und Günther Grass, setzten sich für die vorzeitige Entlassung des angeblich geläuterten Killers ein.

Das Wunder eines Menschen

Der Staatssender ORF brachte im Kinderprogramm seine «Traummännlein»-Geschichten. Ein Reporter des Senders fasste den euphorischen Kult um den verurteilten Mörder zusammen. Er schwärmte von Unterweger als «Wunder eines Menschen», der sich im Gefängnis «zum Guten verändert» hat und eigentlich das «Opfer einer Kindheit unter gänzlich asozialen Umständen» war, der «zeitlebens nur die Mutter suchte». Unterweger, begabt, manipulativ und skrupellos, hatte die utopischen Sehnsüchte seiner naiven Unterstützer gezielt bedient und diese mühelos getäuscht.
1990 kam er frei. Er war der Star der Society. Sein dandyhafter Auftritt, der auf den linken Oberarm tätowierte Frauenkopf, von dem man flüsterte, er zeige sein erstes Mordopfer, seine Auferstehung aus der Hölle, all das zog seine schicken Gastgeber, insbesondere die Frauen, unwiderstehlich an.
Nach 673 Tagen in Freiheit wurde Unterweger wieder verhaftet. Eine Serie von elf Prostituiertenmorden in Österreich, Prag und Los Angeles wurde ihm angelastet, neun davon konnten ihm nachgewiesen werden. Alle waren mit ihrem auf charakteristische Weise geknoteten Büstenhalter stranguliert worden, immer hatte sich Unterweger, viel auf Lesereisen, in der Nähe befunden, und man hatte verräterische DNA-Spuren gefunden.
In der zweijährigen Untersuchungshaft erhielt er täglich um die vierzig Briefe von Frauen, oft mit Nacktfotos. Nachdem ihn das Gericht für schuldig erklärt hatte, erhängte er sich in seiner Zelle.
Von seinen Förderern hat sich kaum einer für die katastrophale Fehleinschätzung entschuldigt. Die Formen der kollektiven Tollheit ändern sich, die Menschen aber bleiben sich gleich.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung

Die wohltemperierte Stimmung

  1. Als wohltemperierte Stimmung bezeichnet man ein temperiertes Stimmungssystem für Musikinstrumente mit festgelegten Tonhöhen (Klavier, Orgel, Harfe u.a.), das im Unterschied zur reinen oder mitteltönigen Stimmung, die nur eine begrenzte Anzahl von Tonarten verfügbar machen, die uneingeschränkte Verwendung aller Tonarten des Quintenzirkels ermöglicht. Die heute am stärksten verbreitete Variante der wohltemperierten Stimmungen ist die gleichstufige Stimmung, bei der allerdings der spezifische Charakter der Tonarten verloren geht. Deshalb bezieht man im heutigen Sprachgebrauch die Bezeichnung wohltemperiert oft nur auf (nichtgleichstufige) historische Stimmungssysteme (Werckmeister, Kirnberger, Vallotti u.a.), die den Tonartencharakter bewahren.

    Inhaltsverzeichnis

    Herleitung des Begriffs

    Das Verb temperieren kommt von lat. temperare, was so viel wie „richtig bemessen“ bedeutet; es bedeutet in der Musik, dass Intervalle gezielt ein wenig unrein gestimmt werden, damit kleine Tonhöhenunterschiede wie das syntonische und das pythagoreische Komma verteilt werden und so nicht mehr störend in Erscheinung treten. Diese Tonhöhenunterschiede, resultierend aus der prinzipiellen Nicht-Übereinstimmung übereinandergeschichteter Quinten und Terzen im Oktavraum, verhindern bei reiner Stimmung das Transponieren in beliebige Tonarten mit den üblichen zwölf Tasten und erfordern viele zusätzliche Tasten, wie etwa das 31-stufige Archicembalo von Nicola Vicentino, das die damals übliche mitteltönige Stimmung transponierfähig erweitert. Werckmeister verurteilte derartige Instrumente als „Flickwerke der Subsemitonien“.

    Geschichte

    Unter der Sammelbezeichnung wohltemperierte Stimmungen führte Andreas Werckmeister ab 1681 eine Reihe von Stimmungen auf Tasteninstrumenten ein, welche die mitteltönigen Stimmungen so erweiterten, dass die Tonarten des gesamten Quintenzirkels spielbar wurden. Bisher unmögliche Transpositionen und enharmonische Verwechslungen wurden ermöglicht. In einzelnen Fällen hatte bereits der Orgelbauer Christian Förner eine Stimmung entwickelt, die ein Spiel in allen Tonarten ermöglichte. Erstmals belegt ist diese Stimmung für die 1668–1673 erbaute Förner-Orgel der Schloßkirche in Weißenfels.[1] Zacharias Thayßner, ein Schüler von Christian Förner, erbaute 1677–1682 die Orgel der Stiftskirche St. Servatii in Quedlinburg, an der Werckmeister seit 1675 amtierte, und versprach schon im Vertrag 1677 eine in allen Tonarten brauchbare Temperatur.[2]
    In den folgenden Jahrzehnten haben die Förner-Schüler Zacharias Thayßner, Christoph Junge und Tobias Gottfried Trost sowie Förners Enkelschüler, darunter Tobias Heinrich Gottfried Trost und Johann Friedrich Wender, in Mitteldeutschland weitere modifiziert mitteltönig (ohne Wolfsquinte) oder wohltemperiert gestimmte Orgeln geschaffen. Johann Friedrich Wender erbaute unter anderem 1687–1691 die Orgel von Divi Blasii in Mühlhausen und 1699–1703 die Orgel der Bonifatiuskirche (heute Bach-Kirche) in Arnstadt. An diesen beiden Orgeln amtierte der junge Johann Sebastian Bach in den Jahren 1703 bis 1708. Sie ermöglichten die Komposition von Orgelwerken, die über die Tonarten hinausgehen, welche die 1/4-Komma-mitteltönige Stimmung zulässt. Auch einige Orgelwerke von Dietrich Buxtehude, die eine wohltemperierte Stimmung voraussetzen, dürften in Zusammenhang stehen mit der Einführung einer wohltemperierten Stimmung durch die Förner-Schule: Buxtehude war befreundet mit Andreas Werckmeister und ließ diesem nachweislich eine Vielzahl seiner Orgelwerke zukommen.[3] Manche dieser Werke könnte er speziell für Werckmeister und dessen wohltemperierte Thayßner-Orgel geschrieben haben.[4] Nach anderer Auffassung verfügte Buxtehude zeitlebens über keine wohltemperiert gestimmte Orgel. Im norddeutschen Raum treten die ersten belegten Fälle von Umstimmungen in „neue Temperaturen“ erst um das Jahr 1740 auf.[5]
    Viele weitere Theoretiker und Praktiker, etwa Johann Georg Neidhardt, Johann Philipp Kirnberger, Francesco Antonio Vallotti, gaben immer neue Vorschläge zur Temperierung, was zeigt, dass es damals keine eindeutige Lösung gab. Einerseits wollte man für die am häufigsten gebrauchten Tonarten angenähert oder tatsächlich reine Terzen erhalten, andererseits musste der Quintenzirkel ohne Wolfsquinte geschlossen werden. Jedes System hatte seine Vorteile und Nachteile im Klang und war mehr oder weniger komplex in der (damaligen) handwerklichen Ausführung.

    Charakteristik

    Charakteristisch für wohltemperierte Stimmungen ist, dass alle wichtigen Intervalle auf eine Weise von der reinen Stimmung abweichen, dass die häufig gespielten Tonarten eher reinere Terzen enthalten und die entfernten Tonarten schärfere. Werckmeisters berühmte Stimmung Werckmeister III hat weite Verbreitung gefunden. Sie enthält von einem mitteltönig klingenden C-Dur (Audio-Datei / Hörbeispiel Anhören?/i) bis hin zu einem pythagoräisch klingenden Fis-Dur (Audio-Datei / Hörbeispiel Anhören?/i) unterschiedlich klingende Tonarten, eine Eigenschaft, die in einer nach Werckmeister "guten Stimmung", gegeben sein muss. Das heißt, diese Stimmung erzeugt eine durchaus angestrebte, ausgeprägte Tonartencharakteristik, die durch gezielt ungleichmäßiges Stimmen der zwölf Quinten des Quintenzirkels entsteht.
    Quinten und Terzen in der Stimmung Werckmeister III (Zum Vergleich: reine große Terz=386 Cent, pythagoräische Terz=408 Cent, reine Quinte=702 Cent).
    Dreiklang c-e-g des-f-as
    cis-f-gis
    d-fis-a es-g-b e-gis-h f-a-c fis-ais-cis
    ges-b-des
    g-h-d as-c-es
    gis-c-dis
    a-cis-e b-d-f h-dis-fis c-e-g
    Große Terz (c-e u.s.w) in Cent 390 408 396 402 402 390 408 396 408 402 396 402 390
    Quinte (c-g u.s.w.) in Cent 696 702 696 702 702 702 702 696 702 702 702 696 696
    Die maximale Abweichung von der reinen Quinte beträgt 6 Cent, während bei der mitteltönigen Stimmung eine Wolfsquinte herausragt.
    Die Terzen in den Akkorden kann man in drei Klassen teilen:
    Terzen Qualität
    c-e, f-a, d-fis, g-h, b-d fast rein (rein: 386 Cent)
    es-g, e-gis, a-cis, h-dis vergleichbar den Terzen der gleichstufigen Stimmung (400 Cent)
    des-f, ges-b, as-c pythagoräische Terz (pythagoreisch: 408 Cent)
    026bachstimmung.gif Anhören:
    Kadenz F-Dur, Es-Dur und G-Dur
    Audio-Datei / Hörbeispiel Werckmeister III?/i
    Audio-Datei / Hörbeispiel gleichstufig?/i
    Akkorde in möglichst gleicher Tonlage Audio-Datei / Hörbeispiel Anhören?/i
    Die vier Quinten c–g–d–a und h–fis sind um 1/4 eines Kommas verengt, alle anderen sind rein. Hier hört man den unruhigen Charakter der ersten Akkorde, die sich allmählich zu einem klaren B-Dur F-Dur, C-Dur, G-Dur und D-Dur Akkord wandeln, um dann wieder rauher zu werden. Bei C-Dur hört man die typische Schwebung der mitteltönigen Quinte.

    Beziehung zwischen wohltemperiert und gleichstufig

    Unsere heutigen Klaviere werden meist gleichstufig temperiert (historische Begriffe dafür: gleichmäßig, gleichschwebend). Hier geht die Tonartencharakteristik verloren, da alle kleinen Sekunden möglichst gleichmäßig als lauter gleiche Halbton-Schritte gestimmt werden. Diese gleichmäßige zwölfstufige Temperatur kannte Werckmeister von Gioseffo Zarlino, dessen geometrische Monochord-Konstruktion von 1588 er zitierte. Zarlino beschrieb sie aber als Lautenstimmung, die schon lang vor ihm im frühen 16. Jahrhundert wohlbekannt war. In Werckmeisters Generalbaßschule von 1698 kommt sie ausdrücklich als Grenzfall vor. In seinem 1707 posthum erschienenen Werk Musicalische Paradoxal-Discourse empfiehlt Werckmeister die gleichschwebende Stimmung sogar emphatisch, da sie „ein Vorbild seyn kan, wie alle fromme und wohl temperirte Menschen mit GOtt in stetswährender gleicher und ewiger Harmonia leben und jubiliren werden.“ (S. 110) Die Gleichstufigkeit übernahmen später andere Temperatur-Theoretiker wie Georg Andreas Sorge (1744). Die gleichstufige Stimmung wurde jedoch wegen der Einebnung der Tonartencharakteristik und wegen bis dahin nicht befriedigend gelöster stimmtechnischer Probleme [6] von verschiedenen Theoretikern abgelehnt, etwa von Johann Philipp Kirnberger, der ab 1766 eigene, ungleichmäßige wohltemperierte Stimmungen entwarf, die sich wesentlich schneller auf Tasteninstrumenten anwenden ließen.
    Die weit verbreitete Behauptung (etwa im Brockhaus), der Begriff wohltemperierte Stimmung sei mit der gleichstufigen Stimmung identisch, ist unzutreffend. Ebenso unzutreffend ist es, die gleichstufige Stimmung aus dem Kanon der wohltemperierten Stimmungen auszuschließen, da Werckmeister sie in seinem letzten Werk ja ausdrücklich zumindest für „wohl temperirte Menschen“ empfiehlt. Das bekannte Werk Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach (1685–1750) diente nicht der Demonstration der gleichstufigen Stimmung, sondern vielmehr einer Systematik, die darauf abzielte, in allen Tonarten des Quintenzirkels zu komponieren. Da Bach den Begriff „wohltemperiert“ verwendet, ist der Bezug zu Werckmeister hergestellt. Deutlich ist, dass Bach keine gleichstufige Stimmung meinte; wie seine Stimmung exakt aussah, bleibt jedoch kontrovers.

    Hypothesen zur Wohltemperierten Stimmung bei J.S. Bach

    Mit der Entwicklung von wohltemperierten Stimmungen konnte Bach für besaitete Tasteninstrumente in allen Tonarten des gesamten Quintenzirkels komponieren, was bisher mit den mitteltönigen Stimmungen unmöglich war. Bachs Leipziger Kirchenmusik scheint hingegen weiterhin von mitteltönig gestimmten Orgeln begleitet worden zu sein.[7] Johann Nikolaus Forkel berichtet, dass Bach sein Clavichord in weniger als 15 Minuten stimmte.[8] Wie Bach genau gestimmt hat, lässt sich aus dem kontroversen Streit zwischen Kirnberger und Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) nicht sicher erschließen.
    Deutung der Girlande des Titelblattes
    Umstritten ist die – für manche bestechend einleuchtende – Deutung der Girlande auf dem Titelblatt von Bachs Wohltemperiertem Klavier, I. Teil, 1722 als Vorschrift zum Stimmen des Quintenzirkels von Andreas Sparschuh.[9] Hierzu sollen die Schleifen in den Kringeln Hinweise geben, die Quinten entsprechend enger zu nehmen, wie dies für wohltemperierte Stimmungen typisch ist. Für Bradley Lehmann ist dies der Stein von Rosette für das Stimmungsproblem bei Bach. Allerdings gibt es zu diesem Thema viele kontroverse Interpretationsmöglichkeiten.[10]

    Literatur

    Historische Abhandlungen
    • Johann Philipp Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik. Königsberg 1774
    • Johann Georg Neidhardt: Sectio Canonis harmonici. Königsberg 1724.
    • Andreas Werckmeister: Orgel-Probe oder kurtze Beschreibung … wie durch Anweiss und Hülffe des Monochordi ein Clavier wohl zu temperiren und zu stimmen sey…. Frankfurt und Leipzig 1681
      • Ders.: Musicalische Temperatur. Quedlinburg, 1691.
      • Ders.: Die notwendigsten Anmerkungen und Regeln wie der Bassus continuus oder Generalbaß wol könne tractieret werden. Aschersleben 1698.
      • Ders.: Musicalische Paradoxal-Discourse. Calvisius, Quedlinburg 1707. (Digitalisat)
    • Giuseppe Zarlino: Sopplimenti musicali. Venedig 1588.
    • Johann Philipp Kirnberger: Construction der gleichschwebenden Temperatur. Berlin, 1760.
    • Johann Georg Neidhardt: Beste und leichteste Temperatur der Monochordi, vermittelst welcher das heutiges Tages Bräuchliche Genius Diatonico-Chromaticum also eingerichtet wird/ daß alle Intervalla, nach gehöriger Proportion, einerley Schwebung überkommen/ und sich daher die Modi regularis in alle und iede Claves, in einer angenehmen Gleichheit/ transponiren lassen. Jena, 1706.
    Neuere Fachliteratur
    • Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach – Das Wohltemperierte Klavier. Bärenreiter, Kassel 1998, ISBN 3-7618-1229-9.
    • Herbert Kelletat: Zur musikalischen Temperatur. Teil I: Johann Sebastian Bach und seine Zeit. (ISBN 3-87537-156-9); Teil II: Wiener Klassik. (ISBN 3-87537-187-9); Teil III: Franz Schubert. (ISBN 3-87537-239-5), Edition Merseburger, Kassel 1981–1994.
    • Mark Lindley: Stimmung und Temperatur. In: Frieder Zaminer (Hrsg.): Geschichte der Musiktheorie. Band 6: Hören, Messen und Rechnen in der frühen Neuzeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1987, ISBN 3-534-01206-2, S. 109–332.
    • Mark Lindley, Ibo Ortgies: Bach-Style Keyboard Tuning. In: Early Music. Vol. 34, Nr. 4, November 2006, ISSN 0306-1078, S. 613–623.
    • Wilfried Neumaier: Was ist ein Tonsystem? Eine historisch-systematische Theorie der abendländischen Tonsysteme, gegründet auf die antiken Theoretiker Aristoxenos, Eukleides und Ptolemaios, dargestellt mit Mitteln der modernen Algebra. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1986, ISBN 3-8204-9492-8 (Quellen und Studien zur Musikgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart 9), (Zugleich: Tübingen, Univ., Diss., 1985).
    • Ibo Ortgies: Temperatur. In: Siegbert Rampe: Bachs Klavier- und Orgelwerke. Das Handbuch. Teilband 2 = Band 4, 2. Laaber-Verlag, Laaber 2008, ISBN 978-3-89007-459-7, S. 623–640 (Bach-Handbuch. Bd. 4, 2).
    • Jürgen Grönewald: Hat Johann Sebastian Bach gleichschwebend gestimmt? In: Ars Organi. 57, 2009, H. 1, S. 38–41.

    Weblinks

    Einzelnachweise


  2. Johann Caspar Trost: Ausführliche Beschreibung deß Neuen Orgelwercks Auf der Augustus-Burg zu Weissenfels. Nürnberg 1677, S. 37 (online); Faksimile in: Acta Organologica. 27, 2001, S. 36–108.

  3. Vertragstext abgedruckt in: Klaus Beckmann: Die norddeutsche Schule. Orgelmusik im protestantischen Norddeutschland zwischen 1517 und 1755. Teil II: Blütezeit und Verfall 1620-1755. Mainz: Schott 2009, S. 104–105.

  4. Klaus Beckmann: Die norddeutsche Schule. Orgelmusik im protestantischen Norddeutschland zwischen 1517 und 1755. Teil II: Blütezeit und Verfall 1620-1755. Mainz: Schott 2009, S. 114–115.

  5. Roland Eberlein: Tunder, Buxtehude, Bruhns, Lübeck: Für welche Instrumente schrieben sie und wie waren diese gestimmt? (PDF) walcker-stiftung.de, S. 5–7; abgerufen am 19. März 2016.

  6. Ibo Ortgies: Die Praxis der Orgelstimmung in Norddeutschland im 17. und 18. Jahrhundert und ihr Verhältnis zur zeitgenössischen Musikpraxis. Göteborgs universitet, Göteborg 2007 (gbv.de [PDF; 5,4 MB] Erstausgabe: 2004).

  7. Die gleichstufige Stimmung ließ sich exakt erst seit 1917 mit physikalischen Methoden verwirklichen.

  8. Herbert Kelletat: Zur musikalischen Temperatur: I. Johann Sebastian Bach und seine Zeit. 2. Auflage. Merseburger, Berlin und Kassel 1981, ISBN 3-87537-156-9, S. 24.

  9. "Auch stimmte er so wohl den Flügel als sein Clavichord selbst, und war so geübt in dieser Arbeit, daß sie ihm nie mehr als eine Viertelstunde kostete." In: Johann Nicolaus Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802. Nachdruck Kassel-Basel 1974, S. 17 (online).

  10. Vortrag auf der Jahrestagung 1999 der Deutschen Mathematikervereinigung in Mainz. Quelle: Sparschuh, Andreas "Stimm-Arithmetik des wohltemperierten Klaviers von J.S. Bach" in Deutsche Mathematikervereinigung Jahrestagung, Band 1999 (1999), pp. 154-155.

  11. Weblinks zu diesem umstrittenen Thema: